Aussenpolitik

Worüber reden Linke, wenn sie über Aussenpolitik reden? Linke haben ohnehin bekanntlich eine gespaltene Persönlichkeit. Auf der einen Seite ist man Handarbeiter (von den „Geistesarbeitern“ will ich gar nicht reden), Mietshausbewohner, irgendein Hinz und Kunz; auf der anderen Seite hat man „vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“, wie es im Manifest heisst.

Wir halten es, wenn wir es ehrlich sagen dürfen, eher mit den Linken, insofern sie Hinze und Kunze sind. An der höheren Einsicht haben wir nämlich unsere Zweifel. Die gemeinsame Hinz- und Kunzheit wäre gerade, was sie verbindet, die höhere Einsicht des einen dagegen trennt ihn von jedem anderen. Als Linke sind wir natürlich selbst mit solcher höheren Einsicht geschlagen.

Als Arbeitnehmer z.B. liegt es nahe, sich mit Kollegen zusammenzutun, aber ganz im Inneren fühlt man schmerzlich, dass mit dem Haufen weder der rote Oktober noch der kurze Sommer der Anarchie nachzustellen sein wird; sie haben weder Adorno gelesen, noch bestimmt der VIII. Parteitag der SED ihr Denken und Tun. Der Linke gleich welcher Konfession steht immer neben sich. Soweit er in seinen eignen Schuhen steht, versteht er die Realität, in der er lebt, genausowenig wie ein gewöhnlicher Mensch; soweit er dagegen sich selbst über die Schulter sieht, begreift er alles messerscharf und haargenau, aber leider gefiltert durch die unsinnige Doktrin, der er anhängt. Seine politische Meinung ist nicht Ausdruck seines Klassenwillens, sondern etwas, das er von aussen dazutut. (In einem Traum ist uns offenbart worden, dass die Stelle bei Lenin, wo es heisst, dass die Arbeiter von allein nur ein reformistisches Bewusstsein entwickeln, denselben Stossseufzer hervorruft bei leninistischen wie bei anti-leninistischen Linken.)

Wenn Linke sich sogar auf ihre eigene Lebensrealität unvermeidlich nur in äusserlicher Weise beziehen können (und wir werfen das niemandem vor, es ist nun einmal einfach so), wie sieht es dann erst in der auswärtigen Politik aus, in Realitäten, die sie nur vom Hörensagen kennen?

Wir verlangen keineswegs, dass man das etwa den sogenannten „Fachleuten“ überlässt. Die „Fachleute“ interessieren sich natürlich einen Scheissdreck, ausser für die Interessen, für die sie arbeiten. Das Problem ist ja doch, dass die Linken viel zu sehr diesen Fachleuten ähnlich sind.

Woher dann der Drang, ja der Zwang, zur Aussenpolitik? „Das Proletariat braucht seine eigene Aussenpolitik“, schon klar, aber es braucht noch viel mehr Dinge, die es nicht hat und nicht ohne weiteres haben wird. Warum ist die Aussenpolitik trotzdem das Kennzeichen, an dem die Sekten sich scheiden?

Es ist es gerade aus diesem Grund. Keine davon wird je real Aussenpolitik machen, man hat sogar von dem, was man redet, keine Ahnung und tut alles, damit es so bleibt. Linke reden, wenn sie von Aussenpolitik reden, über sich selbst. Genauer: sie reden darüber, was für Menschen sie sein wollen. In der Weltpolitik haben sich Hunderte Jahre Revolutionsgeschichte sedimentiert; Kriege, Katastrophen, und Perspektiven der Befreiung, die allesamt gescheitert sind, die allesamt nur noch das Reich des Geistes und der Phantasie bevölkern. Zu diesen positioniert man sich. Man definiert sich selbst und den Platz, den man gegenüber dieser Geschichte einzunehmen beansprucht; und man wird auf diesem Feld und nur dort sicher nie gebeten werden, diesen Anspruch auch einzulösen.

Die Aussagen der Linken über die Aussenpolitik sind nicht durch Zufall so weltentrückt und so losgelöst von allen wirklichen Dingen. Der Mangel an Interesse und Neugier ist echt. Diese Aussagen sind gar nicht als Aussagen über andere Leute gemeint; sie sind Selbstauskünfte über die Illusionen, die man über sich selbst hat. Aussenpolitkik, unter Linken, ist Identitätspolitik.

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News unterm Radar VII

I II III IV V VI

Nach zwei vollen Jahren den dreitägigen russischen Blitzkriegs gegen die Ukraine ist die Situation scheinbar eingefroren in einer sehr unschönen Art und Weise. Wie immer vorab: der grobe Überblick über den Kriegsverlauf kann man sich an tausend anderen Orten verschaffen, es gibt unzählige Menschen, deren überdurchschnittliche Militäranalyse noch etwas überdurchschnittlicher ist als unsere überdurchschnittliche Militäranalyse. Dafür versuchen wir aus diesem blutigen Rosinenbrötchen, das uns der Weltgeist gebacken hat, die Rosinen herauszupicken, die vielleicht auf einige Tendenzen einer möglichen Zukunft weisen könnten. Alte Weiber prophezeiten aus dem Kaffeesatz, Karl Marx – aus dem Dampf der Dampfmaschinen und wir… tun auch unser Bestes.

Zum einen gab es im laufe dieser Woche sehr widersprüchliche und ungenaue Berichte über die Geschehnisse an der russisch-ukrainischen Grenze. Offensichtlich gab es am 14. März und in den folgenden Tagen Vorstoßversuche in die Kursker und Belgoroder Gebiete seitens der mit den ukrainischen Streitkräften affiliierten freiwilligen Verbände. Mit Sicherheit lässt sich momentan nur eins sagen: das waren wohl keine „mehrere Dutzend schwerer Maschinen und an die 2,5 Tausend Mann“, wie es von der russischen Seite hieß, die größtenteils eliminiert worden sind. Für solche vermeintlich epische Schlachten gibt erstaunlich wenig Nachweise. Der Krieg erinnert, man möge uns den Zynismus verzeihen, wie schon einmal erwähnt, an Viktor Pelewins Roman „SNUFF“: ein medienwirksam inszenierte Krieg zwischen dem „himmlischen Byzantinum“ und einem fiktiven Pseudeostaat „Urkaine“ wird sehr aufmerksam von TV-Drohnen verfolgt und in die ganze Welt ausgestrahlt. Gesehen haben wir dagegen recht wenig: eine oder zwei verlorene Maschinen, ein dutzend Tote und Verletzte auf der ukrainischen Seite, dafür darf unser alter bekannter Dennis „White Rex“ von der Russischen Freiwilligencorps gefangengenommene russische Soldaten interviewen.

