Über die Parole: Der Hauptfeind steht im eigenen Land

Die Internationale vor 1914 hielt sich für eine Garantin gegen den Weltkrieg. Als der Weltkrieg da war, hielt sie keine drei Tage stand. Die Revolutionäre waren auf sich alleine gestellt. In dieser Lage wurde die Parole „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ aufgebracht, als Zusammenfassung, Abkürzung dessen, wofür der Internationalismus in den Augen der Revolutionäre zu stehen hat.

Wofür die Internationale in den Augen der weniger revolutionären Richtungen stand, wäre eine interessante Frage. Sie war wohl auch eine Art internationaler Clearing-Stelle für die einzelnen sozialistischen Parteien, die mit ihren Heimatstaaten und deren aussenpolitischen Ansprüchen auf bestimmte Weise verwachsen waren. Ihr Anspruch, einen innereuropäischen Krieg notfalls durch Massenbewegungen zu verhindern, gab ihr den Schatten einer gewissen Macht; sie wurde wohl eine Weile als eine Art sozialistischer Völkerbund angesehen, von der bürgerlichen Politik wahrscheinlich sogar als Stabilitätsfaktor in Rechnung gestellt.

Die Idee, für den Internationalismus eine Organisation zu schaffen mit einem eigenen Büro, einem Apparat und politischen Gremien, hat sich offenbar 1914 nicht genug blamiert, und sie ist später noch ausprobiert worden. Vor allem die sogenannte Dritte Internationale hat einen gewissen Einfluss und Fame erreicht; sie hat die Idee auch wohl endgültig diskreditiert. Sie ist berüchtigt für ihre wild sich ändernden Direktiven, aus denen der Revolutionär sehen sollte, welche auswärtige Macht er jetzt zu unterstützen habe; Direktiven, die aus der Berechnung des Apparats und nicht den Bedürfnissen der Massenbewegung hervorgingen, und die die Bewegung desorganisiert und oft genug in die Katastrophe geführt haben.

Die Massenbewegung bringt aus sich keinen solchen Apparat hervor und sie verträgt auch keinen, sie braucht einfache und klare Kriterien, die quasi selbstausführend sind. Berechnungen, die keine Spezialisten erfordern, sondern die jederzeit von allen vorgenommen werden können, deren Ergebnisse leicht mitteilbar und begreifbar sind. Sie müssen einer Bewegung, die über verschiedene kämpfende Staaten verteilt ist, einen getrennten, aber gemeinsamen Weg zeigen, auch wenn diese Bewegung keine zuverlässige Weise der Kommunkation untereinander hat und voneinander völlig getrennt ist.

Das Problem an der Parole „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ ist nur: sie tut die Arbeit nicht, die sie tun soll. Sie ist an sich sehr richtig, aber sie ist nicht zuverlässig ausführbar. Nehmen wir die Ukraine. Was ist die Pflicht des Revolutionärs? Er kann in Versuchung sein, auf eigne Faust Weltpolitik zu treiben, und sich entweder einbilden: die Niederlage des Putinismus ist die Voraussetzung für die Weltrevolution, oder aber die Niederlage der NATO. Wir kennen beide Sorten, und wir fürchten, es führt beides nicht zur Weltrevolution, sondern zum Sieg eines der beiden Blöcke.

Oder aber er erinnert sich an die alte Parole und stellt sich die unausgesprochene Vereinbarung vor Augen, die darin liegt. Und wir halten diese unausgesprochene Vereinbarung für sinnvoll, gut und ausdrücklich für bindend. Also wird er vielleicht überlegen: was treibt eigentlich „mein“ Staat für eine Politik, was für Interessen verfolgt er, und wie trete ich ihm entgegen? Und er wird schon beim ersten Schritt stolpern.

„Der deutsche Imperialismus verfolgt“ dieses oder jenes Ziel. Woher weisst du das denn so genau? Ihm selbst ist das keineswegs von vorneherein so klar. Die „Interessen“ irgendeines Staats stehen ja nicht in irgendeiner Steintafel eingemeisselt, sondern es gibt einen Haufen einander völlig widersprechenden Interessen. Wenn „der ideelle Gesamtkapitalist“ so einfach klar definierte Interessen hätte, denen er einfach mechanisch folgen könnte, dann nähme er gar nicht erst die Form eines derartigen Staatsapparats an.

Was „das Staatsinteresse“ ist, ergibt sich aus dem Machtkampf der einzelnen Zweige des Staatsapparats, die wiederum verbündet sind mit verschiedenen wirtschaftlichen Interessen usw., und dieser Machtkampf wird mit allen Mitteln geführt, unter anderem über die Öffentlichkeit, und der Revolutionär ist nur ein Teil dieser letzteren.

Deutschland z.B. hat historisch zwei Optionen gegenüber Russland, nämlich erstens Osteuropa untereinander aufzuteilen, oder Krieg, und zwar gewöhnlich erst das eine, dann das andere. Die erste der beiden Optionen wird unter dem Handelsnamen „Frieden“ verkauft, es ist Frieden von der Sorte, der zum Krieg führt. Die Zeitdauer, bis man vom einen zum anderen umschwenkt, variiert zwischen 2 und 110 Jahren.

Die Idee, die Ukraine aufzuteilen, gilt heute aus irgendeinem Grund nicht als besonders imperialistisch. Eine solche Aufteilung würde die Vormacht Deutschlands in der EU wahrscheinlich befestigen: die osteuropäischen Staaten müssten sich fester an Deutschland und Frankreich binden. Ist von einer solchen Aufteilung eine „dauerhafte Friedenslösung“ zu erwarten? Nein, sondern sie würde den Boden legen für eine zukünftige direkte Konfrontation.

Die Parole, über die wir reden, bringt hier überhaupt keine Klarheit. Auch ein Apparat, wie die Internationale es war, würde es nicht besser machen: sie käme vielleicht nach gewundenen Überlegungen auf eine Strategie, aber diese Strategie würde nur befolgt, wenn man die Internationale mit dem religiösen Schein der Unfehlbarkeit umgäbe. Zuletzt würde sie genauso unberechenbar, wie die Apparate, die die Interessen der Staaten bestimmen: ihre Direktiven wären Ergebnis ihrer inneren Machtkämpfe.

Die Parole: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! wurde von Liebknecht proklamiert in einem Moment der grössten Isolation. Sie war dazu gut, die zuschanden gegangenen Revolutionstheorien der Vorkriegszeit zurückzuweisen. Die deutschen Sozialisten glaubten, die Arbeit des Weltgeistes zu tun, wenn es gegen den Zarismus ging, die französischen, wenn es gegen die Hohenzollern ging; Kropotkin und Plechanow sahen das Deutschen Reich als Agenten des Vordringen des Kapitals nach Russland; jede Macht vertritt real gegen die anderen Mächte das schlimmere, aber man hat sich aller zu erwehren, und man fängt mit der an, die man vor der Nase hat.

Aber viel weiter kommt man damit nicht. Das mächtigere Bild wäre wohl damals schon das Porträt einer Guillotine und zweier gekrönter Köpfe gewesen, des fremden Kaisers und des eignen. Und vermutlich ist auch heute nicht die isolierte, verfolgte, orientierungslose Opposition von 1915 die Parallele, die man zeigen sollte, sondern die bewaffnete von 1917 und 18.

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