Dienstag, 10.12. Würzburg: 1336 Tage

Am Dienstag, dem 10. Dezember um 19.00 Uhr gibts den Film „1336 Tage. Höhen, Tiefen, aber immer aufrecht“ im Anno Domini in Würzburg (Nebenzimmer) zu sehen.

Sie haben es geschafft! Sie haben ihre Fabrik übernommen: die Teefabrik vor den Toren Marseilles wird jetzt in Selbstverwaltung betrieben. Seit September 2015 sind die Packungen der Marke „1336“ in den Regalen französischer Supermärkte zu finden.

Nach mehr als drei kämpferischen Jahren, haben die 76 verbleibenden Arbeiter_Innen von Fralib im Mai 2014 den Konflikt mit dem Lebensmittel-Multi Unilever beendet und eine Genossenschaft gegründet: die Scop-ti. Sie übernehmen die Fabrik, die Maschinen und 20 Mio. Euro Startkapital: „Wir haben gegen einen Konzern gekämpft! Nein, keinen Konzern, wir kämpften gegen die Welt. Das Kapital, das ist die Welt heute. Und wenn wir in Gémenos dieser Scheißwelt was Gutes tun können, da bin ich dabei! Ob ich gewinne oder verliere!“

In seinem Film lässt Claude Hirsch die bewegten Geschehnisse Revue passieren, die zu diesem Sieg führten: Fabrikbesetzungen, politischer Druck, Zusammenhalt.

Der Film „1336 Tage“ ist Teil 2 der Fralib-Saga, der erste Teil (hier auf labournet.tv) begleitete die kämpferischen Arbeiter_Innen vom Schließungsbeschluss 2010 bis zum Herbst 2011. Übrigens, die SCOP „Fabrique du Sud“ führt die im Film erwähnte Eisfabrik „Pilpa“ weiter (siehe hier auf labournet.tv).

Artikel zu dem Konflikt finden sich hier auf labournet.de, und die Webseite der Arbeiterproduktivgenossenschaft SCOP-TI hier.

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News unterm Radar IX

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Im 1011. Tag des dreitägigen militärischen Vorstoßes der russischen Streitkräfte nach Kyiv passieren interessante Sachen. Halten wir sie kurz unter dem Vorbehalt fest, dass sie über Nacht bereits ganz anders sind. So was ist bekanntlich arg undankbar.

Am 21. November hat Russland die Produktionshallen von „Juschmasch“ in Dnipro mit einer Mittelstreckenrakete des Typs „Oreschnik“ angegriffen. So eine Rakete wird von Russland zum ersten Mal seit 36 Jahren eingesetzt. Der Einsatz hat allerdings weder die gegnerische Seite noch die eigenen Gefolgschaft beeindruckt: so neuartig ist die Rakete nicht, sondern aus den älteren Modellen zusammengebaut, vielmehr sind es die Satellitenbilder der vermeintlichen Schäden von „Juschmasch“, die beide Seiten „enttäuschten“. (Tief beeindruckt war anscheinend nur Scholz). Der chronisch fehlinformierte Putin spricht bereits von „Spaltung in Elementarteilchen“ und davon, dass bereits „der kinetische Einschlag gewaltig wie ein Meteoriteneinschlag“ sei und dass neue Angriffe auf Kyiv erfolgen könnten. Die Warnung ist jedenfalls ernst zu nehmen, immerhin konnte die ukrainische Luftabwehr die „Oreschnik“ nicht abfangen. Wie es im besser verteidigten Kyiv aussehen würde, würde mal lieber gar nicht herausfinden wollen, wird es aber eines Tagen tun müssen. Weiterlesen

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Von der Transnationalisierung des Staatsvorfelds

(aus dem Heft #20, das man nun online einsehen kann)

Um an die Kritik des «Anarcho-Liberalismus» (1) anzuschließen, aus der leider nichts geworden ist: solche Leute sind mir früh genug, noch vor fünfzehn oder zwölf Jahren begegnet. Bekanntlich ist die «radikale» Linke überdurchschnittlich anfällig für Freaks, Junkies und Devianten aller Art, aber diesmal waren es meist studierte Leute, die zwar oberflächlich den ganzen linksradikalen Jargon beherrschten, aber nicht wussten, wofür all die mittlerweile auch toten Formeln vom Klassenkampf, Gleichheit und Emanzipation standen; dafür kannten sie sich ganz gut mit dem «Tod des Subjekts», «Performativität» und allerlei «Identitäten» aus. Es wurde z.B. Verneigung vor allen denkbaren, obwohl nicht anwesenden Minoritäten verlangt, umso rücksichts- und respektloser wurde in den eigenen Kreisen herumgetrampelt. Und das Phänomen war nicht nur im ost/westdeutschen Kontext zu beobachten – auch im osteuropäischen. Auch dort gab es früh genug Manipulationen durch Schuldzuweisungen und Verleumdungen, damals noch vage Einübungen in virtue signalling und cancel culture, den Kampf um alle Sorten von Ressourcen bzw. soziales Kapital und Deutungshoheit. Das alles angesichts der gemeinsamen Gegner, die damals schon stark und gefährlich waren: 2012/13 waren die Auseinandersetzungen mit den Nazis oder mit der Behörde zur Extremismusbekämpfung in Russland nicht besonders spaßig. Kurzum, man hat sich früh genug in all den Szene-Spielchen eingeübt, die Jahre später die US-amerikanische BLM-Bewegung zugrunde gerichtet haben. (Mich verblüfft es noch immer, wie bei den «trained marxists» von ihrem «Marxismus» nur der bloße Machtkampf zwischen den ethnischen Gruppen übrigbleibt). Bloß in Osteuropa gab es weder nennenswerte Infrastruktur, um die man hätte kämpfen können, noch irgendeine dauerhafte soziale Bewegung von gesellschaftlicher Relevanz. 2000/2010er waren die Jahre der jugendlichen Subkulturen. Besonders machtgeile oder übergriffige Personen wurden größtenteils rechtzeitig in die Schranken gewiesen, schlimmstenfalls ins Gesicht gefistet und aus allen Zusammenhängen entfernt. Wer sich in anderen Subkulturen herumgetrieben hatte, weiß, dass es allgemein bei Jugendlichen der Brauch ist, subcultural businnes as usual. Klar, hier und da sind Punkclubs, Distros, Squats, freie Räume und Gemeinschaftskassen für z.B. Gefangene entstanden und genauso schnell wieder verschwunden, doch besonders förderlich für die Karrieren angehender BewegungsmanagerInnen waren sie nicht, weil sie nicht einmal in der Nähe zur Staatsideologie stehen (ganz im Gegenteil), weder in Bulgarien, noch in Belarus oder sonst wo. Wozu also der Aufwand und woher kommt das?