Aus dem Belgoroder Gebiet wird berichtet:

The escalations marked the second wave of clashes between Russian forces and Ukraine-aligned fighters on the border this week. On Tuesday morning, multiple pro-Kremlin Telegram channels reported that “armed groups” supporting Ukraine had attempted to cross the border into villages in the Belgorod and Kursk regions. Russia’s Defense Ministry later reported, without providing evidence, that Russian troops killed 234 of the attackers. The Freedom of Russia Legion and the Siberian Battalion, another pro-Ukraine group made up of Russian fighters, claimed to have crossed into Russia territory, but journalists from Agentstvo later confirmed that at least one of the videos the groups offered as evidence was actually filmed in Ukraine.

Tuesday’s clashes were followed by more than 60 reported drone attacks in various Russian regions on Tuesday night and Wednesday morning, including six in Belgorod. According to Governor Vyacheslav Gladkov, the drones damaged residential buildings, a gas supply line, and a power line in the region. The Russian state news agency TASS also reported that a drone crashed into the Federal Security Service’s (FSB) headquarters in the Belgorod region, but it later removed the story.

Es steht jedenfalls fest, dass an der Grenze irgendwas passiert. Russland kann seine Behauptungen bislang nicht bestätigen, die Freiwilligencorps und das Legion Freies Russland sind allerdings auch überwiegend eher für ihre mediale, statt reale Kriegsführung bekannt. Was vielleicht seine Berechtigung hat: ein Versuch, die mediale und militärische Aufmerksamkeit weg von der aktuellen Front wegzulenken, wo es z.Z. für die Ukraine nach dem Fall von Awdijiwka nicht besonders gut ausschaut. Russland kommt momentan auf der flachen Ebene nicht sehr schnell voran, sollte sich die Versorgungslage für die Ukraine nicht demnächst ändern, kann Russland im Sommer eine neue Offensive starten. Und zwar mit derselben veralteten Technik und fürchterlichen Verlusten an „menschlichem Material“. Denn Russland kann es sich im Gegensatz noch ein Weilchen zur Ukraine leisten (keine besonders neue Erkenntnis, aber wir werden uns später dessen ökonomische Grundlagen anschauen). Eine weitere Intention war vermutlich, die russische Präsidentschaftswahl nicht so gemütlich aussehen zu lassen. Das ist jedenfalls gelungen. Den Rest erfähren wir hoffentlich bald. Weiterlesen

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Aus dem Netz: Wie ist aktuell das Weltwetter in Syrien?

Zwei Journalistinnen, Anna und Liza, die ein paar Jahre in der Region Rojava verbracht haben, unterhalten sich über den Kampf gegen Islamisten, über die dortigen Selbstverwaltungsstrukturen, darüber, wie die Revolution die Gesellschaft und wie die Gesellschaft die Revolution verändert und das merkwürdige Verhältnis Rojavas mit der Außenwelt.Manches an der Folklore ist Agitprop, manches aber tatsächlich nur Folklore.

Pt.1:

But there are many sort of rosy… very rosy accounts of what’s happening in Rojava that are being produced by sympathetic leftists for a good reason: we need to build more international support for Rojava. But at the same time, I met several international volunteers who went to Rojava to support the movement on the ground – who were rather disappointed by what they saw when they got there because of all those rosy accounts that they had read before they decided to make the trip.

I think we, outside Rojava, have to be realistic about how revolutionary change takes place and at what pace. What you see in Rojava is that a revolution is not a finished event. It’s been more than 10 years since they started building and working on the revolution, and they have not achieved all their goals yet. One example that becomes quite obvious to internationalists who travel to the region is the situation with the communes, the situation with the new political system that’s supposed to function based on the principle of direct democracy. If you go there, you realize that the entire territory under the control of the Autonomous Administration has been administratively subdivided into communes. Every neighborhood has a commune through which residents of that neighborhood are supposed to govern themselves, to make decisions about whatever issues concern their collective affairs. So  formally, those communes have been created. But in reality, it’s very easy to observe that the participation of the people in these communes is rather low or it’s not high enough for these bodies, for these mechanisms to become the main decision-making units as they are supposed to be in theory that the Kurdish movement has developed and has been trying to implement.

But that does not mean that the revolutionary movement has failed, that does not mean that they are not trying hard enough, nor does it mean that they are not genuinely committed to transforming the political system. That just means that inevitably, it takes a very long time to create a culture of popular participation, direct participation in politics that did not exist in Northeast Syria before the revolution, and that does not exist in many places where we are organizing. Try to set up a commune in your neighborhood in New York City and see how many people will show up. First, you need to convince the people that it’s something in their interest and that it’s a more effective form of governance, that their time will be put to good use. Rather than going to vote for someone once a year, you have to commit to attending regular meetings, perhaps every month, that tend to last for hours because everyone wants and is supposed to speak. You have to convince them that this time commitment will pay off. And especially under the circumstances that we are witnessing currently in Northeast Syria, given all the other hardships that people have to deal with daily. I already mentioned that the economic situation is a big factor. People have to get more than one job just to feed their families. You don’t even have time to engage in politics on such an intimate level. Thus, it’s a project in progress. But what’s important is that there has been a lot of education. Education is central to the revolutionary strategy in the region. You have to first and foremost convince people why they should adopt, should engage in these new revolutionary institutions, and this is what the movement has been trying to do. (…)

Because Northeast Syria is a tribal society, the opinion of the sheikh [traditional tribal leader] remains very important even now, even during the revolution. When I give interviews in the Western media and mention something about tribes, let’s say that Arab tribes and sheikhs met with the Autonomous Administration’s representatives, they say, ‘’How? How is that possible?’’ because the tribal system seems to them something so different, so patriarchal, and undemocratic. But working with the tribal system, especially in the Arab regions, is an important part of this revolution. The revolution in Rojava is happening without destroying the actual way people live, how people used to live for centuries. And it is not top down. The way the Western media often sees it, the Autonomous Administration kicked out Assad, then started to implement its ideas, and the people accepted this. But in reality such things don’t work out so neatly because it’s the Middle East. It is the tribes that traditionally decide things. They decide, for example, “We will protect this region. We will protect this front line. We will create this council. We will open the Women’s Association in Raqqa, the ex-capital of Isis.’’ This is something we have to understand. Or to give you another example, when Westerners, when foreigners see women in Raqqa, in these women’s associations, see that they cover their heads, that they wear hijabs, they say, “No, this is not a feminist revolution. This is bad. This is not real feminism, this is not real democracy.’’ But it’s not like that. This is the main problem of Western society, you know — it sees itself as a more progressive society, as more conscious and more developed. But actually, it’s not always true.

