News unterm Radar III

Die News sollten auf eindringliche Bitten der werktätigen Massen hin nicht so „esoterisch“ ausfallen, wie letztes Mal. Es sind schon Dinge, die einem/r Interessenten beinahe von selbst ins Gesicht springen.

Ein Jahr Krieg Russlands gegen die Ukraine, ein Jahr militärische Aggression, die der ukrainischen Gesellschaft unvorstellbare Schäden und Leid zufügt; ein Krieg, der genozidale Züge aufweist und man muss richtig blind sein, um nach einem Jahr dafür noch irgendeine geopolitische, wirtschaftspoltitische oder – richtig zynisch – humanitär-menschenrechtliche Begründung zu suchen. Jeder einzelne Tag und jede einzelne Nacht davon ist zuviel. Viele Prognosen, auch unsere eigenen haben sich öfters als falsch erwiesen, die Wende im Krieg war da, doch ist noch lange nicht vorbei. Stattdessen reden dieselben Experten, die den Krieg noch letzten Herbst beendet sehen wollten, genauso selbstverständlich von „2023/24 oder so um den Dreh“. Vielleicht argumentieren sie alle nicht von einem proletarisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus und deswegen sind ihre Expertisen gar nicht so hervorragend und den Durchschnitt übersteigend, wie es das Proletariat gerne bräuchte. Die Ausdauer der russländischen Wirtschaft und der unverrückbar apathische Zustand der russländischen Gesellschaft, die wirklich alles mit sich machen lässt, haben, ganz ehrlich, auch uns überrascht.

Wie auch immer gibt es Menschen, unter Anderem viele Linke, die mit Regime Putin verhandeln wollen – offensichtlich über die Köpfe der UkrainerInnen. Diese sollen sich nicht so anstellen, wenn die großen Nationen mal wieder miteinander schnacken wollen, es geht um unser aller Wohl.

Also, bei der Linkspertei Leipzig hieß es anlässlich des Jahrestages des russischen Krieges am 24. Februar z.B. so: „Verhandlungen statt Panzer“ –

Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung gegen den Angriff Russlands. Aber mehr Waffenlieferungen werden nicht zu einem Ende des Krieges führen – das geht nur mit Verhandlungen und Diplomatie. Stattdessen steigt die Gefahr, dass der Krieg eskaliert und sich weiter hinzieht: Mit immer mehr Toten und mit immer mehr Verwüstung. Ein langer Krieg verbraucht viel Material. Das ist gut für die Rüstungsindustrie. Für die Menschen bedeutet das: unendliches Leid. Wenn auch der größte Panzer der Welt nicht zum Sieg der Ukraine führt, was wird als Nächstes gefordert? Kampfjets? Soldat*innen? Wir sagen: Raus aus der Eskalation! Mehr Waffen schaffen keinen Frieden. Stattdessen müssen die Kriegsparteien zu Verhandlungen gedrängt werden.

Und ich denke, überall sonst in Land haben sie ungefähr das Gleiche gefordert, weil ihr Klientel das so fordern würde. Oder – es wird angenommen, dass es so fordern würde.

Auf der (verregneten) Straße, zumindest in Leipzig, saß es anders aus:

In welche argumentative Sackgasse sich die Linke mit ihrem (hier besser beschrieben durch Kolumnist David Gray) seltsamen Pazifismus mittlerweile manövriert hat, kann man mit einem Bild vom heutigen Abend illustrieren.

50 Menschen sind aktuell dabei, zur linken Kundgebung am Leuschnerplatz anzutreten. Die gesamte Leipziger Linkenszene lässt heute diese Partei mit ihrem Bundestagsabgeordneten Sören Pellmann und der Videoansprache Gregor Gysis allein im Regen stehen. Stattdessen sind die Freunde um Anette H. und ihre noch etwa 10 Menschen umfassende Initiative „Leipzig steht auf“ gekommen, um sich anzuschließen. Das ist offenbar sogar der Linkspartei zu viel Querfront, Anette H. (eine umtriebige Protagonistin der hiesigen Schwurblerszene – Anm. GT) muss wieder einpacken.