Zum Teil ist es ein Kargokult. Ein Wissens- und Kulturtransfer aus dem «Westen», wenn man will. Eine postmarxistische und/oder -anarchistische und post/decoloniale Diskursaufblähung, die zunehmende Verakademisierung der Linken (vor allem nach der Niederlage der Moskauer Proteste 2011/12), schleichende Moralisierung und Verpsychologisierung der Politik. Das, was sich für psychologische Selbstvorsoge für AktivistInnen ausgibt, dient öfters dazu, pseudofachmännisch dem Gegner und sich selbst eine Diagnose zu verpassen, zur Solidarität mit sich und zur Entsolidarisierung mit dem Gegner aufzufordern. Was will man tun? Auch das ist mittlerweile eine Zwischenstufe, die bereits passiert ist. Die Jugendlichen, die von und für TikTok und OnlyFans leben, verhalten sich und sehen gleich aus in Madrid, London, Kyjiv und Astana; andere Subkulturen globalisieren genauso. Die ukrainische Linke ist letztens aus allseitsbekannten Gründen Anfang 2022 aus allen Wolken gefallen, die russische ist z.T. immer noch so, obwohl irgendwo im Exil sitzend… Weiterlesen

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Über den Nutzen des Staates

1. Der Staat als Befreier ist eine Illusion immer gewesen, die Befreiung in den Staat hinein ist bürgerliche Utopie. Die Notwendigkeit, über den Staat hinaus zu kommen, ist unter den Radikalen auch der Alten Revolution nie ganz vergessen worden. Es hat sich aber kein Weg gefunden, weil die Grundlagen der Gesellschaft nicht angetastet wurden, die des Staats bedarf: das Vaterrecht an der Familie, und das private Eigentum.

Anmerkung. „Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören“. Aus diesen Zeilen spricht ehrliche Naivetät. Der Staat behandelt die Menschen als sein Material. Die neueren Bürgerkriege geben einen Aufschluss darüber. Das Entsetzen darüber wird heute kaum angemessen zum Ausdruck gebracht, und wenn, dann in doktrinaler Verzerrung. Gelogen wird heute aber meistens durch Weglassen.

2. Die klassenlose Gesellschaft ist eigentlich im Staat unmöglich, der Staatskommunismus nichts als die vollendete Negation des einzelnen Menschen. Er ist selbst eine auf die Spitze getriebne Form der bürgerlichen Utopie, oder sogar einer älteren, die so alt sein mag wie der Staat selbst.

3. In der Arbeiterbewegung sind wirklich Formen gefunden worden, die über den Staat hinausweisen, und zwar von dem Flügel, der sein Heil nicht mehr vom Staat erwartet.

Anmerkung.
Für die Arbeiterbewegung vor der Sozialdemokratie ist der Schlachtruf der Lyoner Arbeiter von 1831: „Arbeitend leben oder kämpfend sterben!“ genauso relevant wie die Prinzipien der Pioniere von Rochdale 1842. Sie lebt und stirbt auf dem Grat zwischen Umsturz und Selbsthilfe. In dieser der offiziellen Linken völlig unleserlichen Geschichte ist ein genaueres Wissen davon zu finden, was die Gesellschaft ist und wie sie anders werden soll, als in allen theoretischen Arbeiten. Wiederentdeckt werden kann sie nur von ihresgleichen.

4. Die Revolutionen nach 1917 hatten als ihren unmittelbaren Gegenstand den Übergang zum modernen Staat. Dieser Satz bedeutet nichts anderes, als dass alle Revolutionen als Arbeiterrevolutionen gescheitert sind. In keinem Land, in dem dieser Übergang schon vollzogen war, hat es je eine erfolgreiche Revolution dieses Typs gegeben; aber genug Anläufe, dass man die Richtung kennen kann.

5. Spätestens seit 1968 ist die Idee der Befreiung in den Staat hinein bankrott. Keine revolutionäre Partei hat sie je wieder vermocht in den Dienst zu nehmen. Wo es versucht worden ist, ist es zu Zwecken der Konterrevolution versucht worden.

6. Die Frage, wie man über den Staat hinaus kommt, stellt sich heute unmittelbar; nicht wegen der Stärke der revolutionären Idee, sondern wegen ihrer Schwäche und wegen des Fehlens jeder anderen Perspektive.