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Aus dem Netz: Wer ist und was will die Neue Feindschaft

1. Die Neue Feindschaft ist neu, weil die alte nichts mehr getaugt hat. Aber sie ist ist schon immer dagewesen, und sie wird wie Phoenix auferstehen, auch wenn sie untergegangen zu sein scheint. Gemeint ist natürlich der Schauspieler River Phoenix, der entgegen anderslautenden Gerüchten nicht gestorben ist, sondern eine Tankstelle im Hinterland von Oregon betreibt und darauf wartet, dass die Stunde kommt.

2. Die Neue Feindschaft lehrt euch nur das, was ihr schon wisst, z.B. dass die Soziologie eine Pseudowissenschaft ist, Geld verdienen Klassenverrat, und das, was klingt wie unerträgliche Zipfelklatscherei, auch unerträgliche Zipfelklatscherei ist. Der Unterschied ist nicht, dass sie es ausspricht (das tun mehre), sondern dass sie nie etwas anderes redet.

3. Die Neue Feinschaft schämt sich nicht, Dinge auszusprechen wie, dass der Verrat der „Linken“ an der Revolution beantwortet muss vom Verrat der Linken an der „Linken“. Sie schämt auch nicht, es zu stehlen, wenn andere es ausgeprochen haben.

3a. Die Neue Feindschaft nimmt sich wie Moliere das Gute, wo sie es findet. Sie erhebt keinen Anspruch auf Eigentum an ihren Sätzen, Gedanken und Taten, und sie respektiert auch keines. Jeder kann sich Neue Feindschaft nennen; dafür, dass man ihn dafür hält, muss er selbst sorgen.

4. Die Neue Feindschaft ist ansteckend. Die Neue Feindschaft ist keine Organisation, sondern eine Methode. Oder besser gesagt, sie ist keine Methode, sondern eine Geisteskrankheit.

5. Die Neue Feindschaft geht vom Unwahren aus. Sie sucht und findet es überall und arbeitet sich von dort aus voran. Sie hält alles andere für eine schmutzige Lüge. So löst sie mit leichter Hand alle Rätsel, die für die Fachleute in undurchdringlichen Nebel gehüllt sind.

6. Die Neue Feinschaft ergreift selten Partei, und wenn, dann nur für die Neue Feindschaft. Das liegt nicht an Mangel an Prinzipien, sondern daran, dass die alten Feinschaften nichts mehr taugen. Was eine neue Feindschaft ist, erkennt man daran, dass die Neue Feindschaft eine Partei darin ergreift.

7. Es kommt der Neuen Feindschaft nicht darauf an, sich Freunde zu machen. Im Gegenteil kommt es ihr darauf an, Streit anzufangen. Ihre Sache ist es nicht, sorgfältig abuwägen. Ihre Sache ist es, streitlustige Leute zusammenzubringen; oder genauer gesagt, komplette Verrückte zu finden, denen das Fell juckt. Die Neue Feindschaft weiss, dass anders heute nichts ausgerichtet werden kann.

8. Die Neue Feindschaft kämpft gegen die neumodischen Verrücktheiten, aber nicht etwa, weil sie gegen neumodische Verrücktheiten wäre. Im Gegenteil beansprucht die Neue Feindschaft, die neumodischste aller Verrücktheiten zu sein, und sie wird es nicht zurückweisen, die verrückteste genannt zu werden. Wie alle neumodischen Verrücktheiten war sie schon von jeher da, und tut nur so, als wäre sie es erst seit gestern. Die grösste umfassendste Feindschaft, die an die Stelle der bloss begrenzten Feindschaften von gestern tritt; das letzte Gefecht, der Krieg, der den Krieg abschafft. Die Neue Feindschaft weiss, dass seit Jahrtausenden unter dieser Fahne des hellen Wahnsinns in den Krieg geritten worden ist, und dass jede Revolution gescheitert ist. Sie hört aufmerksam zu, wenn die Sieger rufen: ergebt euch, es ist zu Ende.

9. Die Neue Feindschaft sagt: nein, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sie wird noch mindestens eine Runde weitergehen. Ihr habt noch lange nicht gewonnen, auch wenn es so aussieht. Und so lange ihr nicht gewonnen habt, haben wir noch nicht verloren. Also vorwärts, ruft die Neue Feindschaft, alle ins Gefecht, für den blossen Schatten eines Schattens vom Sieg! Es ist ihr vollkommen ernst, und sie geht zuversichtlich davon aus, dass genügende folgen werden (wie immer), aber viel zuwenige, um zu gewinnen (wie immer).

10. Die Neue Feindschaft verspricht Dir T-Shirts, aber Du trägst lieber Jogginghosen.

Fortsetzung folgt

https://t.me/neue_feindschaft/69

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Aus dem Netz: Normalisierung

Einer der grösseren talking point der neueren Zeit ist es, gegen diese oder jene „Normativität“ sich zu wenden, dies oder jenes zu „normalisieren“ oder zu „entstigmatisieren“. Ein paar unsystematische Betrachtungen.

1. Man kann zB den Makel der Obdachlosigkeit auch aufheben, indem man den Obdachlosen zwar kein Obdach verschafft, aber Obdachlosigkeit „normalisiert“. Obdachlosigkeit ist dann kein Makel des Obdachlosen mehr, und vor allem kein Makel der Gesellschaft mehr, die Obdachlosigkeit hervorbringt.

Aus Kreisen der berliner Pseudo-Linken ist neuerdings verlautet, auch Obdachlosigkeit sei „queer“. Aus dem neoliberalen shithole country Kalifornien und in einigen anderen nordamerikanischen Einparteienstaaten hören wir von den erstaunlichsten Zuständen (siehe den Artikel https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2022/06/how-san-francisco-became-failed-city/661199/).

2. Vor längerer Zeit, bei uns unter Schröder, hat man der Sozialdemokratie eine Verdünnung ihres Gleichheitsbegriffs zu dem der Chancengleichheit bescheinigt. Sogar das war bloss Ideologie: es geht um den blossen Anschein von Chancengleichheit. Die blosse Anti-Diskriminierungspolitik begreift nicht den bürgerlichen Idealzustand als den Skandal, sondern die Abweichung vom bürgerlichen Idealzustand. Sie spricht damit den bürgerlichen Idealzustand heilig. So weit, so banal. Wenn es denn so banal bliebe.

3. Die Pseudo-Linke ist offenbar nicht im Stande, das Geschäft der bürgerlichen Kälte und Gleichgültigkeit zu treiben ohne eine gewisse überschiessende Tendenz. Die Rede von der Entstigmatisierung gesellt sich gewöhnlich zu den schön klingenden Phrasen von der Vielfalt und Buntheit, in deren Namen sich gegen irgendeine „Normativität“ gewandt wird.

