News unterm Radar VIII

Etwa Mitte April hat sich an der Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau hat sich eine Initiative gegründet, sie sich einer geplanten Neugründung eines Schulungszentrums, welches den Namen Iwan Iljins tragen und von einem gewissen Alexandr Dugin geleitet werden soll. Es wurde bereits berichtet. Ja, „Putins Lieblingsphilosoph“, ein ausgezeichneter Hegelkenner und bekennender Christ, hatte eine Affäre mit dem historischen Faschismus während seiner Zeit im europäischen Exil. In der „weißen russischen Emigration“ damals allerdings nichts Ungewöhnliches, wie wir Proletarier sagen. (Ich jedenfalls würde von „Gewaltsamer Widerstand gegen das Böse“ nicht abraten, ist eine stabile Antwort auf den dogmatischen Pazifismus Leo Tolstois, aber innbrünstig anempfehlen würde ich es auch nicht). Manchen Leuten an der Fakultät wurde das zu viel des Guten auf ein Mal, sie haben sich zusammengeschlossen und losgezogen – gegen die Faschisierung der Lehre und für Demokratisierung der Strukturen an der Uni. Die Wahl der Mittel war allerdings so skurril, dass es Freunde wie Feinde ein wenig ratlos machte. Den möchte-gern Staatsphilosophen Dugin hat man gleich beim Namen genannt, der unterstellte der Initiative einfallslos, aus der Ukraine gesteuert zu werden. Dafür hat man ihm ein Zitat aus seiner 2010 erschienen Studie über eine „explizit russische“ Heideggerleseweise unter die Philosophennase gehalten, wonach Iljin eigentlich ein im Geiste sehr preußischer, sprich ein un-russischer Depp gewesen sein soll. Schlimmer hat es die sogenannten Kommunisten und andere Redcons im Establishment erwischt: sie finden es richtig, aber dürfen es nicht sagen. Im (medialen) Krieg gegen die Ukraine (und den sog. Westen) wird je nach dem, was für Publikum bearbeitet werden soll, der besagte „Widerstand gegen das Böse“ oder der Großer vaterländische Krieg bemüht, die Rostroten würden die rechtsklerikale Konkurrenz im Staatsapparat schon gerne beseitigen. Sollen Iljin und Dugin Faschos sein, wie sieht es aus mit seinem allseits bekannten Fanboy, der 2009 angeblich aus eigener Tasche einen neuen Grabstein bezahlt und sich um seinen schriftlichen Nachlass gekümmert hatte? In welches Licht stellt das die sog. „militärische Spezialoperation“? Manche prominenten Unterstützer der Kampagne lassen sich nicht mehr so einfach als ukrainische Agenten abstempeln, haben sie sich doch in den letzten zehn Jahren durch die Unterstützung der Donbas-Separatisten hervorgetan; sie drohen nun mit der Staatsanwaltschaft. Die Dumaabgeordneten schicken Anfragen und fordern Aufklärung. Der Dekan Besborodow kann 20000 Unterschriften nicht ignorieren, hält einen Vortrag über Iljin, um Unklarheiten unter Studierenden zu beseitigen, weigert sich aber, zu politischen Ansichten Iljins inhaltlich Stellung zu beziehen. Vor allem aber: wer wird es dem Hauptfanboy Iljins ins Gesicht sagen, dass er vor lauter Antifaschismus mit Vorliebe einen Faschisten zitiert? Alle sind am rudern und springen im dialektischen Dreieck.

Lenin oder Iljin: „Wer ist hier Patriot?“

Kurzum, das Trolling ist so fett, dass es sehr fein wird; bzw. es ist so fein, das es richtig fett wirkt. Was wiederum bedeutet, dass das Trolling sehr gelungen ist. Diese Schlussfolgerung könnte so im Dialektiklehrbuch von irgendeinem Klassiker des Marxismus-Leninismus stehen oder wenigstens in Bertold Brechts „Me-Ti, Buch der Wendungen“. Das Problem mit dem wissenschaftlichen Sozialismus, welches bereits unzähligen Generationen seiner AnhängerInnen das Herz gebrochen und sie in Arbeitslager geführt hatte, ist jedoch, dass man nichts, nicht ein mal seine angebliche Wissenschaftlichkeit leichtsinnig glauben darf. Also bin ich der Sache etwas näher nachgegangen und festgestellt, es ist alles viel trivialer.

Die Initiative kommt zwar aus der Uni, sie wurde aber nicht von sogenannten Redcons gekapert, sondern von den nämlichen Redcons auch ins Leben gerufen. Ja, von der Jugendorganisation der KPRF an der Uni. Genauer gesagt, von der LKSM – ihr wisst schon, der pseudo-unabhängigen Nachfolgerorganisation der WLKSM, sprich der Komsomol, die sich 2011 nach der ausdrücklichen Erlaubnis von Lenins Nichte, Olga Uljanowa, eben in LKSM RF unbenannt hatte. Man merkt, das Trolling ist hier gelebte Tradition, das Organisationsprinzip und die Vorzugswaffe der geistigen Auseinandersetzung in Einem. Die dialektische Betrachtungsweise bringt uns also immer weiter, wir müssen bloß in periodischen Abständen mit dem Blaumannärmel die Freudentränen aus den proletarischen Augen wischen.

