Die Romantische Schule und die Avantgarde Teil I
Von Jörg Finkenberger
Was man moderne Kunst nennen kann, beginnt mit der Romantik und ist undenkbar ohne die Geschichte der Revolution, deren Teil und Ergebnis sie ist; dass in Deutschland Romantik und Revolution auseinandergefallen sind, ist gleichzeitig Anzeichen des spezifischen deutschen Elends wie Vorzeichen des Scheiterns der Revolution im allgemeinen. Die moderne Kunst ist so tot, wie die Revolution, und bleibt lebendig nur in dem Sinne, dass sie uneingelöst geblieben ist; ansonsten ist sie Objekt der Betrachtung, von dessen Ausbeutung die Wissenschaft, das Kunsthandwerk und jede nur denkbare sonstige Ideologieproduktion leben können.
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Was einer wie Hölderlin einmal geschrieben hat, ist schutzlos den schönen und anderen unreinen Geistern preisgegeben, den schwäbischen Dichterschulen zweier Jahrhunderte, den Erweckungsbewegungen um 1914, der Literaturwissenschaft nicht zu vergessen; und zuletzt nimmt unwidersprochen einer wie Heidegger ihn zum Material, weil die Revolution zu machtlos ist, ihre Leute zu verteidigen.
Und noch während des Bürgerkriegs, in dem der französische Staat 1871 die pariser Bevölkerung unterwarf, umriss Arthur Rimbaud in einem Brief an Demeny eine Theorie einer modernen Kunst; er verglich die neue Kunst darin mit der der klassischen Antike und hielt als entscheidenden Unterschied fest: „En Grèce, ai-je dit, vers et lyres rhythment l’Action. (…) La Poésie ne rhythmera plus l’action, elle sera en avant.“(1)
Die ältere Kunst war nun in der Tat an den Ritus gebunden, noch die Komödien des Aristofanes hatten sakralen Charakter. Die Dichter waren hoch geehrte Handwerker wie die Töpfer, und wenn auch einzelne Künstler aufständisch wurden, so doch niemals ihre Verse. Die Dichtung diente im allgemeinen dem Kultus, und dieser war in der Welt vor dem Kapital das einzige halbwegs übergreifende Verhältnis, welches für die gesellschaftliche Praxis eine Art Synthesis abgab.(2) Die moderne Poesie kann nicht mehr, wie die frühere, als deren klassische Form die des antiken Griechenland benannt wird, sich dazu verstehen, sich in den Rhythmus, in die Ordnung der Dinge einzufügen und diese zu begleiten; die moderne Kunst kann nicht mehr so tun, als stünde sie in Einklang mit der gesellschaftlichen Praxis. Sie steht ihr gegenüber in Opposition. Sie ist ein greller Einspruch gegen diese Praxis.
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Eine recht genaue Beschreibung dieses Zustandes findet sich schon früher, bei Heinrich Heine, in den „Bädern von Lucca“ Kap. 4, wo ein gewisser österreichisch-italienischer Graf Heine vorwirft: „Sie sind ein zerrissener Mensch, ein zerrissenes Gemüt, sozusagen, ein Byron.“ Heine fährt fort: „Lieber Leser, gehörst du vielleicht zu jenen frommen Vögeln, die da einstimmen in das Lied von byronischer Zerrissenheit, das mir schon seit zehn Jahren, in allen Weisen, vorgepfiffen und vorgezwitschert worden, und sogar im Schädel des Marchese, wie du oben gehört hast, sein Echo gefunden? Ach, teurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzweigerissen ist.“ Und weiter: „Einst war die Welt ganz, im Altertum und im Mittelalter, trotz der äußeren Kämpfe gab’s doch noch immer eine Welteinheit, und es gab ganze Dichter. Wir wollen diese Dichter ehren und uns an ihnen erfreuen; aber jede Nachahmung ihrer Ganzheit ist eine Lüge.“(3)
Die vorherige Ganzheit der Welt freilich war auch eine Lüge, und zwar eine Grundlüge der Romantischen Schule. Diese Schule, über die Heine das massgebende Buch auch selbst geschrieben hat, hat aber immerhin als erste zu einem Bewusstsein dieses Risses gefunden; und Heine, ihr grösster Schüler, hat es als erster ausgesprochen. Der Riss, der durch die Welt geht, das ist noch der Riss, von dem Brecht schreibt in dem Lied von dem Regen, der nach unten fällt. Und schon dieses Lied war hilflos gegen diejenige Macht, gegen die es geschrieben wurde; dieselbe Macht, für die Heidegger arbeitet, der alles dafür tut, diesen Riss zum verschwinden zu bringen.
