Militärisches zur sogenannten „Revolutionstheorie“

Von Jörg Finkenberger

1.

So wenig es eine Theorie der Gesellschaft gibt, gibt es eine Theorie der Revolution. „Selbst wenn die Soziologie eine Wissenschaft wäre, wäre ihr der Begriff der Revolution nicht zugänglich“ (Landauer, Die Revolution, 1907); spätestens an den Revolutionen haben alle Gesellschaftstheorien sich blamiert; eine revolutionäre Theorie der Gesellschaft, gar eine „Revolutionstheorie“ ist ein Ding der Unmöglichkeit, wie eigens zum Hohn auf diese unverzichtbare Einsicht erfunden. Die Gesellschaft ist allerdings nur von der Revolution her zu begreifen; aber von der Revolution selbst eine Theorie haben zu wollen, ist genau deswegen ein anderes Ding.

Wann und warum brechen Revolutionen aus? Wer macht denn, wenn man es so sagen will, die Revolutionen? Und was bestimmt ihr Ergebnis, d.h. welche Partei kommt am Ende obenauf, und warum? Wenn man diese Fragen auch nicht ansatzweise beantworten kann, wird man mit der „Revolutionstheorie“ nicht weit kommen. Man müsste dazu wissen, aus welchen Komponenten, sozusagen, die Gesellschaft besteht, in welchen Verhältnissen sie zueinander stehen, und aus welchen Gründen sie bereit sind, welche Verhältnisse zu ertragen oder auch nicht; d.h. was sie zu tun bereit sind, um diese Verhältnisse zu verändern. Woher aber soll man das wissen, wo sie es vorher selbst nicht wissen?

Was man aber wissen kann, ist dies, dass keine Revolution bisher diesen Zustand selbst beseitigt hat. Es ist nämlich in der Tat immer irgendeine Partei obenauf gekommen. Keine Revolution hat bisher eine Gesellschaft zum Ergebnis gehabt, die der Revolution nicht mehr bedarf, sondern die in der Lage ist, ihr inneres Verhältnis frei und bewusst selbst zu verändern; das heisst, eine Gesellschaft, deren Mitglieder dieses Verhältnis überhaupt kennen. Wie kann eine solche Gesellschaft, die wir der Kürze halber klassen- und staatenlos nennen wollen, aus einer Revolution hervorgehen? D.h. wie kann eine Gesellschaft in Revolution sich der Herrschaft der einen oder der anderen vorrevolutionären Organisationen erwehren, die alle danach streben, ihr eigenes Regime aufzurichten, ohne Zweifel auch im Namen der Revolution selbst?

An diesem äussersten Umschlagpunkt entscheidet sich die Geschichte der Gesellschaft durch die Gewalt. Die Gewalt ist aber keine der Gesellschaft äussere Tatsache, sondern hat selbst gesellschaftliche Formen und Voraussetzungen. Sie kommt zu dieser Rolle überhaupt nur deshalb, weil das Gesellschaftsverhältnis innere Wahrheit und Einsichtigkeit nicht hat; weil es selbst nur durch Gewalt aufrechterhalten wird. Betrachten wir einmal die allgemeine Frage der Gesellschaft von der Gewalt aus, und umgekehrt die Gewalt von dem Problem eines „durchsichtig vernünftigen“ Gesellschaftsverhältnisses aus.

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„Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war bedeutend veraltet. … Machen wir uns keine Illusion darüber: Ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, gehört zu den größten Seltenheiten. … Selbst in der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte also die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Festigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen. … Seitdem aber hat sich noch sehr viel verändert, und alles zugunsten des Militärs“ (Engels, Einleitung zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“, 1895) .