Als führende Köpfe bzw. Vertreterinnen der studentischen Initiative fungieren, zumindest momentan noch, Olga Serikowa (LKSM) und Daria Bagina, die in den Moskauer Stadtrat von der KPRF kandidiert hat. Und die meinten es am 14. April 2024, gleich am Start der Initiative wirklich so im folgenden Duktus:

Im Gegensatz zu dem Philosophen Dugin sind wir länger als ein Jahr an der Universität. Dies ist unsere Universität, wir sorgen uns um ihre Zukunft und ihre Vergangenheit. Wir ehren und schätzen unsere Kollegen, Studenten und Dozenten, die von ihren Schreibtischen und Stühlen aus in den Vaterländischen Krieg gegen diejenigen gezogen sind, deren Ideen der Philosoph Iljin unterstützt hat. Unser Aktivismus wird von staatsbürgerlichem Gefühl und dem Unwillen, sich dem Unrecht zu beugen, diktiert, von der Erinnerung und der Vernunft.
Die Feinde unseres Vaterlandes sind diejenigen, die dem Volk, das den Großen Vaterländischen Krieg gewonnen hat, faschistische Dogmen aufzwingen. Feinde Russlands sind diejenigen, die das Andenken und die Namen derer verraten haben, die im schrecklichen Krieg gegen Hitler-Anhänger wie Iljin und seinesgleichen ihr Leben gelassen haben.
Die Namen unserer Vorgänger, die im Kampf gegen den von Iljin gepriesenen Faschismus heldenhaft gefallen sind.

Eine gewagte und geschickte Vorgehensweise, muss ich schon sagen, so durch die Blumen und trotzdem deutlich genug sagen, wen man für die Verräter de sowjetischen Erbes hält – die aktuell regierende Clique. Bloß die Clique hat sich auch aus ehemaligen Komsomol-Aktivisten und jungen KGB-Offizieren rekrutiert, das waren keine Fremden, die Dialektik ist grausam zu uns. Vielleicht begründet sich darin die Spekulation, sich staatstreu zu zeigen, an eben die Clique zu appellieren und sie beim Wort zu nehmen, wie es am 15. April auf Telegram getan wurde:

Einer der wichtigsten Bereiche der staatlichen Politik der Russischen Föderation ist heute die entschiedene Bekämpfung faschistischer Erscheinungen. Die gesamte russische Gesellschaft muss die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Gründung und die Aktivitäten faschistischer Organisationen zu verhindern.
Die Zuweisung des Namens des Philosophen Iwan Iljin an die Hochschule für Politik widerspricht dieser Politik. In der gegenwärtigen schwierigen politischen Situation sind solche „Flirts“ mit rechtsextremen Themen auf der Ebene einer der führenden geisteswissenschaftlichen Universitäten des Landes inakzeptabel.

Man sieht zwar am Horizont die Schimäre der judäo-banderischen NATO-faschistischen Junta in Kyiv schimmern, mit Sicherheit lässt sich das aber nicht beurteilen, das wäre ja unwissenschaftlich. Vielleicht ist es ernst gemeint (es sind ja unter Anderem die KPRF-Leute am Werk), vielleicht kann z.Z der gesellschaftliche Diskurs in Russland nur noch mit solchen Floskeln kapern. Ordnungsrufe gibt es auch schon, am 20. April hat sich der Skandal bis W. Wolodin, dem Vorsitzenden der Staatsduma rumgesprochen. Dieser sieht sich auch im Krieg:

Aus diesem Beispiel können wir eine Schlussfolgerung darüber ziehen, welche Art von öffentlichem Dialog in unserem Land heute notwendig ist. Und was er auf jeden Fall nicht sein sollte.
Wissenschaftliche Forschung und Diskussionen sind ein wesentlicher Bestandteil des universitären Lebens. Sie sollten jedoch nicht in politische Skandale und Streitereien ausarten.
Das ist falsch und unangebracht. Dies ist nicht der Zeitpunkt, um solche Streitigkeiten anzufangen und die eigenen politischen Ansichten, die oft falsch sind, über die Interessen des Landes zu stellen. Heute kämpfen wir gegen den Nazismus, der wieder aufgetaucht ist.

Wolodin schmeißt im Folgenden mit Iljin-Zitaten herum, was, im Grunde genommen, heißt: deren Nicht-Faschismus ist Faschismus, unser Faschismus ist nun keiner. Weil er unser ist. Aber der „linke“, sowjet-nostalgische Flügel der Staatspropaganda ist bereits beunruhigt, in Erklärungsnot und solidarisiert sich zuweilen vage mit den StudentInnen.

Die einst bedeutende linke Publikation Rabkor nutzt die Gelegenheit, um gegen unseren alten Bekannten, den von konkret interviewten Märchenerzähler Hektor Schpree zu schießen. Wer sich nicht so ganz erinnern kann, kann vielleicht News unterm Radar II auffrischen. Schön, dass man sich noch ein mal begegnet. (Schpree scheint nach der ersten Verhaftung seines ehemaligen Mentors und Rabkor-Chefs Boris Kagarlitsky als Belastungszeuge ausgesagt zu haben, das nur nebenbei). „Gegen Schpree‘s Militaristen und Bagina‘s Bürokraten“, heißt es im Solidaritätsschreiben.

Hier sollten wir lieber aufhören, bevor es pingelig-sektenhaft wird. Lassen wir den GenossInnen genügend Raum für nötige politische Manöver, sprich das soll jetzt nicht unser Scheiß sein. Es ist nämlich so schlecht, dass es nur gut werden kann, egal wie es ausgeht. Stay tuned,

spf

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