7. Damit ist der Staat aber noch nicht am Ende. Im Gegenteil führt er ein anderes, zweites Leben. Die Staatenlosigkeit, die Schutzlosigkeit des nackten Lebens, tritt grell dort hervor, wo ein Staat nicht besteht. Weiterlesen

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Über „Identitätspolitik“

1. Wir benutzen das Wort „Identitätspolitik“ nicht gerne, weil wir nicht genau wissen, was es bedeutet. Das liegt nur zur Hälfte an unserem erschreckenden Mangel an Bildung. Zur anderen Hälfte liegt es daran, dass es niemandem gelungen ist, amtlich zu erklären, was es bedeuten soll; namentlich unter denjenigen, die sich für Identitätspolitik erklären.

„Identitätspolitik“ gehört zu den vielen Wörtern, die im politischen Denken der heutigen Gesellschaft herumflattern, die keine vernünftige Definition kennen, die alles bedeuten können und auch das Gegenteil, und die insgesamt eher zur Verwirrung beitragen als zur Klärung. Es ist vermutlich kein Zufall. Jeder Begriff, den diese Gesellschaft oder ihre Bestandteile zur Selbstbeschreibung verwendet, teilt diese Unklarheit.

Deswegen benutzen wir solche Begriffe nach Möglichkeit nicht. Das materialistische Wörterbuch hat bisher noch jedesmal genauere Begriffe angeboten, für deren Inhalt man sich nicht auf die Ehrlichkeit der Leute verlassen muss, die man mit ihnen bezeichnet. Ob diese materialistischen Begriffe richtig verwendet werden, erkennt man daran, dass sie Wirkung haben, d.h. Klarheit erzeugen, wo vorher keine war; und einen gegebenen Zustand als unhaltbar offenlegen, der vorher ertragen worden ist.

Falls dem Materialismus einmal solche Begriffe ausgehen, und erst dann, wird man ihn als widerlegt ansehen dürfen.

2. Was auch immer „Identitätspolitik“ einmal geheissen hat, in den letzten 10 bis 15 Jahren ist das Wort zu einem Anzeiger für das Denken einer verwalteten Welt geworden. Sie ist heute nirgendwo mehr eine Waffe in den Händen der Unterdrückten, sondern in den Händen derjenigen, die das Recht beanspruchen, zu entscheiden, wer reden darf und wer schweigen muss.

Niemand unter den Unterdrückten hat diese Macht. Wer ist denn unter den Unterdrückten ihre authentische Stimme? Sie werden ja nicht alle zufällig genau das gleiche denken. Es werden aber nicht alle gleichermassen gehört, sondern nur diejenigen, deren Stimmen Gehör verschafft wird. Von wem? Von denen, die diese Macht haben.

Nehmen wir die Palästinenser. Spricht die PFLP und ihr Umfeld, Samidoun usw., ingesamt der völkische Flügel der palästinensischen Linken für diese? Oder sind es eher Leute wie z.B. Hamza Howeidy? Diese Frage ist für einen Materialisten absurd, weil er nie auf den Gedanken käme, ihnen eine und nur eine Stimme zuzurechnen. Selbstverständlich gibt es verschiedene politische Linien in der palästinensischen Politik, und sie sind auf den Tod verfeindet wie überall sonst.

Für wen also ist dieser Gedanke nicht absurd, sondern sogar selbstverständlich? Für diejenigen, die beanspruchen, in ihrem Namen zu handeln, und die sich deshalb eine Vollmacht ausstellen lassen müssen. Sie müssen sich natürlich diejenigen heraussuchen, die bereit sind, ihnen diese Vollmacht zu erteilen. Die anderen sind natürlich Verrätesr, „tokens“, keine „echten“ Palästinenser, weil sie nicht denken und reden wie „echte“ Palästinenser.

Und das heisst nichts anderes als: man gesteht den Unterdrückten eine und genau eine Weise zu, was sie zu denken und wovon sie zu reden haben. Halten sie sich daran, werden sie immerhin gehört. Halten sie sich nicht daran, werden sie ignoriert. Es bedarf dazu gar keiner ausdrücklichen Entscheidung oder überhaupt einer aktiven Handlung, sie existieren einfach nicht, und was sie sagen, kommt nicht in Betracht.

Im Grunde geschieht hier, wenn auch nur auf der Ebene der Illusion, dasselbe, was imperiale Politik tut: für ein unterworfenes Gemeinwesen wird eine genehme Führung eingesetzt.

3. Tut „Identitätspolitik“ heute irgendwo etwas anderes? Gelegentlich müssen „Identitätsgruppen“ erst definiert werden, aber welche anerkannt werden, der Grad ihrer relativen Unterdrückung im Vergleich untereinander, und wer für sie spricht, das alles wird nicht von Unterdrückten entschieden, sondern von denen, die die Macht dazu haben. (1) Die Ausübung dieser Macht ist nichts anderes ist als eine Einmischung in die Willensbildung der Unterdrückten, und ihr Ziel ist jedesmal das gleiche, nämlich eine genehme Führung zu installieren.

Der Nutzen für die interpretierende und verwaltende Klasse ist gross. Er sichert ihnen ihre Legitimation, nämlich die Fortdauer ihres Anspruchs, jedes Übel der Gesellschaft und die Weise seiner Abhilfe bestimmen zu können.

Für die Gesellschaft insgesamt und für die gesellschaftliche Bewegung läuft die Fortdauer dieses Zustands darauf hinaus, den unterdrückten Klassen jede Möglichkeit der Selbstbestimmung zu nehmen. Alle ihre Belange werden bisher von den interpretierenden Klassen verwaltet, d.h, bewirtschaftet. Die interpretierende Klasse hat an einer Veränderung nicht das geringste Interesse. Je weniger sie in der Lage ist, die Probleme auch nur zu verwalten, desto aggressiver muss sie reagieren auch nur auf den Versuch, sie ihnen aus den Händen zu nehmen.