* * *

Auch Putins Rede vor der Föderalversammlung am 23.2., ehrlich gesagt, eine einzige Enttäuschung. Eine ganz schlechte Standup-Comedy. Von von einigen dad jokes über „Pädophilie als Lebensnorm“ und einen „gender-neutralen Gott“ abgesehen, ging es ganz ohne seine üblichen Iljin-Zitate zum selben ökonomischen Programm, mit dem er bereits seit 20 Jahren die russländische Wirtschaft von der oil needle herunterholen und ihr das Laufen auf eigenen Beinen bis zur fast vollständigen Autarkie wieder beibringen möchte. Während seines Auftritts beschossen russländische Streitkräfte die Stadt Cherson.

Besorgniserregend ist natürlich seine Ankündigung, den Vertrag über Measures for the Further Reduction and Limitation of Strategic Offensive Arms von 2010, auch SNW-III oder New START genannt, vorübergehend auszusetzen. Egal, wie sonst China und Indien gerade zum Krieg stehen, die Vorstellung, dass Drohungen mit Atomwaffen jetzt wieder als „normal“ auf die Tagesordnung kommen, dürfte sie auch nicht begeistern.

Und da bin ich auf der Suche nach weiteren „den Durchschnitt übersteigenden Expertisen“ auf das Schweizer Onlinemagazin „untergrund-blättle“ gestoßen, wo manchmal auch weltbewegende Themen besprochen werden. Neben der Expertise, die einem wenigstens im Nachhinein das sichere Wissen verspricht, dass nachts alle Katzen grau und im Ideenhimmel der Intellektuellen alle Abstraktionen gleichwertig sind (wie z.B. https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/ukraine-russland-konflikt-krieg-teil-1-6915.html), fand ich ein hervorragendes Gespräch zwischen dem freien Radio Helsinki und einem Spezialisten für ausgezeichnete Friedenslösungen namens Karl Kumpfmüller (da sich das „blätte“ nicht verlinken lässt, hier mal ein anderer Link). Die Kapitulation der Ukraine als „Lösung“ fand ich in der Tat so ausgezeichnet, dass ich mit demselben Pathos darauf eingehen möchte, wie es Kumpfmüller auch tut.

Eingangs will ehemalige Mitarbeiter des Grazer Friedensbüros eine Art Jahresbilanz ziehen und steigt damit ein, dass es März/April 2022 vielversprechende Friedensgespräche in Istanbul gab. Nur verliefen sie ein bisschen anders als Herr Kumpfmüller sie darstellt, und wurden nicht vom tolpatschigen Kriegstreiber Johnson kaputt gemacht, sondern von den massenhaften Leichenfunden in Butscha verhindert. Da ist vermutlich Selenskyj eingeleuchtet, was unserem Freidensspezialisten fast ein Jahr danach nicht einleuchten will: Dass die „russische mir“ etwas von Friedhofsruhe hat. Außerdem im Frühjahr 2022 hat er wohl noch unter dem Eindruck der einzigartigen Hilfsbereitschaft des „kollektiven Westens“, vor allem Deutschlands verhandelt. Davon kann der infame ukrainische ex-Botschafter Andrij Melnyk ein Lied singen.

Es ließe sich noch jeweils zu Forderungen nach „Autonomie für die ostukrainischen Gebiete“, zur Ukraine als „failed state“ und zur (Wahn-) Vorstellung, dass es die Rüstungsindustrie war, die zum Krieg gedrängt hätte, ich lasse das alles aus. Auch darüber, ob die Ukraine (auch mit ihr aktuell zugesicherten Hilfe) das militärisch Mögliche erreicht hat, möchte ich an dieser Stelle nicht spekulieren. Wie oft die europäischen Militärs sich darüber getäuscht haben, sahen wir auch.