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Heidegger schreibt GA 13, 225 ff. über die genannten Zeilen von Rimbaud, und so widerlich es mir ist, muss ich doch ein bisschen daraus zitieren, weil man heute auch in unserer Partei nicht erwarten kann, dass die Methode dieses Denkers wirklich durchschaut worden ist. Heidegger schreibt: „Was heißt: Die Sprache der Dichtung bringt das Wirkliche in ihren Rhythmus im Sinne des Gleichmaßes? Die absolut modeme Dichtung soll dagegen nicht mehr unter diesem Auftrag stehen, »sie wird im Voraus sein«.
Ist das »en avant« nur zeitlich zu verstehen? Wird die Sprache der Dichtung voraussagend, mithin prophetisch, das Kommende voraus-sehen, aber als Dichtung gleichwohl auch im Rhythmus sprechen?
…
Dürfen wir, Rimbaud’s Wort bedenkend, vielleicht sagen: Die Nähe des Unzugangbaren bleibt die Gegend, dahin die selten gewordenen Dichter einkehren, dahin sie nur erst weisen? Dies jedoch in einem Sagen, das jene Gegend nennt. Muß dieses Nennen nicht ein Rufen sein, das in die Nähe des Unzugangbaren ruft und rufen kann, weil es »zum voraus« in diese Nähe schon gehört und aus diesem Gehören das Ganze der Welt in den Rhythmus der dichtenden Sprache bringt?“ – Man muss solchen gespreizten Unsinn tatsächlich im Zusammenhang zitieren, damit er wirklich unbegreiflich wird.
Heidegger schafft es in wenigen Sätzen mühelos, die Sätze Rimbauds ganz um ihren sehr spezifischen Sinn zu bringen, um ihnen dabei einen ganz anderen, erlogen allgemeinen Sinn unterzuschieben. Zuletzt scheint der Dichter fast zu einem Vorläufer Heideggers zu werden, zu einem Profeten, dem Heideggers kryptofaschistische Vision in den Mund gelegt werden; und das anhand einer Stelle aus einem Brief, der beginnt mit einer glühenden Erklärung der Verbundenheit mit der pariser Commune!
Die Methode funktioniert, weil sie gar nicht von der Kunstfertigkeit und intellektuellen Fähigkeit Heideggers abhängt, sondern weil der spezifische Sinn, von dem wir sprechen, schon wirklich untergegangen ist.(4) Dafür haben Konterrevolution und Nationalsozialismus gesorgt. Und heute kann jeder Ideologe Heine oder Hölderlin oder Rimbaud zitieren, ohne sich fürchten zu müssen, die Worte könnten sich gegen ihn wenden. Heideggers Filosofie ist hier nur ein ganz allgemeines Beispiel; seine Methode ist allgemein verbreitet, und man könnte staunen, wenn man wüsste, bis in welche Kreise.
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Es hat sich mit der modernen Kunst. Sie ist so tot oder so lebendig, so weit gerade die Erinnerung daran, dass es alles anders sein könnte, noch trägt. Ihr Rückfall in den Konformismus, der in der Warenform der Kunst schon angelegt ist, ist bisher nicht aufgehalten worden; wie könnte er auch? Die Welt ist noch immer die, die sie 1871 war, nur seitdem über alle Einwände schon längst hinweggegangen. Der Ehrgeiz, etwas neues und originelles zu tun, ist sinnlos; er läuft darauf hinaus, das Erbe der Revolte noch einmal auszubeuten, um im Betrieb etwas zu gelten. Dass Rimbaud heute ein moderner Klassiker genannt werden kann, ist eine bündige Widerlegung der naiven Hoffnung, als hätten Worte oder selbst Taten noch Folgen. Und wenn sie keine haben, werden die Geschichte und die Macht recht behalten haben, und mit ihnen ihre Ideologen, von welchen Heidegger nur der berühmteste ist.