Eine autoritäre Gesellschaft kann die Normativität nicht loswerden. Sie wird immer einen Masstab hervorbringen, an dem man gemessen werden wird. Es wird nur gelingen, zu verschieben, was in einem bestimmten Zeitpunkt als „normal“ gilt. „Normal“ ist dasjenige Verhalten, das von der Autorität gebilligt wird. Es spricht ja heute niemand davon, etwa die Autorität abzuschaffen.

Die Autorität ist dasjenige, was über die Normalität entscheidet.

4. Die Aufhebung einer Diskriminierung ist immer ein Machtbeweis gewesen, aber nicht immer ein Beweis der Macht des Diskriminierten. Das war in der Vergangenheit anders, als man noch von Herrschaft und Ausbeutung gesprochen hat, aber nichts anderes als die bürgerliche Befreiung (die Aufhebung einer Diskriminierung) erreicht hat.

Unter der heutigen Logik entsteht eine eigenartig geisterhafte Simulation von „Befreiung“. Sie ist mehr von den Bedürfnissen derer geprägt, die über die Normalität entscheiden, als von den Bedürfnissen einer realen unterdrückten Gruppe. Sie besteht auch nicht mehr darin, die tatsächliche Lage von realen Menschen zu verändern, sondern zu verschieben, was gebilligte und was missbilligte Praxis sein soll. Den Inhalt dieser Verschiebung aber scheint das Markt zu diktieren.

5. Noch findet anscheinend diese Simulation von fortdauernder Befreiung seine Abnehmer unter denen, die bereit sind, diese blosse Verschiebung als Befreiung auch zu empfinden. Das Bedürfnis danach ist real. Dem Selbstverständnis dieser Gesellschaft ist der Anspruch auf Befreiung eingeprägt, und allen ihrer Insassen. Ihre Fähigkeit dazu aber scheint sich zu erschöpfen. Die Gesellschaft trifft eine Auswahl, wer eingeladen wird, an der illusorisch gewordenen Befreiung teilzunehmen und wer nicht; davon das nächste Mal.

https://t.me/neue_feindschaft/72

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Aus dem Netz: Sieben Thesen zum Erfolg der AfD

Ein gewisses Lebenszeichen, aus dem Forum der FAU.

Die AfD wird immer stärker und wird Stand jetzt die Landtagswahlen in drei Bundesländer im Herbst gewinnen. Die bisherige Strategie der Bekämpfung ist, allein schon empirisch, gescheitert.
Mit folgenden Thesen möchte ich einen Anstoß geben, die bisherige Strategie zu überdenken, anzupassen und gegebenenfalls zu ändern.
Die Thesen beanspruchen nicht die Wahrheit, sondern sind als Grundlage für eine Diskussion gedacht.

1 Alle Parteien, von Linkspartei bis CDU, bewegen sich in ihrer Praxis in einem begrenzten politischen Rahmen, bilden quasi ein Kartell, das Opposition nicht zulässt. Sämtliche Regierungen der letzten 30 Jahre haben die Politik der Vorgängerregierungen fortgesetzt. Daher war es unmöglich, einen politischen Wechsel per Wahlen herbeizuführen. Die AfD geriert sich als Opposition und Alternative zu diesem Kartell, was ihren Erfolg ausmacht.

2 Die AfD repräsentiert einen Unmut gegen eklatante politische Missstände. Ohne eine politische Antwort auf diese Missstände, kann die AfD nicht eingegrenzt werden. Im Gegenteil, die radikale Rechte wird weiter gestärkt.

3 Wenn sich die außerparlamentarische Linke in einem „antifaschistischen Block“ mit den Regierungsparteien zusammenschließt, wird sie Teil dieses Kartells, zumindest aber als solches wahrgenommen. Damit verbleibt als einzige Opposition gegen die „alternativlose“ Politik die radikale Rechte. Auch dies wird sie weiter stärken.

4 Von der bisherigen Ausgrenzungs- und Marginalisierungsstrategie hat vor allem die AfD profitiert. In anderen Ländern ist Vergleichbares zu beobachten. Auch die aktuelle Intensivierung dieser Strategie wird nicht zum Erfolg führen.

5 Die Ausgrenzungsstrategie führt dagegen zu einer verstärkten Konfrontation nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Arbeiterklasse. Diese Spaltung muss aber überwunden werden, um wirkliche Änderungen zu ermöglichen.

6 Die Bekämpfung der AfD mit allen Mitteln, inklusive Geheimdienstmethoden und Grundrechtsbeschränkungen, ist ein Fehler. Dadurch können sich Partei und Wähler als Opfer stilisieren. Zudem werden Protestwähler an die Partei gebunden.

7 Die Auseinandersetzung mit der AfD sollte in erster Linie politisch stattfinden, indem a) ihre Positionen als Teil des bürgerlichen Kapitalismus gekennzeichnet werden und b) eine wirklich oppositionelle Alternative von Links angeboten wird.

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Aus dem Netz: If We Burn

https://www.currentaffairs.org/2023/10/why-havent-the-protest-movements-of-our-time-succeeded Vincent Bevins, If We Burn, 2023.
Oha, noch ein Buch über die Bewegungen der 2010er! Es gibt mittlerweile eine ganze Literaturgattung darüber. „Hinterland“ neulich gehörte dazu. „Burning Country“ von Leila Shami und Robin Yasan-Kasib gehört dazu, über Syrien, ebenso wie „Bread, Freedom, Social Justice“ von Alexander und Bassiouny. Auf ganz seltsame Weise gehören dazu auch „Continuity and Rupture“ von Moufawad-Paul (der in einer Art eschatologischem Maoismus seine Zuflucht vor dem „Movementismus“ seiner Jugend gefunden hat) oder, ganz anders, Winlow und Halls „Death of the Left“.

Alle diese Bewegungen haben gemeinsam, mehr oder minder gescheitert zu sein; unterlegen entweder unter Fassbomben und Panzern, oder von den bestehenden Mächten übernommen, erstickt, unkenntlich gemacht. Das letztere ist der Fall im Westen.

In keinem Falle haben sie eine organisierte Form hervorgebracht, die in der Lage gewesen wäre, zentrale Forderungen aufzustellen und diese in geordneter Weise umzusetzen, wie man sich ehedem wohl einen politischen Prozess vorzustellen pflegte. Dazu brachte jede von Anfang an viel zu radikale Tendenzen hervor.