Was also in jedem Falle in Grund und Boden verwaltet werden muss, ist jede Art des nicht vorschriftsmässigen Denkens unter den Unterdrückten.

„Identitätspolitik“ ist heute die Form, in der die verwaltete Welt gegen unvorhergesehene Gedanken vorgeht. Sie ist daher beliebt bei den verwaltenden Klassen und denen, die es gerne wären, bis hinunter zu den Bewegungsbürokraten und den Ein-Mann-Zentralkomittees, d.h. den „linken“ Intellektuellen.

Sie haben die Welt gern übersichtlich. Was wahr und was falsch ist, ist ihnen im Kern egal, so wie es dem Verwaltungsvollzug von je her gleichgültig gewesen ist.

Alle zusammen wachen sie über die am weitesten vorgeschobene Befestigung des Feinds, das vorschriftsmässige Denken. Diese Befestigung muss und wird umgangen werden, erst dann werden andere Dinge möglich sein.

Anmerkungen

1
Sie streiten es natürlich ab. Sie werden sagen: nein, im Gegenteil jede unterdrückte Gruppe entscheidet über die Umstände ihres Kampfes selbst, und was eine unterdrückte Gruppe ist, weiss nur die unterdrückte Gruppe selbst. Diese Sätze sind völlig zutreffend, indem sie den historischen Prozess, beschreiben, der bekanntlich in Abwesenheit eines Schiedsrichters abläuft. Dass sie es aber nicht so meinen, zeigt sich, wenn man sie bittet, diese Sätze auf den Zionismus anzuwenden.

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„Brenn“ Vorauflage

Das Magazin für aufrührerische Dichtung „B’renn“ hat seine Vorauflage zur ersten Ausgabe herausgebracht. Sie wird an Interessierte verschickt mit der Gelegenheit, Kommentare anzubringen, die in der endgültigen Auflage mit abgedruckt werden sollen.

Interessierte melden sich über die üblichen toten Briefkästen oder über das Thier.

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Aufruf: Zeitschrift für aufrührerische Dichtung

Aus dem letzten Heft:

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Too bad, no magic, I’m afraid you’re really tragic

Ein anderes ÄUßERST wichtiges Thema, welches praktisch direkt nach den Befindlichkeiten der bereitwillig zum Staatsvorfeld degradierten ostdeutschen radikalen Linken nach den thüringischen und sächsischen Landtagswahlen kommt, ist ein aufgetauchtes Diskussionspapier der britischen Anarchisten zum Thema Szenevereinnahmung durch den sog. Queeraktivismus.

The turf war zone / the new offence

Shit wigs and steroids

Vor allem der Name „The new offence“ hat etwas unwiderstehlich sympathisches in sich. Wir haben uns schon gefragt, was aus dem Pamphlet gegen den Anarcho-Liberalismus aus dem Jahr 2018 geworden ist. Nun, hier ist es offensichtlich, das Argumentationsniveau ist erwartbar niedrig: wir sind die Arbeiterklasse und ihr seid wahlweise cocks in frocks oder soft cunts aus den Großstadtbüros. Es ist unbestreitbar billig, wenigstens bei der Bezeichnung der Opponent*Innen hätte man sich festlegen können. Wie auch immer, that‘s the spirit right now. Fühlt sich jemand berufen, es besser zu machen, macht es bitte, es ist längst Zeit!

spf

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Jan Wacław Machajskis „Sozialismus und Intelligenz“

Droogs, meine Wenigkeit ist immer noch der Meinung, dass unsereiner besser und klüger über Jan Wacław Machajski (1866-1926) reden und schreiben können, dass er vor allem besseres verdient hätte als solche, jeglicher Kritik am Antiintellektualismus spottende „Nachrufe“ wie bei der „konkret“. Vielleicht tun wir das mal bei Gelegenheit. Lasst euch aber auch von Wikipedia keinen Scheiß erzählen, ein Anarchist war er nicht, er kam aus der Josef Pilsudskis Polnischen Sozialistischen Partei.

Die einzig diskutable Scherbentheorie m.E. wäre eine, die einen marxistischen Antimarxismus, einen anarchistischen Antiannarchismus und einen intellektuellen Antiintellektualismus zusammenführt. Kann sein, dass uns Machajski unter Umständen dahin verhelfen könnte. Nicht, dass ich an dieser Stelle zu pol-pot‘scher old ultraviolence gegen bücherlesende und brillentragende Menschen, aber… es finden sich in der Anarcho-Bibliothek die beiden 2008 übersetzen Kapitel aus „Der geistige Arbeiter“.

https://anarchistischebibliothek.org/library/jan-waclaw-machajski-sozialismus-und-intelligenz

Und nun, droogs, noch eine Kleinigkeit. Für meine Begriffe fehlt uns allen, um etwas glücklicher zu werden, der II. Teil von „Der geistige Arbeiter“ – eben der Teil mit marxologischer Kritik an staatskapitalistischen Auffassungen von Rodbertus und Marx selbst; auf den ersten Teil über die Evolution der deutschen (und ein bisschen der polnischen) Sozialdemokratie und die erste Abteilung des dritten Teils, wo es explizit um die russischen Sozialdemokraten (in erster Linie Plechanow – für Lenin war es damals noch zu früh, aber auch der Kropotkinkreis bekommt sein Fett weg, keine Sorge) geht, kann man m.E. heute getrost verzichten. Vielleicht würde es das Gesamtwerk Machajskis seines wichtigen Hintergrundes berauben: der damalige Streit zwischen allen möglichen revolutionären Richtungen ging darum, ob in Russland der Sozialismus ohne eine umfassende vorhergehende kapitalistische Modernisierung überhaupt gelingen kann. Plechanow sagt das, Kropotkin sagte dies, Machajski war der Meinung, dass sie auf die jeweils unterschiedliche Weise dasselbe sagten: Nein, kann nicht, aber nur wir kennen den besseren Weg (nur für uns, versteht sich). So viel sei an dieser Stelle verraten. Aber ist es wichtig, droogs, will das jemand lesen?