Die Beispiele sind richtig gut. So nimmt Kumpfmüller Südtirol als Beispiel für die Donbas-Region und die Krim, wie Südtirol nach dem Ende des WWII Italien zugeschlagen wurde und nach einer kurzen Periode der Querellen alle Menschenrechte und den Wohlstand bekommen hat und zählt heute zu einer der reichsten Gegenden in Italien. Weiß er eigentlich, dass Donbas eben nicht dem bürgerlich-kapitalistischen Italien der Nachkriegszeit angeschlossen und seit 2014 wirtschaftlich geplündert und politisch in einen Banden-Pseudestaat verwandelt wurde? Irgendwie erinnert mich der Herr an Tobias Riegel während seiner Zeit beim „neuen deutschland“: Dieser hat auch ganz gerne über Russland fabuliert, ohne irgendwas über seine gesellschaftliche Realität zu wissen.

Zivilgesellschaft bzw. den zivilen Widerstand in der Ukraine (Russland und Belarus natürlich auch) müsse man laut Kumpfmüller stärken. Das ist der Punkt, wo ich ihm abstrakt zustimmen würde. Darauf folgt eine erfreuliche Entgegnung seitens der Moderatorin: Was ist nun mit dem ungeheuren Repressionsapparat im Land? Man könnte es auch anders formulieren: Der Friedensforscher hat offensichtlich nicht viel über diese Gesellschaften gewusst, dass es zumindest in Russland und Belarus nach nach einer langen Repression erfahrung, die 2020/2021 (vorübergehend) kulminierte, nicht wirklich viel zum Stärken übrig bleibt.

Er weist sehr entschieden die Behauptung zurück, dass Zugeständnisse an Putin nur dessen Machtgier ankurbeln würden, dieser würde nicht genug kriegen. Putin würde merken, dass er sich keine Alleingänge (ohne China und Indien z.B.) leisten könnte, würde den Widerstand der Weltgemeinschaft spüren. Nun, dieser, allen Reden zufolge, die er in der letzten Zeit geschwungen hat, fühlt sich am Wohlsten, wenn er von allen Seiten und zu allen Zeiten von Feinden umgeben ist. Das ist natürlich ein nationaler Mythos, an dem aktuell sehr fleißig gestrickt wird, aber irgendwas anderes kann und will das Regime Putin seiner Bevölkerung zwecks Konsolidierung im Inneren nicht anbieten. Ein Feind muss her und am Besten ein universaler, je unfassbarer und unsichtbarer, desto besser; ein Feind, der die „heiligen Schriften“ missachtet und sakrale Familienwerte auf der Welt zersetzt (wie es z.B. in der Ansprache vor der Föderalversammlung am 23.2. hieß). Dass Putin nach Verhandlungen strebt, da er der Bevölkerung langsam von diesem „kleinen siegreichen Krieg“ zur Aufbesserung der Zustimmungswerte auch mal was wirtschaftlich präsentieren würde und man ihm deswegen schnellstmöglich ein Lorbeerkranz aufsetzen müsste, halte ich erstens für eine Abwandlung von „Gesicht bewahren“-Argumentation und zweitens eh für ein Gerücht. Die Bevölkerung bzw. die hinterbliebenen Frauen der mobilisierten Männer haben schon jetzt was davon und zwar manchmal in Form von bescheidenen Geldauszahlungen, manchmal in Form von Autos, mal in Form von Fresspaketen oder Pelzmänteln, die ihnen nach den offiziellen Fotoshootings wieder abgenommen werden. Läuft doch. (Warum das so ist, warum die Frauen ihre Männer so gerne in den Fleischwolf schicken, wenn die Belohnung gar nicht so groß ausfällt, das wird noch auszudiskutieren sein. Ich habe neuerdings eine steile These gehört, das soll ihre kollektive Rache für die häusliche Gewalt sein – überzeugt mich nicht ganz, aber hat sicherlich ihren wahren Kern. Dazu, wie gesagt, lieber mehr bei anderer Gelegenheit).

Es ist kein Subjekt in Russland da, der Putin irgendwas nach gebrachten Opfern abverlangt oder abnötigt. Weiß unser Spezialist für Appeasement das auch nicht? „Wir wollen partizipieren an diesem Sieg“, tönt es aus unserem Forscher dagegen. Nun, ein Sieg ist es noch nicht. Eine interessante Vorstellung von Frieden und einem wirtschaftlichen Leben ist es, in der immer wieder kleine siegreiche Raubzüge braucht, um die soziale Ungleichheit ein wenig abzubauen und die Leute bei der Stange zu halten. Oder hat etwa die Krim-Annexion den Gini-Index Russlands 2014 ausgebessert und nicht etwa ein zusätzliches großes Loch in das Staatsbudget gefressen, denn Prestige ist bekanntlich alles?