Eine weitere erstaunliche Gemeinsamkeit scheint nach Bevins‘ Meinung, wenn ich ihn beim Überliegen richtig verstehe, diese zu sein: sie alle, sagt er, lehnten die Logik der Repräsentation ab. Er tut sich leicht, in den Formen der Vollversammlungen etc. eine enge, ideologische, doktrinäre Form des „Horizontalismus“ zu finden. Er denkt sich naturgemäss, dass es hätte anders sein können, wenn nur eine Minderheit von bewussten Aktivisten anders gehandelt hätte.

Wir haben eine schlimmere Nachricht gehört: die Revolutionen sind unfähig, sich in bewussten, kalkulierenden Formen zu halten, unfähig, vorsichtig und besonnen zu sein. Wenn sie beginnen, radikalisieren sie sich notwendig aufs Ganze; aber sie werden immer unfähig sein, das Ganze zu ergreifen. Die Unbestimmtheit ihrer Forderungen, das Chaos der Ansprüche, das sie eröffnen, ist kein Fehler in der Methode einer denkenden Minderheit, sondern der Ausdruck des Zustands der Welt.

Oder wir irren uns, und es wird etwas gelernt werden? Aber von wem? Bevins interviewt einen Haufen Veteranen der Bewegungen. Wehmütig lesen wir von alten Freunden: „Mahmoud Salem, the “Sandmonkey” blogger, told me that he never wants anyone to feel the guilt that he does, the knowledge that he asked teenage boys to risk their lives and watched them die, only for the entire movement to experience defeat.“ „Es kommt darauf an“, sagt aber Franz Jung, „nichts zu lernen.“

https://t.me/neue_feindschaft/46

Nachtrag. Das Buch von Bevins mit diesen Abschnitten, die etwas aussprechen, was uns heilig ist, und was in unserer Zeit fast vergessen und verschüttet zu sein scheint.

„BUT WHAT ABOUT THAT FEELING? What about that intense, life-changing collective euphoria? This was an issue on which my interlocutors were split. What about those magical, radiant days, the moments when you felt that your very soul became fused with the forces of history, that you were bigger and more powerful. That all your differences melted away, and that you and your fellow revolutionaries were literally remaking the world, with each and every thing that you did. This supernatural experience was something that took place all around the world, and everyone agreed it was important. Some people said they would relive those days for the rest of their lives. The disagreement was about what came next. For some of them, the horrible comedown, the plunge into depression that came after things did not work out, was something like a hangover. You can get yourself all fucked up on revolutionary élan, just like you can drink alcohol or take drugs. But it warps your senses and causes you to make poor decisions. It isn’t real, and you’re going to pay for it later. If you want the feeling of mass ecstasy you should go to a music festival instead of encouraging vulnerable young people to go out and get killed. Indeed, it seems you can probably draw a line from the ethos of the New Left and the arrival of Woodstock, and then, ultimately, to Coachella. Then there was another interpretation, just as common. It is the most real thing that one can ever feel. It is not an illusion at all; it is a stunning, momentary glimpse of the way that life is really supposed to be. It is how we can feel every single day in a world when artificial distinctions and narrowly self-interested activities melt away. When our society truly is participatory, when we are truly forging history in every movement and acting in love and harmony with our fellow human beings, we will be able to feel this way all the time. Over four years of interviews, across ten countries, people went back and forth. As I said, they couldn’t decide which one it is.“

https://t.me/neue_feindschaft/47

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Die Krise in Deutschland II

„Ifo-Ökonomen sehen das Geschäftsklima im Wohnungsbau auf einem Rekordtief und sprechen von »düsteren« Perspektiven“; „Der Markt für Büroimmobilien ist im vergangenen Jahr zusammengebrochen.“

Soviel dazu. Aber Neuigkeiten vom Bodenmarkt sind natürlich nur der Anfang einer regelgerecht aufgeführten Krise.

“ Zum sechsten Mal nacheinander ist die Produktion im November geschrumpft. Damit ist zunehmend klar, dass die Wirtschaft 2023 in die Rezession rutschte. Für 2024 ist das ein schlechtes Omen. … Eine solch lange Abwärtsreihe habe es in Deutschland bislang nur während der Finanzkrise gegeben, betonten die Volkswirte von der Dekabank.“

„Die deutsche Wirtschaft wird aus Sicht des Internationalen Währungsfonds (IWF) in diesem Jahr um 0,5 Prozent schrumpfen. Damit hat der IWF seine Prognose erneut nach unten korrigiert, wie aus der am Dienstag veröffentlichten IWF-Schätzung für die Weltwirtschaft hervorgeht.“

Oder ist es nur eine sogenannte technische Rezession?

Das BIP der größten Volkswirtschaft Europas ist bereits im Sommerquartal geschrumpft, wenn auch nur um 0,1 Prozent. Kommt von Oktober bis Dezember das zweite Minus in Folge hinzu, wird von einer technischen Rezession gesprochen. Diese soll aber nicht lange währen. „Zu Beginn des kommenden Jahres dürfte die deutsche Wirtschaft wieder leicht expandieren“, so die Bundesbank.

„Die Produktion in den beiden Sektoren Industrie und Bau gab zuletzt merklich nach. „Sie leiden weiterhin unter einer schwachen Nachfrage“, erklärte die Bundesbank die Misere. „Auftragspolster puffern dies zunehmend weniger ab. Die Industrieproduktion werde zudem durch den vorangegangenen Energiepreisanstieg gedrückt.“

Da scheint es Zweifel zu geben.

„Die Schwächephase der deutschen Wirtschaft dauerte somit auch zum Jahresende an. Doch wie sieht es 2024 aus, wird im neuen Jahr endlich alles besser? Ökonomen sind skeptisch. Die Ausgangsbasis für das neue Jahr habe sich verschlechtert, erklärt Commerzbank-Chefvolkswirt Krämer, der für 2024 mit einem Minus von 0,3 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt rechnet. Auch Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), erwartet, dass die deutsche Wirtschaftsleistung im neuen Jahr um 0,3 Prozent schrumpfen wird. … Denn die Industrie dürfte auch 2024 zunächst nicht aus dem Krisenmodus herauskommen – das signalisieren jedenfalls die sinkenden Auftragseingänge.“

Vorher wissen kan man es nie. Aber es ist gar kein gutes Zeichen, wenn die Commerzbank von einer Rezession in 2024 ausgeht, die Bundesbank aber von einer Erholung. Demnächst berät die FED über Zinssenkungen; vermutlich wird man sich in Europa ein Beispiel nehmen. Aber die Lage hat durchaus das Potential, sich so auszuwachsen, dass ihr mit Zinssenkungen nicht mehr beizukommen ist. Auch die Negativzinsen haben an einem bestimmten Punkt ihr Ende finden müssen. Von der einen Seite droht die Rezession, von der anderen die Preisinflation; die Krisenpolitik der 2010er Jahre ist an ihrem Ende angelangt.