Also, die Hälfte des Jobs ist erledigt. Wer kann und traut sich, die andere, weit schwierigere, weil marxologische Hälfte anzugehen?

-spf

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Würzburg 10.9.: Clemens Schimmele

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Eine Anmerkung zum Begriff des Ekels

[Hmm, ein etwas in Vergessenheit gefallenes Artikelchen aus dem Heft#11, 2016. Da die Anlässe dazu immer noch gegebn sind, wird es hier nachgeschmissen in der Hoffnung, das der Autor nichts dagegen hat. Enjoy. – das GT]

von David Ricard

„Donald Trump, der skurrile Liebling der Hardcore-Republikaner, könnte mit seinen ekligen Parolen locker bei Pegida mitmarschieren.“

— Jörg Quoos, Berliner Morgenpost, 25.10.2105

„Die Bürger würden ein strengeres Vorgehen indes befürworten: ’Es ist eklig, wenn die Straßen voll von Zigarettenstummeln sind‘, beschwert sich die 18-jährige Katharina Rüderbei einer LN-Umfrage in Lübeck.“

— ln-online.de, 7.10.2015

„Sie sind eklig zu bespielen, ein unangenehmer Gegner. Es wird ein Kampfspiel werden.“

— liga3-online.de, 23.10.2015

Völlig verschiedene Szenen. Einmal rümpft sich Jörg Quoos über Donald Trump die Nase und gibt zu verstehen, dass seine Parolen so eklig seien das er bei Pegida sich einreihen könnte.* Eine 18-jährige beschwert sich über weggeworfene Zigarettenstummel auf der Straße, sie empfindet diese als eklig. Ein Fußballspieler rechtfertigt einen harten Zweikampf, nennt ihn eklig. Völlig beliebige Situationen, die nur eint den Ekel vor etwas zu empfinden.

Was ist denn überhaupt eklig? Oder besser: Was kann überhaupt Ekel hervorrufen? Scheinbar kann der Ekel an beliebig vielen Objekten erfahren werden. Man findet Neonazis so eklig wie man als Kind Gemüse eklig fand. Es fällt auf, dass den Ekel immer noch etwas anderes stillschweigend begleitet. Die Sache, die ein Ekel erzeugt, muss auch gebändigt werden. Der Fußballspieler weiß, wenn er sagt, dass es eklig wird, dass er durch den Schiedsrichter bestraft zu werden droht. Wenn sich die Frau über weggeworfene Zigarettenreste beschwert, fordert sie gleichzeitig höhere Bußgeldstrafen. Und wenn Jörg Quoos die Parolen eines Donald Trump eklig findet und ihn der Pegida-Bewegung zuordnet, dann weiß er, dass Pegida nicht restlos gesellschaftlichen Rückhalt genießt und möchte Trump diskreditieren.

Eine Sache eklig zu nennen, fordert also auch nach Strafe oder Züchtigung. Doch wer soll die Strafe eigentlich durchsetzen? Es ist auffällig, dass dabei gar keine Institution, so sinnfrei es ist, explizit angerufen wird. Trump soll der Mund verboten, auch sollen härtere Strafen gegen ’Umweltverschmutzer‘ gefunden werden. Weiterlesen

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Akkumulation und Krise

als Vorbereitung zu einem neuen Anlauf

1. Die materialistische Beschreibung der kapitalistischen Akkumulation hat zu ihrem Kernstück die Lehre von der Profitrate im dritten Band des Kapitals. Diese Beschreibung ist von den Marxisten so gut wie nicht rezipiert worden, sondern nach Belieben ergänzt, ersetzt oder zur Unkenntlichkeit verdorben, unter dem Vorwand, sie wäre unvollständig. Dabei ist sie so vollständig, wie man es sich nur wünschen kann; sie eignet sich nur nicht zu einer Herrschaftswissenschaft. Sie hat Grundannahmen, die nicht zu Unrecht als metaphysisch kritisiert worden sind; das heisst, ist „wahr“ nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen.

2. Die Marxisten haben die Untersuchung der kapitalistischen Preisform völlig missverstanden. Zum Beweis bezeichnen sie sie als „Transformation der Werte in Preise“. Hier transformiert sich in Wahrheit gar nichts, und weil sie das bemerken, haben sie sich neue Rechenmethoden ausgedacht, wie man diese Transformation trotzdem zuwege bekommt. Aber hier soll gar nichts transformieren, sondern hier soll gezeigt werden, was die kapitalistische Preisbildung mit der Ausbeutungsbeziehnung macht. Man stelle sich mehrere Sektoren der Ökonomie vor, die ihre Produkte gegeneinander austauschen. Sie unterscheiden sich nach dem Grad, in dem sie menschliche Arbeit durch Maschine ersetzen. Zuletzt berechnen sie ihre Preise, nach ihren Kosten plus der allgemeinen Profitrate. Daraus folgt zwingend: der höher maschinisierte Sektor eignet sich unter der Form des gewöhnlichen Profits einen Teil des Mehrwerts an, der im geringer maschinisierten Sektor erzeugt worden ist.