Der Riss ist aber noch in der Welt, und solange das noch jemand weiss, ist Rettung noch möglich. Es ist Aufgabe der materialistischen Kritik, von diesem Punkt aus den Angriff auf die Ideologie vorzubereiten, aber es ist nicht zu sehen, wer sich dieser Aufgabe annehmen wollte, und kaum, wer sie auch nur begreifen wollte.(5)
1 „In (dem antiken) Griechenland, habe ich gesagt, rhythmieren Vers und Lyra die Handlung bzw. die Praxis. (…) Die Poesie wird nicht mehr die Handlung/Praxis rhythmieren, sie wird ihr voraus sein.“ – Dass es das Wort „rhythmieren“ nicht gibt, sei dem geneigten Leser geschenkt.
2 Dieser Satz ist keineswegs richtig, aber ich sehe nicht, wie im Rahmen dieses Artikels folgender Gedanke eingebaut werden könnte, der aber für den hier entwickelten Gedanken unverzichtbar ist: ein Prinzip vernünftiger gesellschaftlicher Synthesis gibt es nicht, nicht unter dem Kapital und noch weniger unter den anderen Kulten der Vorgeschichte. Alles, was als Synthesis gilt, besteht gerade, weil es keine gibt. Kunst ist immer falsch, soweit sie in solchen Verhältnissen dient. – In den Gesellschaften der Vorgeschichte gibt es ohnedies nicht einmal ein übergreifendes Verhältnis, wie man leicht zeigen kann, nicht einmal eine Gesellschaft, sondern nur einzelne Momente davon.
(3) Es sagt viel über den zwischen Klassizismus und Revolution eigenartig festklemmenden deutschen Romantizismus, wenn jemand wie Heine einen derart unwahren Gedanken fassen kann: dass das, was noch viel weniger „ganz“ war als die Welt unter dem Kapital, gerade „ganz“ gewesen sein soll. Der Riss ging damals gerade so sehr durch die Welt, nur waren es viel mehr Risse, und es war völlig undenkbar, dass es jemals anders sein könnte. Niemand in Mittelalter, Antike oder Bronzezeit hätte übrigens gedacht, sein Zeitalter wäre besonders „ganz“; auch dass man so etwas projizieren kann, wirft auf die deutsche Revolution schon im 19. Jhd. einen unheimlichen Schatten. – Bei Heine können freilich Kompromiss oder Ironie nie ausgeschlossen werden.
4 Das „en avant“, dem Heidegger eine mystische Bedeutung abpresst, ist das avant in Avantgarde, mit welchem Wort sich moderne Kunst gerne zu bezeichnen pflegt; und hört sehr schnell wieder auf, besonders mystisch zu sein, wenn man diese Avantgarde als eine erzwungene Isolation versteht, die ihrer Zeit nur in dem Sinne „voraus“ ist, als diese die vernünftige Veränderung hintertreibt. Weil die Zeit ihren Möglichkeiten hartnäckig und gewaltsam hinterher blieb, scheint es, als ob, wer auf die Einlösung dieser Möglichkeiten besteht, ihr voraus wäre. Sie hat fürs erste einen anderen Weg eingeschlagen; und zwar einen, bei dem man sich lieber nicht nachsagen lassen möchte, ihr auch noch voraus gewesen zu sein.
5 Heutzutage streitet man über die These Debords zur Aufhebung der Kunst, als hätte man die zu ihrer Verwirklichung vergessen; die einen positiv, die anderen negativ; und beide bleiben im Rahmen der Beschränkung, die er vorgegeben hat, rätselhafterweise auch die, die ihn mit Adornos Ästhetischer Theorie kritisieren wollen. Den einen ist Kunst nichts anderes als Spektakel, den anderen Refugium; die Kunst aber, von der in diesem Selbstgespräch die Rede ist, scheint unbekannten Aufenthalts zu sein; spätestens das macht jenes Selbstgespräch selbst als Ideologie kenntlich.