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Aus dem Netz: „Hinterland“

Es ist gerade in manchen Kreisen viel die Rede von dem Buch „Hinterland“ von Phil A. Neel.

Das Buch kreist um drei Themen. Erstens die Bewegungen, hauptsächlich die im Westen, nach der Krise von 2008, ihre Niederlagen, und was für Schlüsse daraus zu ziehen sind. Zweitens die Krise des Kapitalismus und ihre Folgen. Drittens die Städte als Knotenpunkte der globalen Ökonomie und gleichzeitig als Orte des Ausschlusses. Viertens die Beziehungen dieser Städte zum „Hinterland“, von woher das Buch seinen Namen hat.

Lesenswert gleich zu Anfang die Beschreibung von Seatttle als globales logistisches Zentrum S. 95 ff. und danach der städtischen Zentren und ihrer Veränderung in der neuesten Zeit. Diese Städte sind Orte, an denen Widerstand sich nicht mehr bilden kann; sie haben keine Öffentlichkeit mehr, sondern sind Gebildete einer abgesperrten Öffentlichkeit, Orte des Ausschlusses von Öffentlichkeit.

Die Bevölkerung ist zum allergrössten Teil verbannt in Zonen ausserhalb dieser Zentren, Neel nennt sie das „nahe Hinterland“. Unterschiedliche subalterne Zonen, relativ isoliert, von den Betontürmen am Rand der Städte hinaus in die besiedelten Orte des Umlands.

Weiter draussen liegt das „ferne Hinterland“, die abgehängten Gegenden, in denen Fentanyl und Verzweiflung regieren, S. 17 ff. und der ganze erste Abschnitt. Lesenswert dazu S. 65 ff. über die wiederkehrenden Waldbrände an der amerikanischen Westküste. Deren Ursache liegt darin, dass nach früherem Kahlschlag gleichalter Wald aufgeforstet wurde; nach dem Niedergang der Holzindustrie sind diese Gegenden ungenutzt und kaum bewohnt, zum ersten Mal seit Jahrtausenden, und nur mehr Gegenstand der Waldbrandbekämpfung. Die Waldbrandbekämpfung wiederum hat vor allem zur Folge, dass die nächsten Waldbrände nur um so verheerender werden. Es ist das perfekte Bild einer abgehängten Landschaft, deren Verödung gleichermassen herrührt aus früher Übernutzung und späterer Wertlosigkeit. Sie spielt nur noch eine Rolle dadurch, dass ihre Probleme verwaltet und ebend dadurch immer weiter vergrössert werden.

Durch alle diese Dinge zieht sich wie ein Faden nicht nur die zyklische Krise von 2008, sondern die Dynamik und Krise des Kapitalismus selbst. Für uns unmittelbar interessant sind die Stellen über die Besetzungsbewegungen Anfang der 2010er Jahre. Neel beschreibt sehr richtig, wie die Besetzung der grossen Plätze oder öffentlicher Gebäude ein Schlag ins Leere gewesen ist; man besetzt z.B. das Rathaus und bemerkt erst dann, dass man die leeren Korridore der Macht besetzt hat, S. 160 ff., oder man lässt sich von den „linken“ Leuten des Systems verschaukeln, S. 146 ff. (es gibt bekanntlich in allen Linksparteien die berühmten „fitten Leute“, ungefähr genausoviele wie es nette Bullen gibt).

Unterstützt wurde das von dem ganzen Vollversammlungsbimbam, dem Mythus der direkten Demokratie, S. 149, des uns das human microphone beschert hat oder das dumme Händegewackel. Am Ende läuft dann alles davon.

Alle diese Niederlagen rühren letztlich vom selben Missverständnis, von dem vergeblichen Kampf um eine entleerte Öffentlichkeit. Man kann sie besetzen, erobern, und hat dann nicht auf einmal eine intakte Öffentlichkeit in der Hand, sondern nichts. Völlig richtig ist deshalb der Schluss, stattdessen nach dem „nahen Hinterland“ sich umzusehen. Dort, wo von Anfang an nie eine Öffentlichkeit vorgesehen war, S. 126, wäre es eine subversive Sache, eine anzufangen. Denn dort leben heute die „gefährlichen Klassen“.

Möglich wäre das, wenn das „ferne Hinterland“ dazu die operative Tiefe böte. Kann das gelingen? Ohne Zweifel kann das gelingen. Die Frage ist nur, ob es Leuten wie uns gelingen kann, oder ob wir einfach die falschen Leute sind. Die groben Koordinaten stimmen; nur auf einem solchen Weg ist in absehbarer Zukunft Opposition möglich, S. 168 ff., und deswegen wird sie auch auf diesen Wegen stattfinden.

https://t.me/neue_feindschaft/45

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News unterm Radar VI

Zum Abschluss des Jahres noch mal die „nicht so offensichtlichen News“, obwohl die Rubrik ein bisschen eingeschlafen ist in der letzten Zeit. Diesmal in den „Nachrichten“, die in Wirklichkeit keine sind, ein roher und subjektiver Bericht von „Assambleja“, einer libertären Grassroot-Initiative aus Charkiw: „Die dunkelste Stunde ist vor dem Sonnenaufgang? Beim Betreten des Jahres 2924: die Sicht aus Charkiw auf ein weiteres Jahr des Stellungskrieges“. Die Initiative, so weit ich einschätzen kann, beschäftigt sich vornehmlich mit der sog. Stadtentwicklung bzw. Gentrifizierung, kann also viel Interessantes über die unschönen Praktiken des Wiederaufbaus in der Ukraine erzählen. Die jüngsten Korruptionsskandale geben einen Ausblick darauf, wie es nach dem Krieg weiter laufen wird, sollte die ukrainische Arbeiterschaft sich durch die nationalistische Mythen einlullen lassen und den neuen Klassenkompromiss akzeptieren. Ich hoffe, dass die Leute, die 2016 Sachen wie „Übt euch im Hass auf die neue Regierung“ geschrieben haben, heil von der Front zurück kommen und noch einiges dazu sagen werden. Vieles im Folgenden soll die (optimistische) Meinung oder Einschätzung der Autoren bleiben, es ist recht faszinierend, auf welchem Niveau unsere Debatten um diesen Krieg geführt werden – der 2. Weltkrieg ist bei uns noch gar nicht passiert und wir warten immer noch auf das Abheben der Revolution in Mittel- und Westeuropa. Wie auch immer, der Totenkäfer scharrt schon im Gebälk wie es mal bei Erich Mühsam hieß. Dies ist die direkte Rede aus der Ukraine, auf die Schnelle mit DeepL für euch übersetzt, nehmt sie zur Kenntnis:

Die Sackgasse. Dieses Wort taucht in fast jeder Analyse in der westlichen Presse über den russisch-ukrainischen Krieg auf. Seit sich die russische Armee im November letzten Jahres aus Cherson zurückgezogen hat, ist die Frontlinie trotz blutiger Versuche beider Seiten, eine Zäsur zu ihren Gunsten zu erreichen und Handlungsspielraum zu gewinnen, fast unbeweglich. Nach dem neuen Verdun – dem Fleischwolf von Bakhmut im Winter und im Frühjahr – folgte eine neue Schlacht an der Somme um ein Dutzend Dörfer in den Steppen der Asow-Region, die sich seit Oktober langsam in ein weiteres Verdun/Bakhmut um Awdejewka verwandelte. Wenn es fällt, wird sich das Gleiche an neuen Grenzen etwas weiter weg fortsetzen. In der Zwischenzeit sieht die Grütze aus Schlamm und Leichen in Krynky wahrscheinlich schon nach einem neuen Passendale aus.

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Buchbesprechung: Geschichte, Grundsätze und Zukunft der Genossenschaften

Artikel als Pdf

A
– Wilhelm Kaltenborn, Schein und Wirklichkeit. Genossenschaften und Genossenschaftsverbände, eine kritische Auseinandersetzung. Verlag Das neue Berlin, oO, oJ
– Wilhelm Kaltenborn, Vision und Wirklichkeit. Beiträge zur Idee und Geschichte von Genossenschaften, Verlad Das neue Berlin, o.O., o.J.
B
– Helmut Faust, Geschichte der Genossenschaftsbewegung, Ursprung und Aufbruch der Genossenschaftsbewegung in England, Frankreich und Deutschland und ihre weitere Entwicklung im deutschen Sprachraum, 3.Auflage, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt a.M 1977
– Erwin Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Franz Knapp Verlag, Frankfurt a.M. 1971
C
– Clemens Schimmele, Zur Organisation demokratischer Unternehmen. Eine Studie erfolgreicher Produktivgenossenschaften in den USA, Springer-Gabler, o.O. (Wiesbaden) 2019
– Jürgen Daviter, Volkmar Gessner, Armin Höland, Selbstverwaltungswirtschaft. Gegen Wirtschaft und Recht? Rechtliche und ökonomische Problembetrachtungen, AJZ Verlag, Bielefeld 1987
– Achim von Loesch (Hg.), Selbstverwaltete Betriebe, Neue genossenschaftliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen? Überblick und Beurteilung, Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen, zugleich Organ der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft und Gemeinwirtschaft, Beiheft 10, 1988, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
– Heinz Bierbaum, Marlo Riege (Hg.), Die neue Genossenschaftsbewegung. Initiativen in der BRD und in Westeuropa, VSA, Hamburg 1985
D
– Karl Grünewald, Über die Zusammenarbeit zwischen landwirtschaftlichen Genossenschaften und Konsumgenossenschaften. Entwickung, Stand, Möglichkeiten und Grenzen, Verlag der Raiffeisendruckerei G.m.b.H., Neuwied am Rhein 1953
– Rudolf Hertl, Gedanken zur Zusammenarbeit von Konsumgenossenschaften und landwirtschaftlichen Genossenschaften, Zeitschr. f. d. ges. Genossenschaftswesen 1/1960, 28 ff.
– Gerhard Glöy, Stand und Entwicklungstendenzen intergenossenschaftlicher Beziehungen. Eine Analyse der Möglichkeit warenwirtschaftlicher Zusammenarbeit von Agrargenossenschaften und Genossenschaften des Einzelhandels und der Verbrauchern, Springer Fachmedien, Wiesbaden 1969 (Forschungsberichte des Landes Nordrhein-Westfalen Nr. 2037)
E
– Gunther Aschoff, Eckart Bennigsen, Das deutsche Genossenschaftswesen, Entwicklung, Struktur, wirtschaftliches Potential, Veröffentlichungen der DG Bank Band 15, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt a.M. 1995
– Juhani Laurinkari, Genossenschaftswesen. Hand- und Lehrbuch, R. Oldenbourg Verlag, München u. Wien 1990

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Die Geschichte des modernen Genossenschaftswesens ist in Deutschland heute kaum bekannt. Diese Behauptung kann man ohne Schwierigkeiten wagen. Denn eine solche Geschichte ist praktisch nicht geschrieben worden, Kaltenborn, Schein u. W., 84 ff. Was gechrieben worden ist, ist eine Geschichte des genossenschaftlichen Verbandswesen, und zwar geschrieben von dem und für das Verbandswesen, die auch nur von dem Verbandswesen, seinen Bilanzen und seinen Anführern handelt.

Diese Anführer sind der Reihe nach zuerst halbwegs charismatische Gründer, danach begabte Buchhalter und zuletzt mittelmässige Manager gewesen; und natürlich spiegelt sich auch in dieser Entwicklung die Geschichte des Genossenschaftswesens, wenn auch in einem sehr trüben Spiegel, nämlich im Spiegel seiner allmählichen Integration in die kapitalistische Gesellschaft.

Das genossenschaftliche Verbandswesen ist in dieser Entwicklung immer intransparenter, nahezu undurchschaubar geworden, Kaltenborn ebd. 286 ff.). Im selben Mass hat sich eine Führungsschicht gebildet, die sich mehr oder minder selbst wählt; Kaltenborn, dessen beide Arbeiten vor allem zum Einstieg sehr zu empfehlen sind, sieht sich an einer schönen Stelle zu einem Vergleich mit der SED oder dem Internationalen Olympischen Kommittee veranlasst, Schein u. W. 310 ff; erstaunliche Beispiele auch ebd. 126 ff am Beispiel der Satzung der Volksbank Berlin.

Der einfache Sachverhalt, dass Genossenschaften einmal gegründet worden sind, um eine gegebene Lage zu verändern, ist in Vergessenheit geraten, Kaltenborn ebd. 94 f. Seit den späten 1970ern hat die Alternativbewegung eine Reihe von kooperativen Formen versucht wiederzuentdecken, aber eine Erneuerung des Genossenschaftswesens hat sie nicht bewirkt und konnte sie nicht bewirken. Die in den 1980ern gar nicht so seltenen Versuche, in der Krise der frühen 1980er insolvente Betriebe durch die Belegschaft weiterzuführen, haben weder von ihr noch von sonst jemandem wirksame Unterstützung erhalten und sind folgenlos geblieben bis auf die Literatur.