Es hat eine gewisse Ironie, dass diese „Rebellion alten Stils“ viel von ihrer Energie aus der Erinnerung an die erste französische Revolution bezogen hat; weniger an die Erstürmung der Bastille, als an die feierlich sogenannten Journées, die einzelnen pariser Aufstände, mit denen die Revolution sich radikalisierte; die Erstürmung der Tuilerien am 10.August 1792, der Aufstand vom 31. Mai 1793 gegen die Girondisten; es waren Aktionen wie diese, die Buanarotti und den Blanquisten seitdem zum Vorbild ihrer Pläne gedient hatten, und diese Pläne sind regelmässig grausam schiefgegangen, wenn ihre Voraussetzungen nicht vorhanden waren; und zu diesen Voraussetzungen gehört durchaus die Planung, Steuerung und Benutzung durch Leute wie den damailgen Justizminister Danton, d.h. sie können Erfolg haben nur als Gewaltmittel der Intrige innerhalb des Staatsapparats, als geheime Staatssachen, d.h. als Putsche im weiteren Sinne des Wortes.

Der Juniaufstand 1848 hat gezeigt, wie solche Dinge selbst mitten in einer Revolution ausgehen, wenn sie nicht insgeheim einen Teil des Staatsapparats hinter sich haben. Und seit dem Aufstand der Kommune 1871 war es auch klar, dass das Militär auch dann nicht zwangsläufig seine „Festigkeit“ verliert, wenn es einen Gutteil der Hauptstadt in Schutt und Asche legen muss. Und selbst diejenigen Revolutionen, die gross, friedlich und populär sind; wo den Soldaten Blumen in die Gewehrläufe gesteckt werden, diese Revolutionen gehen entweder nie sehr weit; beschränken sich entweder auf den Sturz einer besonders unfähigen Obrigkeit; oder im Weitergehen entzweien auch sie sich bis zum Bürgerkrieg.

In Frankreich blieb 1968, und auch in Ägypten 2011, die Mehrheit hinter der Regierung; wo, wie 1978 im Iran, auch ein Teil der Rechten von der Regierung abfällt, wird der erste Akt der Revolution einfacher, der Sturz der Regierung, aber aus eben demselben Grund werden die nächsten Akte um so verheerender. Es finden ja nicht einmal diese Kämpfe einfach zwischen „den Klassen“ statt, denn die Klassen haben nicht ein für allemal feststehende Interessen, sondern diese müssen erst gefunden werden, und zwar in ihrem Verhältnis zu allen anderen Klassen. Es stehen sich deshalb, wenn man es noch so beschreiben will, innerhalb derselben Klasse verschiedne Fraktionen gegenüber, und zwar notwendig; denn es gibt immer veschiedne Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen diesen Klassen, und kein Kriterium, welche objektiv richtig ist.

Es ist genau diese Situation, die es einigen vorrevolutionären Parteien erlaubt, auf dem ständig sich verschiebenden Boden zu operieren, anstatt z.B. einfach auseinanderzufallen; und zwar gerade denen, die von der wirklichen Bewegung am meisten abgeschlossen sind. Ihre Stellung und Tätigkeit unterscheidet sich an sich nicht von der aller anderen vorrevolutionären Gewalten. Sie alle streben danach, den Prozess der Revolution an der für sie günstigsten Stelle abzubrechen; er ist ihnen nur Mittel zu einem für sie bereits vorher feststehenden Zweck. Man pflegt in der Regel unter Marxisten der Revolution insgesamt diesen Zweck zuzurechnen; und unterscheidet säuberlich zwischen bürgerlicher, proletarischer Revolution usw. Aber der Zweck der Revolution selbst kann von niemandem angegeben werden; sie hat als solche gar keinen, sowenig die Gesellschaft ein vernünftiges Prinzip.

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Der Bürgerkrieg ist unter diesen Umständen das Grab der Revolution, aber ohne dass es auf einfache Weise vermieden werden könnte, dass die Revolution den Bürgerkrieg hervorruft. Betrachten wir das fürchterlichste Beispiel eines solchen Fehlschlags, die syrische Revolution seit 2011, unter diesem Aspekt.

Die ersten Demonstrationen waren gross und populär genug, dass man meinen konnte, hier habe man es mit einer Revolution vom Typus der sogenannten friedlichen Revolutionen zu tun. Auch als das Militär gegen die Demonstrationen eingesetzt worden war, schien sich das noch nicht zu ändern. Das Militär, grösstenteils aus Wehrpflichtigen zusammengesetzt, tat das, was z.B. Engels von einem solchen Militär für den günstigsten Fall erwartete, und wechselte zum grössten Teil sofort die Seiten oder lief auseinander.

