Zum Schein des Vor-Scheins und den Problemen der Utopie
Von H.
Es gibt Zeiten, in denen die Not größer ist und Zeiten, in denen sie nicht groß erscheint. Ebenso gibt es Zeiten, die mehr Hoffnung in sich bergen, wie es auch Zeiten gibt, die grundlegend missmutig stimmen. Dass Not und Hoffnung im Bewusstsein der Menschen in einer konkreten Beziehung stehen, erscheint plausibel, die Frage nach dem Wesen dieser Beziehung ist es, die relevant ist und Fluchtlinien sowie Perspektiven einer Gesellschaftskritik aufzeigt. Ein Blick in Zeiten größter Not sollte zeigen, welche Auswirkungen eine solche Verhältnisbestimmung für die Gesellschaftstheorie hat.
Aus dem anfänglich relativ breiten Kreis um das Frankfurter Institut für Sozialforschung sollte sich im Laufe der 40er Jahre allmählich ein breites Feld an gesellschaftstheoretischem Denken herauskristallisieren, dessen Heterogenität nicht nur äußerlichen Umständen und persönlichen Querelen geschuldet war, sondern wesentlich auch dem subjektiven Umgang mit dem behandelten Material. Die Notlage mitsamt der Vertreibung, der viele Intellektuelle jenes Kreises durch die nationalsozialistische Barbarei ausgesetzt waren, bedeutete bekanntlich einen, bzw. den, Einschnitt in ihrem Denken und Leben – ganz deutlich im Fall Walter Benjamins, der sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, aber auch für Adorno und Horkheimer, denen die Emigration und der nationalsozialistische Terror nicht zuletzt einen neuen kategorischen Imperativ und damit verbunden die (Neu-)Ausrichtung ihrer Philosophie auf die Abwendung der Katastrophe brachte. Die Hoffnungslosigkeit der Situation zwang sie dazu, sich wenigstens um die Verhinderung des Schlimmsten zu bemühen.
Anders Ernst Bloch, der dem Institut anfangs auch sehr nahe stand und für Adornos Philosophie sehr prägend war.(1) Dieser befand sich – nicht zuletzt aufgrund seiner miserablen Englischkenntnisse und den damit verbundenen Schwierigkeiten, das Leben in der Emigration zu bewältigen – in einer nicht gerade hoffnungsstiftenden Situation, was ihn jedoch nicht daran hinderte, genau in jenen Jahren der Emigration weite Teile seines Hauptwerkes „Das Prinzip Hoffnung“ zu verfassen. Vielleicht war es gerade der messianische Geist seines früher sehr engen Freundes Walter Benjamin, der ihm den Optimismus gerade durch die Katastrophe hindurch bewahren ließ.
Blochs an Hegel und Marx orientierte Philosophie entbehrt großteils des düsteren, negativen Klangs, der etwa für Adorno so charakteristisch ist, stattdessen hangelt sie sich an Begriffen wie Utopie, Hoffnung, Vor-Schein etc. entlang und versteht sich selbst als eine Erweiterung der Marx‘schen Theorie: eine Art marxistische „Kritik der praktischen Vernunft“, sozusagen die moralphilosophische Ausarbeitung der Marx’schen Analyse.(2) Elementar sind dabei für Bloch zwei Komponenten: 1. Das Naturrecht, welches gelöst von metaphysicher Begründung auf die Erlangung menschlicher Würde zielt und 2. die Utopie, die auf den besseren Zustand jenseits des Leids hinweist. Einer der Anknüpfungspunkte an Marx ist also für den gerade genannten ersten Aspekt, „dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also (…) [der] kategorische(…) Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“(3) In den Forderungen des Naturrechts findet Bloch eben jenen Weg angelegt, der den Menschen den „aufrechten Gang“ lehrt gegen jene Umstände, die ihn in Abhängigkeiten und die Unmündigkeit werfen. Mit einer nicht ganz unproblematischen Rede von der ‚Natur des Menschen‘ versucht er die Idee eines allgemeinen Menschenrechts zu entwickeln, die emanzipatorischen Charakter haben und etwa über rechtspositive Menschenrechte hinausgehen soll, was er wie folgt betont: „Aber freilich, indem das Privateigentum zu den unveräußerlichen Menschenrechten gezählt wurde, konnten diese selber an den Kapitalismus veräußert werden, an eine viel radikalere Entäußerungsmacht als der Despotismus, gar als die ständische Vertretung.“(4)