Die Literatur, die aus dieser Zeit hinterlassen ist, ist unterschiedlich interessant oder relevant; das meiste schwankt zwischen allerhand partizipativen Managementmethoden, die einen beim ersten Überfliegen schon misstrauisch machen sollten; Vergleichen mit der sogenannten Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien, was einen noch misstrauischer machen sollten; völlig verständnisloser Kritik durch Leute wie Achim Loesch, den Chefideologen der sogenannten Gemeinwirtschaft, der stattdessen viele lobende Worte z.B. über die Neue Heimat gefunden hat, was einen ebenfalls misstrauisch machen sollte; allerhand ökologischem und alternativem, von dem man gut genug weiss, was daraus geworden ist; oder, bei der Linken, grundsätzlich positiver Bewertung z.B. durch Bierbaum, aber ohne dass der Versuch gemacht wird, auf Geschichte und Grundsätze der Genossenschaften neuere Gedanken zu verwenden. Dazwischen finden sich selten auch weiterführende Dinge, die man herausklauben muss.

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Erklärt sich das Erstarren, die Entpolitisierung, das gesunkene Interesse am Ende vielleicht damit, dass die Genossenschaften ihre Ziele im wesentlichen erreicht haben? Die moderne Genossenschaftsbewegung beginnt 1843 mit der Gründung der Genossenschaft von Rochdale bei Manchester. (Sie besteht tatsächlich, nach einigen Fusionen seit 1991, immer noch, als The Co-operative Group; wenn auch der Hauptsitz auch seit 2007 nicht mehr Rochdale ist, sondern Manchester.) Die legendären Equitable Pioneers, angeblich 28 an der Zahl, sind mit einem weitgespannten Veränderungsprogramm angetreten. Man kann kaum sagen, dass irgendetwas davon erreicht ist.

Die gute Leute waren zum einen Teil chartistische Revolutionäre und zum anderen owenitische Sozialisten. Sie lebten im grössten Industriebezirk ihrer Zeit, mitten in einer Phase gewaltiger revolutionärer Agitation. Die chartistische Bewegung drang in Britannien in dieser Zeit um 1842 in die entlegensten Dörfer vor; eine Bewegung dieser Art hat man auch seitdem nicht mehr gesehen, sie richtete sich gegen die Lage der Arbeiter auf dem Land und in der Stadt, gegen die Fabrikanten und gegen die Landherren, und sie riss alle unteren Gesellschaftsklassen mit sich. Sie predigte und probierte als erste den Generalstreik; Sie war der radikalisierte Nachläufer einer bürgerlichen Parlamentsreform-Bewegung; aber ihre Verfassungsänderung lief auf den Sturz der besitzenden Klassen hinaus.

Die Anhänger Robert Owens waren frühe Sozialisten der entschieden modern-industriellen Art. Owen war selbst einer der Pioniere der modernen kapitalistischen Textilindustrie gewesen, hatte dann in New Lanark einige genossenschaftliche Experimente begonnen und wurde später einer der bekanntesten sozialistischen Propheten; Marx zitiert zustimmend sein Konzept der Arbeitszeitrechnung. Die Oweniten unterschieden sich von den anderen Fraktionen der frühen Arbeiterbewegung durch einen charakteristischen Zug: sie sahen genauso klar wie die aufständischen Ludditen, dass die neue Produktionsweise auf die völlige Zerstörung der ganzen alten Gesellschaft hinauslief. Sie sahen das aber ohne Bedauern; sie hatten vor, auf deren Trümmern eine neue zu errichten.

Es ging den Pionieren von Rochdale darum, eine ökonomische Form für eine solche neue Gesellschaft zu finden; und zwar eine, die sich schon unter den bestehenden Verhältnissen bewährt. Einen Gegensatz von „Reform“ und „Revolution“ kannten sie nicht; es war ihnen klar, dass eine politische Revolution nötig war, aber ebenso klar war ihnen, dass die politische Revolution kein bisschen das Problem löst, wie die neue Gesellschaft aufgebaut werden muss. Und umgekehrt, keine politische Macht wird der Effizienz und Dynamik der kapitalistischen Formen standhalten, wenn nicht neue ökonomischen Formen bestehen, die diese Effizienz und Dynamik in sich aufnehmen können.
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Bonnano war ein Ehrenmann

Ich tue das hier nur, weil ich eine nennenswerte Trauer um eine der wichtigsten Ikonen der europäischen insurrektionalistischen Szene in den letzten Tagen nicht wahrgenommen habe. Vielleicht habe ich auch nicht unter jedem Stein nachgeschaut, die wahren Aufständischen meiden bekanntlich das Internet und ähnliches Teufelszeug. Vielleicht bin ich einfach zu alt dafür, und weiß nicht mehr unter welchen Steinen sich die Aufständischen in meiner Gegend verstecken. Andererseits ist der italienischstämmige Bonnano als politisches Kind nicht einmal der 80er, sondern der späten 70er Jahre nach einem bewegten Leben voller Banküberfälle, Flucht und Knastaufenthalte am 6. Dezember 2023 mit 86 Jahren gestorben. Vielleicht soll ich einfach weniger Zeit im Internet verbringen und mich öfter in den Tumult des echten Lebens begeben.

Die Aufständischen haben bei aller erklärten Lieben zur revolutionären Praxis eine sehr breit gefächerte Literatur entwickelt, die sehr ernst und solidarisch auf internationaler Ebene betrieben wird. Darin wird – ich erlaube mir ein apokryphes Zitat aus interner Thier-Diskussion – „jeder brennenden Mülltonne eine Broschüre gewidmet“. Über die Insu-Literatur muss man nämlich folgendes feststellen: sie beerbt m.E. offensichtlich die Literatur der Situationisten. Diese wussten einst, dass niemand sich marxologisches Geschwafel freiwillig reinzieht und das Geschwafel in erster Linie für die Zwecke seiner Produktion und nicht zum Lesen produziert und publiziert wird. Daher ihre blumige Sprache, aber im Hintergrund stets das sich sichere marxistische Wissen um den Warenfetischismus in der Nachkriegsgesellschaft. Im ebenfalls sicheren Wissen, dass noch niemand auf die Barrikaden gegangen ist, weil er/sie in einem Marxlesekreis die Kategorien der politischen Ökonomie auseinander zu klamüsern lernte (eher umgekehrt), übernahmen sie die Ausdrucksweise der Agitation – und sonst nichts. Die einfühlsamen, aber gleichzeitig sehr wässrigen Pamphlete sind vielleicht noch nachzulesen auf den kollektiv um 2010-2012 eingegangenen Blogs und Seiten wie „Unruhen“, „An die Waisen des Existierenden“ oder wie sie alle hießen. Weiterlesen

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