Das Regime hatte aber für diesen Fall seit 1982 vorgesorgt, es hatte spezielle Einheiten aufgebaut, die rekrutiert waren aus den Angehörigen der Minderheitsreligionen, die das Regime in grosser Furcht vor der sunnitischen Mehrheit zu halten gewusst hatte. Diese Kerne der Armee blieben funktionsfähig, und die Reste der übrigen Einheiten liess sich einstweilen um diese gruppieren und zusammenhalten. Das Regime tat dann aber etwas, das angeblich niemand jemals in so einer Situation tun würde. Es begann, mit dem reduzierten Kern seiner Armee gerade die Arbeiterwohngegenden, die naturgemäss vorwiegend sunnitisch waren, zu beschiessen. Es radikalisierte die Revolution, von der Konterrevolution aus.

Zu diesem Zeitpunkt war keine andere organisierte politische Kraft militärisch handlungsfähig; weder „die Revolution“, wer immer das sein sollte, noch irgendeine der Parteien, auch nicht die islamistischen gleich welcher Richtung. Die Auseinandersetzung hatte noch nicht einmal angefangen. Zu dieser Zeit waren die revolutionären Kommittees noch meistens gar nicht gegründet, die später in vielen Orten entstanden sind; diejenigen lokalen Organe der Gesellschaft in Revolution, von deren blosser Existenz unsre bürgerliche Öffentlichkeit bis heute nie etwas gehört hat, und auch ihr Wurmfortsatz nicht, die sogenannte Linke.

Auch die desertierten Soldaten aus der auseinandergefallnen Armee begannen nun erst, unter dem Schock der ungeheuren Ereignisse, sich neu zu organisieren, nämlich in lokalen Verteidigunskräften. Damit beginnt natürlich dasjenige, was man die Militarisierung der Revolution genannt hat. Aber die Dynamik, die dieser Vorgang angenommen hat, kommt eigentlich daher, dass die Revolution in einem bestimmten Sinne sich nicht militarisiert hat und auch sich nicht militarisieren kann.

Es ist oft die Frage gestellt worden, was die lokalen Organe der Revolution daran gehindert hat, sich zu einer effektiven Koordination zusammenzutun. Meistens wird getan, als ob das Dazwischentreten der vorrevolutionären Exilparteien, des sogenannten syrischen Nationalkongresses usw. dazu hingereicht hat. Es ist allerdings dann unerklärlich, was diesem disfunktionalen Haufen von Politikanten eigentlich befähigt hat, sich diese Rolle anzumassen.

Die lokalen Kommittees haben das Problem der Einheit nicht lösen können, weil sie das Problem der militärischen Gewalt nicht haben lösen können. Die bewaffneten Kräfte waren nicht von den lokalen Kommittees aufgestellt, unterhalten und befehligt; ob dazu die Mittel fehlten, oder ob gerade die Furcht vor der Militarisierung den Ausschlag gegeben hat, ist nicht eindeutig zu sagen. Die bewaffneten Kräfte waren daher auch keiner Stelle wirklich Rechenschaft schuldig. Und es war gerade in dem Milieu dieser Milizen, dass die verschiednen Parteien militärische Gestalt und politische Macht gewonnen haben; nach nicht langer Zeit hauptsächlich die islamistischen, deren ganze Richtung zu der Revolution der lokalen Kommittees im grössten möglichen Gegensatz steht. Aber die Dynamik war auch in den kurdischen, drusischen und selbst christlichen und alawitischen Orten keine andere; für oder gegen das Regime, überall ist die wirkliche Macht in die Hände regionaler Milizen gefallen, die der einen oder der anderen Partei, der PKK oder der SSNP oder der Hezbollah angeschlossen sind.