Anmerkung: Hierin ist in perspektivischer Verkürzung alles enthalten, was diese Produktionsweise ausmacht. Alle Marxologie, die an diesem Punkt achtlos vorbeigeht, ist in Metaphysik zurückgefallen. Umgekehrt ist der Versuch, diesem Raisonnement die Metaphysik auszutreiben, zum Positivismus verurteilt (siehe später über Sraffa). Der Anschein der Metaphysik kommt daher, dass die Materie gesellschaftlicher Herrschaft in die Formen der Ökonomie eingewickelt ist. Sie dort herauszuwickeln, ist eine grundlegend anti-metaphysische, d.h. materialistische Arbeit, zu der man die Probleme der Metaphysik allerdings verstehen und als elementar gesellschaftliche Fragen benennen können muss.

3. Ob diese Sätze „richtig“ sein können, hängt allein davon ab, ob den Begriffen Mehrwert, Wertgrösse, Wertsubstanz irgendeine „gegenständliche Realität zukommt.“ Hier liegt der Angelpunkt an der marxischen Lehre. Diese Begriffe sind nur andere Namen für das Wesen des Reichtum aller bisherigen Gesellschaft: Herrschaft über das gesellschaftliche Arbeit, d.h. über gesellschaftliche Praxis. „Ausbeuten und Herrschen sind ein- und dasselbe“ (Bakunin), der Hauptsatz an der Kritik der politischen Ökonomie und ihre ganze Pointe. Diese Pointe ist diese, dass der Gegenstand der ökonomischen Betrachtung selbst keine bloss ökonomische Tatsache ist, sondern eine gesellschaftliche. Wenn das nicht verstanden ist, bleibt vom Marxismus nur eins von beidem: entweder ein umständlicherer Weg zur Neoklassik, wie ihn z.B: Sraffa gegangen ist. Oder die mystische Annahme, dass die Bewegung der Waren beherrscht wird nicht einfach von ihren Preisen, sondern von einem obskuren System von „Wertgrössen“, die hinter den Preisen einerseits komplett verborgen sind, andererseits aber selbstständig wirkend neben sie treten. Diese Mystik ist längst der neoklassischen Kritik verfallen (Samuelson), statt dass der Marxismus die Neoklassik in die Krise bringt. Und zwar völlig unnütz: denn niemand ausser der eigne Unverstand hat die Marxisten geheissen, solchen Blödsinn zu denken.

4. Die Marxisten haben früh aufgehört, diese Dinge zu verstehen. Manche sagen, sie haben sie nie verstanden. Sie haben stattdessen angefangen, die Kritik der politischen Ökonomie zu verhunzen. Sie haben Ende des 19. Jahrhunderts einen anscheinend neuen Zustand vorgefunden, den sie in der so beschriebenen Gesellschaft nicht mehr erkennen mochten. Wenn sie Recht hatten, war die marx’sche Lehre widerlegt und musste aufgegeben werden. Sie haben das aber nicht offen ausgesprochen. Stattdessen haben sie neue Elemente eingefügt („Monopole“), die das „Wertgesetz“ wiederum auf eine andere Weise „modifizieren“, so dass sich die vorgefundene Realität beschreiben liess. Es liesse sich damit aber jede andere Realität beschreiben, ohne sie zu begreifen; und vor allem ist damit das „Wertgesetz“ eigentlich beseitigt, es verliert jede Erklärungskraft und wird nicht mehr benötigt. Von der Lehre Hilferdings und Lenins an haben alle diese Marx-Verbesserungen die Sache immer schlimmer gemacht. Sie haben erstens den Nachteil, dass sie viel mehr zusätzliche Annahmen (bewegliche Teile) erfordern; diese Annahmen können und müssen bei Bedarf jederzeit modifiziert werden. Sie haben zweitens den Nachteil, dass sie dazu neigen, den ursprünglichen Ansatz der Kritik der politischen Ökonomie durchzustreichen oder auszuhöhlen.

5. Rosa Luxemburg hat es als einzige unternommen, den neuen Zustand, den Imperialismus, als den Marx’schen Begriffen selbst zu beschreiben. Das Unverständnis, auf das ihre Arbeit gestossen ist, gibt genau das Mass ab, in dem die Marxisten Marx nicht mehr verstanden haben. Dass Rosa Luxemburg Recht hatte, heisst also nicht, dass Marx „modifiziert“ werden müsste. Im Gegenteil haben ihn die modifizieren müssen, die mit Rosa Luxemburg nicht einverstanden waren. Das „Geheimnis der Akkumulation“ hat Rosa Luxemburg nicht entdeckt, es ist wahr; sie hat es nur als letzte beschrieben. Dieses Geheimnis hatten die „Marxisten“ die ganze Zeit unter der Nase und haben es nicht erkannt.

Anmerkung: Das zwanzigste Jahrhundert hat die marxistischen Begriffe derart auf den Hund kommen lassen, dass auf den Namen „Luxemburg“ reflexhaft von „Unterkonsumtionstheorie“ gefaselt wird. Dieser stehen säuberlich sortiert die „Überproduktionstheorien“ und die „Überakkumulationstheorien“ gegenüber. Man sieht es der säuberlichen Sortierung an, dass sie auswendig gelernt ist, und zwar aus einer Literatur, die für Leute geschrieben ist, die nicht begreifen, sondern auswendig lernen wollen. 95% der marxistischen Literatur sind verdummender Müll.