Die nächste ganz große kognitive Leistung, die Kumpfmüller erbringt, ist der vermeintlich allgemeinverständliche Vergleich mit einem Gangster bzw. Entführer. Es ist wahr, man redet mit dem Entführer der eigenen Kinder, um sich die Forderungen anzuhören und die Kinder zurück zu bekommen. Kumpfmüller will aber nach seiner Logik ein Kind dem Räuber überlassen, wenn dieser schon unbedingt eins haben möchte, um die anderen zwei retten. Ich tue mir schwer, solche Eltern und nicht zuletzt eine Polizei vorzustellen, die dieses Vorgehen ggf. billigen würden. (Dass es auf der Weltebene keine Polizei trotz gegenläufiger Behauptungen gibt, geschenkt.) Um des Friedensapostels eigene Worte gegen ihn selbst zu wenden: „Ein ganz dummes Argument für mich, also intellektuell, glaub ich, ist es net von großer Denkleistung…“

Unser Scharfdenker bringt manchmal seltsam anmutende Floskeln wie „nicht-russisches Europa“ und will trotzdem nicht „pro-russisch gepolt“ sein. Wie auch immer, er macht u.A. eine sehr interessante Geschichte auf: die des massenhaften gewaltfreien Widerstands und ähnlichen Massenaktionen wie z.B. erfolgreiche Befreiungskriege. Nur fast nie wirkten solche Aktionen für sich allein, worauf die Moderatorin Kumpfmüller auch richtig hinweist, sondern immer im Zusammenspiel mit anderen Widerstandsformen. Schließlich existiert auch eine Geschichte der emanzipatorischer Gewalt (siehe „Partisanen und Milizen“, 2014, von Roman Danyluk, einem ukrainischstammigen Genossen übrigens, um nur ein Beispiel für solche Aufarbeitung zu nennen). Nun, hätte sich die Ukraine erst mal erobern lassen und sich langsam und, bitte, wieder gewaltfrei befreien, um für Experten wie Kumpfmüller moralisch unterstützenswert zu sein? Es geht dann um BLM, um die Black Panther Bewegung und die Bürgerrechtsbewegung u.Ä. Alles spannend, nur, ist dieses Beispiel auf den Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine anwendbar? Bei Interessen dahinter ist immer wieder von der besagten Rüstungsindustrie die Rede. Ist richtig, kostenlos ist nichts, auch die militärische und humanitäre Hilfe für die Ukraine, was für eine Erkenntnis! Und die russländische Wirtschaft bzw. Putins Freunde und Oligarchen, wie darauf sitzen, freuen sich nicht über die Aufträge des Heeres?

Ungefähr da ist das Interview glücklicherweise schon zu Ende. Es gab darin ein paar gute und wahre Gedanken, ich will es gar nicht in Abrede stellen, und die sollte man aufnehmen und vielleicht bei Gelegenheit weiterspinnen. „Es dürfen keine Kriege geführt werden“, sagt unser Friedensapostel zum Schluss. Meine volle Zustimmung zwar, es sieht allerdings so aus, als würde er nur zu gern die Ukraine zum Fraß vorwerfen, um selbst möglichst von Gewalt und immenser Umweltzerstörung in Ruhe gelassen zu werden. Recht niederträchtig.

Die Kritik des Militärwesens, der Staatlichkeit und des Nationalismus muss (wieder)aufgenommen werden. Auch darüber, wie die ukrainische Gesellschaft mit ihrem Staat verfährt, wenn der Krieg vorbei ist und wenn ihr u.A. die ganzen Rechnungen für das sog. lend lease und neuere Klassenkompromisse präsentiert werden, wird noch zu sprechen sein. Je schneller, desto besser. Deswegen wisst Ihr sicherlich eh schon, was zu tun ist: spendet z.B. hier für die Leute, die das Richtige in der gegebenen Situation tun.

– spf

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