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Aber es ist gar nicht ausgeschlossen, dass das Problem der militärischen Gewalt für die Revolution an sich gar nicht lösbar ist. In diesem Fall müsste jede Revolution notwendig dasselbe Schicksal haben, sofern ihr Feind nur skrupellos genug ist und sofern er sich auf einen bestimmten Teil der Gesellschaft überhaupt noch stützen kann. Denn das syrische Regime hatte die militärische Gewalt am Anfang gar nicht benutzt, um die abgefallenen Städte wiederzuerobern. Das war, wie sich herausstellte, für die Niederlage der Revolution auch nicht nötig. Es hatte lediglich die revolutionäre Koordination unmöglich zu machen, indem es der Reihe nach einzelne Gegenden angriff; und zwar reichte dazu für den Anfang Beschuss und Bombardierung.

Diese Art des Angriffs bringt die Revolution in die ausweglose Lage, entweder ihre Ohnmacht zu erklären, indem sie ihre eigenen Leute schutzlos im Stich lässt; oder aber einen Kampf anzunehmen und zu führen, den sie nicht leiten kann. Denn die Entscheidung, den einen Ort zu verteidigen, entblösst mit Notwendigkeit einen anderen; strategische Entscheidungen dieser Art aber kann eine Organisation, die aus lokalen Kommittees besteht, nicht treffen, und wenn sie begänne, sie zu treffen, würde sie in die Brüche gehen. Nur politische Entitäten derselben Art, wie Staaten es sind, können solche Entscheidungen treffen; und eine Organisation, die einmal beginnt, zu entscheiden, wer lebt und wer stirbt, verwandelt sich durch eigenes Gesetz in eine solche.

Das Regime provozierte mit seiner Taktik die Revolution bewusst dazu, entweder die militärische Gewalt ganz aus der Hand zu geben, oder aber an der militärischen Frage von innen her zu Grunde zu gehen und sich selbst in dasjenige bewaffnete menschenfressende Ungeheuer zu verwandeln, als das die Regimepropaganda die Revolution immer gezeichnet hatte. Die Entscheidung, den Kampf nicht anzunehmen, führt aus dem Dilemma nicht hinaus; dann nehmen ihn eben andere an, mit demselben oder einem schlimmeren Ergebnis.

Oder wäre noch eine andere Möglichkeit denkbar gewesen? Betrachten wir den revolutionären Krieg einmal militär-strategisch. Die Begriffe der Militärstrategie werden gewöhnlich nicht in ihrem Zusammenhang mit denen der Staatslehre oder Gesellschaftstheorie gesehen; aber Clausewitz, der als erster ihnen eine wissenschaftliche Form zu geben unternommen hat, lässt an mehreren Stellen gar keinen Zweifel daran, dass sie ohne diesen Zusammenhang systematisch gar nicht verstanden werden können.

Mich interessieren zunächst seine Begriffe von Angriff und Verteidigung. Die Verteidigung, schreibt er, ist an sich die stärkere Form der Kriegführung, weil sie einen nur negativen Zweck hat: dem Feind das Erreichen seines Ziels zu verweigern. Der Angriff dagegen ist auf das Erobern gerichtet, und deswegen an sich eine schwächere Form, da ihm alle bestehenden Umstände entgegenstehen, während sie für die Verteidigung unterstützend wirken.

Diese Begriffe scheinen konterintuitiv, und sie sind insbesondere in der seitherigen Kriegswissenschaft hart kritisiert worden (z.B. Johann Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, 2011). Die Kritik läuft freilich darauf hinaus, Beispiele aus der Militärgeschichte zu nehmen, an denen unklar wird, welche der beiden Kriegsparteien den Angriff, welche die Verteidigung repräsentiert. Das entscheidet sich ja nicht durch das äussere Geschehen, sondern, sagt Clausewitz, durch den „Zweck“, und dieser Zweck ist kein rein militärischer, sondern ein politisch-militärischer.

Überhaupt hat Clausewitz keine selbständige Militärtheorie gegeben, sondern eine ununterscheidbar politisch-militärische Theorie, und er behauptet gerade das, dass eine andere nicht bestehen könne; denn die Erkenntnis setzt eine Einheit des Gegenstands voraus. „Diese Einheit nun ist der Begriff, daß der Krieg nur ein Teil des politischen Verkehrs sei, also durchaus nichts Selbständiges“; scheinbar im Gegensatz dazu heisst es aber ein paar Zeilen später: der Krieg selbst hat dennoch Eigengesetzlichkeit gegenüber der Politik, kann eigenständig erkannt werden, nämlich in „seiner absoluten Gestalt“, als von aller politischen Rücksicht entgrenzt.