6. Die kapitalistische Produktionsweise ist nicht alt, sie hat keine tiefen historischen Wurzeln, keine „kulturell“ bestimmte Vorgeschichte. Sie kommt nicht aus der britischen Landwirtschaft (trotz Smith und der Brenner-Debatte), ihre Entstehung beruht nicht auf der Dampfmaschine, und sie ist nicht aus Freihandel und Marktwirtschaft entstanden und erst später zu Schutzzoll und Imperialismus entartet. „Warum“ sie an einem bestimmten Ort entstanden ist und nicht an einem anderen, ist banal. Sie ist in den 1780ern in England entstanden, weil sie wegen einer politischen und weltwirtschaftlichen Anomalie sich auf einmal lohnte, und vorher nicht. Diese Konstellation hätte genausogut auch bloss voräbergehend sein können. Ob so etwas vorher schon ausprobiert worden ist, wissen wir nicht; wenn ja, hat es keine identifzierbaren Spuren hinterlassen. Die ersten kapitalistischen Fabrikanten haben mit billiger Arbeit, mit billigen Maschinen auf billigem Boden Textil hergestellt, das schlechter, aber billiger war als jedes andere. Die britische Macht in Indien hat durch ihre Zollpolitik einen Markt dafür geschaffen. Die Ware war nur dadurch so billig, dass sie die eingesessene indische Weberei vernichtet hat. Erst ein halbes Jahrhundert später haben diese Fabrikanten angefangen, moderne Maschinen anzuschaffen, darunter den Watt-Motor. Damit erst dehnt sich die kapitalistische Produktionsweise auf eine andere Branche aus, nämlich den Maschinenbau. Gleichzeitig drückte sie das ruinierte Bengalen zum Agrarland und Exporteur billigen Rohstoffs herab. Damit erst beginnt sie, ihre eigenen Voraussetzungen zu produzieren, und zeigt an, dass sie nicht nur vorübergehend da ist. Das ist der historische Hintergrund, ohne den kein Wort des „Kapital“ verstanden werden kann, und der vollkommen vergessen worden ist.

7.
Schlechtes britisches Tuch, weil es billiger war, verdrängte besseres indisches Tuch vom Markt. Nicht nur das, es warf auch höhere Profite ab, obwohl es billiger war. Dabei war weniger menschliche Arbeit darin vergegenständlicht. Die Fabrikanten realisierten also einen weit höheren Profit, als sie an Mehrwert hatten produzieren lassen. Im Vergleich tauscht sich also eine Stunde menschlicher Arbeit in dem einen Gewerbe (und dem einen Land) gegen mehr als eine Stunde menschlicher Arbeit in einem anderen Gewerbe (und einem anderen Land) aus. (Man könnte auch sagen: kommandiert mehr als eine etc.) Von diesem Sachverhalt gehen alle logischen und philosophischen Spitzfindigkeiten des „Kapital“ aus, und ebenso alle Widerlegung der klassischen Ökonomie, die sich keinen Reim darauf machen konnte. Die so erzielten Profite ermöglichte eine Gesellschaft, wie es sie nie vorher gegeben hatte: die ökonomischen Träume des Aufklärungszeitalter gingen auf eine Art in Erfüllung, in der es sie selbst nicht wiedererkannt hätte. Es hatte zwar eine allgemeine Profitrate postuliert, das Band, das das Gemeinwesen der freien und gleichen Besitzenden zusammenhält, aber es hatte selbst gar keine gekannt, und wusste auch nicht, wie es dazu kommen sollte.

Anmerkung: Der Gegensatz zwischen der historischen und der logischen Lesart des „Kapital“ gehört der metaphysischen Wiederaneignung des Marxismus an. Sie ist ein Axiom des neueren Hegel-Marxismus der „Neuen Marx-Lektüre“. Diese Schule ist so gut wie jede andere marxistische Schule, d.h. weit unterhalb des Niveaus ihres Gegenstands. Jede dieser Schulen wird so lange bestehen wie das gesellschaftliche Bedürfnis, das sie erfüllt.

8.
Zwischen den kapitalistisch und den vorkapitalistisch produzierenden Branchen findet das selbe Verhältnis statt wie zwischen einem kapitalistisch und einem vorkapitalistisch produzierendem Land, nur dass im letzteren Fall eine Aussenhandelsbilanz dazwischentritt. Die Ausgleichung der Profitraten, die unter der Gewerbefreiheit notwendig eintritt, umfasst nur jeweils dasselbe Land. Eine internationale Profitrate bildet sich nicht. Die Aussaugung des arbeitsintensiveren Sektors, der Grundstoff- und Agrarproduktion, durch den höher technisierten verstetigt sich deshalb. Innerhalb der herrschenden Ökonomie zerstört die steigende Profitrate die Betriebe und Sektoren, die diese Profitrate nicht tragen können. In der beherrschten stösst die niedrigere Profitrate Investitionen ab. Der Wechselkurs und die Kaufkraftdifferenzen ergeben sich aus diesem Verhältnis und verstetigen es. Die Profitraten der einzelnen Nationen zeigen an, an welcher Stelle sie im internationalen Ausbeutungszusammenhang stehen. Seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters zeigt sich eine vollständige Revolution der Preise, zu Lasten der grundstoffproduzierenden Sektoren und zu Gunsten der Fertigwaren. Diese Verschiebung zeigt das Mass der Unterwerfung des einen Sektors unter den anderen, Voraussetzung und gleichzeitig Folge des spezifisch kapitalistischen Ausbeutungssystems. Die Mehrwerte des unterworfnen Sektors werden realisiert als Profite in dem herrschenden. Diese Gedanken sind ebenso einfach wie marxisch; die gegenwärtige Realität lässt sich mit ihnen vollständig abbilden. Voraussetzung ist allerdings, dass man den Inhalt dieser Begriffe vom Reichtum nicht vergisst: wir reden von Herrschaft, sie ist der Inhalt der ökonomischen Formen.