„Nur durch diese Vorstellungsart wird der Krieg wieder zur Einheit, nur mit ihr kann man alle Kriege als Dinge einer Art betrachten“; man kann mit dieser Begriffsbestimmung eigentlich gar nichts anfangen, und mit der scheinbar gegensätzlichen Bestimmung einige Zeilen davor, wenn man vorhat, das Staatsleben keineswegs als eine einzige Schädelstätte zu betrachten. Der Krieg ist dem Staat nichts äusserliches, der Staat ist vom Kriege her bestimmt. Clausewitz‘ Lehre ist ein Beitrag zur Aufklärung darüber, wie die Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft in den §§ 321-329 von Hegels Staatsrecht wirklich gedacht ist: „Die Vermittlung also existiert allerdings, nicht jedoch als Versöhnung, sondern als Tod, in der bedingungslosen Pflicht zum Töten und zum Opfer“ (Jochen Bruhn).

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Clausewitz‘ Begriffe sind aus dem französischen Revolutionskrieg entstanden, insbesondere sein Begriff vom „absoluten Krieg“; dieser, die äusserste und reinste Form, in der der Krieg alles gesellschaftliche Leben seiner Logik unterwirft, ist, sagt er, die der modernen Staatsform eigene Form des Kriegs. Wo der Staat nicht mehr die Sache des Fürsten ist, sondern die politische Form des „Volks“, muss das auch für den Krieg gelten.

Was aber geschieht mit seinen Begriffen, wenn der Krieg nicht mehr auf beiden Seiten von einem Staat geführt wird? Wie lassen sich ein Krieg wie der syrische in diesen beschreiben? Beginnen wir damit, zu fragen, welche Seite eigentlich den Angriff repräsentiert. Nach dem politischen wie dem militärischen Geschehen ist es die syrische Regierung. Ist dann also nicht die Revolution, in der Position der Verteidigung, zunächst in einem Vorteil? Nach Clausewitz läge dieser Gedanke nahe, und es bedürfte der Kenntnis dieses Vorteils, um ihn richtig zu nutzen. Wohlgemerkt ist dieser Vorteil vorerst ein rein hypothetischer, und seine Existenz müsste erst erwiesen werden.

Clausewitz hat eine Kapitel über den sogenannten „Volkskrieg“, den er aber hauptsächlich als der regulären Armee nebengeordnet betrachtet. Die Präsenz der irregulären Truppen in feindlich besetztem Land soll Kräfte der Besatzungsarmee binden, ohne es auf eine entscheidende Schlacht je anzulegen. „Sie zerstört wie eine still fortschwelende Glut die Grundfesten des feindlichen Heeres. Da sie zu ihren Erfolgen Zeit braucht, so entsteht, während beide Elemente so aufeinander wirken, ein Zustand der Spannung, die sich entweder nach und nach löst, wenn der Volkskrieg an einzelnen Stellen erstickt wird und an anderen langsam erlischt, oder die zu einer Krise führt, wenn die Flammen dieses allgemeinen Brandes über das feindliche Heer zusammenschlagen und es nötigen, das Land vor eigenem gänzlichen Untergange zu räumen.“

In diesem Fall ist aber die angreifende Kriegspartei kein auswärtiger Invasor, sondern das eigene Regime; es hat nicht die Option des Rückzugs, sein Kriegszweck ist vielmehr gerade, seinen Herrschaftsanspruch im Land durchzusetzen. Umgekehrt hat die Opposition keine Rückendeckung durch eine reguläre Armee, die einen entscheidenden Hauptstoss führen soll. „Daß diese Krisis durch den bloßen Volkskrieg herbeigeführt werden sollte, setzt entweder eine solche Oberfläche des eingenommenen Reiches voraus, wie außer Rußland kein europäischer Staat sie hat, oder ein Mißverhältnis zwischen der einfallenden Armee und der Oberfläche des Landes, wie es in der Wirklichkeit nicht vorkommt. Will man also kein Phantom verfolgen, so muß man sich den Volkskrieg in Verbindung mit dem Kriege eines stehenden Heeres denken und beide durch einen das Ganze umfassenden Plan geeinigt.“

Aber auch diesen umfassenden Plan gibt es nicht. Oder vielmehr es handelt sich um eine Situation, wo die Gesellschaft in Revolution das Problem der Koordination noch erst beginnen muss zu lösen. Umgekehrt gibt es einen gewissen Vorteil, dass nämlich das Missverhältnis zwischen der Armee und dem Land in der Tat grösser sein kann als in einem regulären Krieg.

„Nach unserer Vorstellung vom Volkskriege muß er wie ein nebel- und wolkenartiges Wesen sich nirgends zu einen widerstehenden Körper konkreszieren, sonst richtet der Feind eine angemessene Kraft auf diesen Kern, zerstört ihn und macht eine große Menge Gefangene; dann sinkt der Mut, alles glaubt, die Hauptfrage sei entschieden, ein weiteres Bemühen vergeblich, und die Waffen fallen dem Volke aus den Händen. Von der anderen Seite aber ist es dennoch nötig, daß sich dieser Nebel an gewissen Punkten zu dichteren Massen zusammenziehe und drohende Wolken bilde, aus denen einmal ein kräftiger Blitzstrahl herausfahren kann.“

Kann vielleicht diese amorphe Art der Kriegführung gerade einer Gesellschaft in Revolution angemessen sein? In der ersten Phase des syrischen Krieges haben wir gesehen, dass dem Regime der grösste Teil des Landes wirklich entglitten ist. Es hat aber danach durch Hilfe Russlands und des Irans der Reihe nach beinahe alle grösseren Städte durch Einschliessung, Beschiessung und Aushungerung wiedererobern können. Jedes Regime der Welt würde unter ähnlichen Umständen ähnliche Unterstützung finden, und jedes würde den letzten Rest von nationaler Unabhängigkeit dafür ohne Zögern auch verkaufen.

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Das merkwürdige aber ist, dass die Revolution aus der ersten Phase, in der die Streitkräfte des Regimes immer mehr zurückfallen, dennoch nicht stärker hervorgeht, sondern zur Unkenntlichkeit beschädigt. Es ist in dieser Zeit, dass die grösseren islamistischen Verbände entstanden sind; diese, und nicht die lokalen Kommittees, bestimmen zunehmend den Gang der Dinge.

Jeder Angriff hat, sagt Clausewitz, einen Kulminationspunkt. Die Kräfte des Angreifers nehmen während des Feldzuges schneller ab, als die der Verteidiger; das ist übrigens der ganze sachliche Sinn seiner Bestimmung der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegs. Der Angriff wird nur dann unternommen werden, wenn der Angreifer genügend stärkere Kräfte hat, um den Nachteil seiner Position auszugleichen.

„Wie kein Verteidigungsfeldzug aus bloßen Verteidigungselementen zusammengesetzt ist, so besteht auch kein Angriffsfeldzug aus lauter Angriffselementen, weil außer den kurzen Zwischenperioden eines jeden Feldzuges, in welchen beide Heere sich in der Verteidigung befinden, jeder Angriff, der nicht bis zum Frieden reicht, notwendig mit einer Verteidigung endigen muß. Auf diese Weise ist es die Verteidigung selbst, welche zur Schwächung des Angriffs beiträgt.“

Es tritt der Punkt ein, an dem der anfängliche Vorteil des Angreifers aufhört, eben der Kulminationspunkt. „Ist die Verteidigung eine stärkere Form des Kriegführens, die aber einen negativen Zweck hat, so folgt von selbst, daß man sich ihrer nur solange bedienen muß, als man sie der Schwäche wegen bedarf, und sie verlassen muß, sobald man stark genug ist, sich den positiven Zweck vorzusetzen. Ein Krieg, bei dem man seine Siege bloß zum Abwehren benutzen, gar nicht widerstoßen wollte, wäre ebenso widersinnig als eine Schlacht, in der die absoluteste Verteidigung (Passivität) in allen Maßregeln herrschen sollte.“

Der Angreifer muss nach dem Kulminationspunkt vorwiegend zur Verteidigung übergehen, der Verteidiger aber zum Angriff. Was ist, wenn er seiner eigenen Konstitution nach unfähig ist, einen solchen zu führen? Wenn er also über das Abwehren nicht hinaus kann oder will? Nun, dann nehmen andere den liegengelassenen Vorteil auf; und zwar notwendig diejenigen Organisationen, die zu einer einheitlichen Führung in der Lage sind.