Anmerkung: Engels hat irgendwo bemerkt, dass keine marxistische Partei ein vernünftiges Agrarprogramm zustandegebracht hat, mit Ausnahme einer kleinen französischen. Die landwirtschaftliche Ahnungslosigkeit der Marxisten ist ihnen als einziges dauerhaft geblieben. Sie sind nie zu einer Idee vorgedrungen, was die kapitalistische Produktionsweise für die vorkapitalistischen Branchen bedeutet. Der heutige Seminarmarxismus bildet sich ein, mit dem Bd. I und dem Mehrwert schon das Ausbeutungsverhältnis in der Tasche zu haben; alles andere ist Geschwätz über eine „Totalität“, von der sie nicht wissen können, womit sie sie füllen sollen. Sie sind schlechte Operaisten: ihre Gedankenwelt besteht nur aus der Fabrik, aber selbst die kennen sie nur aus der Theorie. Die Gesellschaft ist ihnen mit dem Kapital deswegen fugenlos identisch, so dass es ihnen gar kein Rätsel mehr aufgibt, was es wohl heissen soll, dass die kapitalistische Produktionweise in einer Gesellschaft „vorherrscht“. Sie wissen mithin alles und wundern sich über gar nichts.

9.
Das kapitalistische Verhältnis hat zuerst von der Textilindustrie auf die Maschinenbau-Industrie übergegriffen, an der wiederum andere Zweige hingen, z.B. Kohle und Stahl. Später kamen Chemie und Elektor dazu und in den 1950ern Auto, Petroleum und Mikroelektronik. Das ist, was unter Langen Wellen oder Kondratieff-Zyklen gemeint ist. Ein solches Übergreifen ist nicht selbstverständlich. Es setzt voraus erstens grosse Profitmassen, die zweitens im bisherigen Sektor nicht gewinnbringend angelegt werden können; es setzt weiter voraus technische Möglichkeiten, die bestehen, aber bisher nicht produktiv genutzt werden. Vor allem aber setzt es voraus, dass das ganze System der gesellschaftlichen Bedürfnisse neu konfiguriert werden kann. Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise z.B. zerstört ganze Branchen, ganze Teile der Gesellschaft, wie die indische Weberei; sie kann aber nur expandieren, wenn es gelingt, die Trümmer sich wieder zu assimilieren, z.B. die Nachkommen der Weber zu Baumwollanbauern herabzudrücken und ihnen fertige Textilien für ihren Rohstoff zu verkaufen. Der Übergang zum Auto zeigt sehr deutlich, dass die Voraussetzung für einen neuen, profitablen Zyklus die vollständige Umkonfiguration der Gesellschaft ist, allein damit sie das neue Produkt aufnehmen kann. Gelingt das nicht, dann reicht auch die schönste neue Technik nicht aus, um das Sinken der Profitraten in den bestehenden Sektoren auszugleichen. Und nichts garantiert, dass es gelingt.

10.
Es hat seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters keine „Systemalternative“ gegeben. Namentlich der sowjetische Sozialismus zeigt sich bei näherem Hinsehn als rein kapitalistisches System, mit dem Staat als Kapitalisten. Unter Lenin ist dies auch zugegeben worden. Der „sozialistische Aufbau“ unter Stalin folgt der Maxime Preobrazhenskys, dass die sozialistische Akkumulation mit den Bauern genauso umzuspringen habe wie die Briten mit Indien. Das sowjetische System, und alle, die ihm folgten, haben gezielt und gesteuert nachvollzogen, was den Briten schon ebenso gezielt und gesteuert das Kaiserreich Japan nachgemacht hatte. Das sowjetische Modell fällt unter den kapitalistischen System nicht weiter auf; es gibt nichts darüber zu sagen, was nicht für den Kapitalismus insgesamt gilt. Von den einfachen marxischen Begriffen aus gibt es hier gar kein Vertun. Und genau deshalb, weil sie das auf gar keinen Fall verstehen wollen, haben die heutigen Marxisten keine Chance mehr, diese einfachen Begriffe noch zu verstehen oder je wieder zu lernen. Oder aber man fängt von vorne an.

Anmerkung: Die „marxistische“ Literatur über die Sowjetunion besteht zur Hälfte aus absichtlichen Mystifikationen, und zur anderen Hälfte aus Unwissen. Diese beiden Elemente sind ein fast untrennbares Amalgam eingegangen. Das schönste Anschauungsbeispiel ist die Literatur über Trotzki. Man kann Jahrzehnte mit dieser Literatur verbringen, ohne jemals zu erfahren, warum die Anhänger Trotzkis nach 1929 scharenweise „kapitulierten“: weil Stalin angefangen hatte, ihre Politik umzusetzen. Rein der idealistischen Mondkalbs-Phantasie der Gymnasiasten entstiegen sind auch die Dinge, die man über den „Sozialismus in einem Land“ erfährt; hier wird getan, als hätte man es um einen Konflikt zwischen trauriger Realität und erhabenen Idealen zu tun statt ganz ordinär um eine Fortsetzung der Luxemburg-Debatte, die bekanntlich um die Frage ging, ob ein Land wie Russland Industrieland werden könne, ohne Kolonien zu haben.

Veröffentlicht unter Geschireben | Kommentare deaktiviert für Akkumulation und Krise