So ist es, und das sagt Clausewitz selbst, durchaus möglich, dass ein rein abwehrender Krieg geführt und sogar zum Kulminationspunkt des Siegs gebracht werden kann. Eine strategische Option für die Revolution wird deshalb daraus nicht, im Gegenteil. Sie riskiert, dass sie sich einen Feind hochzüchtet, der ihr den teuer erkauften Sieg abnimmt, die Herrschaft über sie erringt, und das auch noch in ihrem eignen Namen. Im Grunde sind auch die Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg auf keine andere Weise an die Macht gekommen.

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Der Verlauf der Revolution und ihrer Niederlage sind also anscheinend vorgezeichnet für alle Zukunft, und Besserung wird nicht eintreten, es sei denn, es zeigt sich auf welche Weise auch immer ein Mittel, um das Koordinationsproblem der Gesellschaft zu lösen. Aber auch davon abgesehen kann das revolutionäre Gemeinwesen niemals bewaffnete Gewalt zulassen ausserhalb der Einrichtungen des Gemeinwesens selbst. Keine einzelne Partei, keine Organisation ausser das revolutionäre Gemeinwesen hat das Recht der Gewalt. Die Gewalt ist in der Tat ein Übel, und sie bringt nicht den Sieg, sondern die Niederlage. Das revolutionäre Gemeinwesen wird gerade deswegen eine Wehrverfassung benötigen, die die unruhigen jungen Männer beschäftigt, die Gewalt zwischen Katastrophenschutz und Zivilverteidigung fest einbindet und nicht aus der Hand gibt; oder aber es wird nicht bestehen bleiben.

Die Möglichkeit, mit der Gewalt der Waffen die Oberhand zu eringen, gibt es nur für die Regime und für diejenigen Organisationen, die Regime im Wartestand genannt werden können. Für die Revolution ist das äusserste, was militärisch erreicht werden kann, die Verteidigung, d.h. die Ermüdung und Abnutzung der konterrevolutionären Gewalt; und selbst diese nur, wenn sie ein Gemeinwesen wirklich hervorbringt, eines, das in der Lage ist, den eventuellen Sieg zu nutzen; das ist aber keine militärische Frage mehr. Sondern das kann nur eine Gesellschaft sein, deren Einrichtungen ihr selbst transparent, das heisst „durchsichtig vernünftig“ sind, wovon wir an anderer Stelle geprochen haben; die eines Staates nicht mehr bedarf und nicht besonderer Parteien. Keine bloss politische Revolution, die in einem parlamentarisches Mehrparteiensystem in einem herkömmlichen Staat ausgeht, so demokratisch oder liberal wie auch immer; ob die bloss politische Revolution die soziale befördern helfen kann, ist eine eigene Frage.

Eine solche Veränderung kann sich unter den heute herrschenden Umständen nicht mit einem Schlage durchsetzen, sondern sie wird selbst, wo sie beginnt, immer wieder gewaltsam zurückgeworfen werden. Noch mehr, sie wird überhaupt keine Perspektive haben, soweit und solange der gegenwärtige Zustand Macht hat. Sogar vorstellbar ist sie nur unter der Perspektive einer sich lange hinziehenden Krise dieses Zustands, in dessen Bruchlinien sie ihre ersten Schritte tut; einer Krise, die allerdings, wenn man aus dem bisherigen Verlauf Schlüsse ziehen kann, die Form eines hundertjährigen Revolutionskriegs annehmen kann, der kaum erst begonnen hat, und vom dem man nicht sagen kann, was er am Ende übriglassen wird.

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