Für den zweiten Aspekt, also die Utopie – im Speziellen die Sozialutopie – entwickelt Bloch eine neue Konzeption, die er zunächst von abstrakten Utopien, wie etwa der im luftleeren Raum konstruierten Welt des Schlaraffenlandes, abgrenzt. Derartige „Wolkenkuckucksheime“ brächten keinerlei emanzipatorischen Fortschritt, vielmehr bedürfte es einer strengen Ausarbeitung von Utopien, die nicht losgelöst von der Faktizität erreichbar sei. Die „konkrete Utopie“, wie Bloch sie ausarbeitet, folgt seiner Ontologie des Noch-Nicht, welche er wiederum in Anlehnung an das psychoanalytische Theorem des Noch-Nicht-Bewussten entwickelt. Es gebe im Hier und Jetzt Tendenzen und latente Hinweise auf eine bessere Einrichtung der Welt. In der Ausgabe 0 (Tiger) dieses Blattes schrieb Aquilah Chalid in der Analogie der Gesellschaft als eines Spiegelkabinetts: „Es weist Fehler auf; Fehler, die bei günstiger Sonneneinstrahlung zu gegebenem Zeitpunkt als Risse in den unzähligen Spiegeln erscheinen, Risse, die einen grob erahnen lassen, was sich hinter den Trugbildern verbergen könnte.“ Ähnlich verläuft die Argumentation Blochs, der in diesem Zusammenhang vom „Vor-Schein“ spricht. „Derart ist das bisher Wirkliche sowohl vom ständigen Plus-ultra essentieller Möglichkeit durchzogen wie an seinem vorderen Rand von ihr umleuchtet.“(5) Mit derart fast romantischen Bildern versucht Bloch anzudeuten, dass die Möglichkeiten nur erkannt und ergriffen werden müssen, um dem Vor-Schein entgegenzugehen. Wesentlich dazu wäre einerseits die Willenssetzung, dieses bessere Leben zu erreichen, andererseits die Fähigkeit zum „aufrechten Gang“ und somit die gezielte Praxis des mündigen Subjekts nach dem Motto: „es soll so sein, es muss so werden.“(6)
Entgegen der bisherigen Utopien ist es eben nicht einfach Blochs Ansinnen, eine möglichst phantasievolle Gegenwelt zu entwerfen, sondern aus den Umständen des „schlecht Vorhandenen“ reale Möglichkeiten herauszulesen, ebenso verwehrt er sich gegen einen Automatismus, der ohne das aktive Eingreifen des Subjekts auskommt. Schließlich – und hier gerät er in einen Konflikt etwa mit der Theorie Adornos – setzt Bloch dennoch ein „antizipierbare Gelungenheit“(7) voraus, die dem Drängen des Subjekts Kraft verleiht. Hier offenbaren sich Probleme, geht man mit Adorno davon aus, dass eine solche Antizipation unter das „Bildverbot“ fällt und zwar aus guten Gründen. Eines der Hauptprobleme, das das verdinglichte Bewusstsein in dieser Zeit mit sich bringt, ist, dass die Gesellschaft so, wie sie ist, als unwandelbar und von Natur aus so gegeben gilt – ein Umstand, den Georg Lukács in seinem berühmten Verdinglichungsaufsatz mit dem Terminus „zweite Natur“ bezeichnete.(8) Erstellten wir nun ein konkretes Bild von der gelungenen Gesellschaft, so sähen wir uns erneut mit eben derselben Starre konfrontiert, wo doch emanzipatorischer Kampf in einer (wie auch immer sie konkret dann aussehen mag) befreiten Gesellschaft münden sollte. Zwar heißt es auch bei Adorno: „Nur dem, der Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende, wird sie (…) zum Problem“(9), dennoch bestehe bei einem konkreten Bild jener anderen Gesellschaft die Gefahr, die bestehende nur zu reproduzieren. Der Vor-Schein Blochs und ebenso die Sonnenstrahlen durch die dichroitischen Spiegel bleiben per defnitionem eben Schein und sind nicht zwingend die Erscheinung des Wesens einer befreiten Gesellschaft.
Umgekehrt: was wir erfassen können ist aber die Erscheinung des Wesens der falschen Gesellschaft. Anstatt im Vagen zu stochern und der Frage nachzugehen, was denn genau der Mensch sei, bietet sich in der negativen Annäherung wohl ein fruchtbareres Modell: „Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau.“(10) Es ist demnach notwendig, nicht aus einem phantastischen Konstrukt heraus, sondern aus der bestimmten Negation des offensichtlich – sowie des verschleierten – Falschen einen kritischen Spiegel zu entwickeln. Das heißt aber im Bezug auf die eingangs formulierte Frage, dass der Not keine schlicht optimistische Hoffnung gegenübergestellt werden darf, sondern dass wir uns des Dilemmas gewahr werden müssen, in dem wir uns befinden und nur aus diesem heraus – ex negativo – hoffnungsvolle, utopische Elemente bestimmen können. Schließlich muss das Ziel dennoch sein, dass das Ganze anders sei. Modelle und Anregungen sowie Konsequenzen für die Utopie im Allgemeinen können hier abschließend nur thesenhaft formuliert werden:
Die Funktion der Utopie besteht in der Kritik des Bestehenden
Die Utopie darf nicht zu einem starren Bild verkommen, um nicht selbst eine Ideologie zu werden
Jede Teleologie eines automatische Fortschritts und jede Hoffnung auf einen solchen wurde nicht zuletzt durch Auschwitz widerlegt
Trotz allem darf die Hoffnung (oder wie Chalid formulierte: die Sehnsucht) auf ein besseres Ganzes nicht aufgegeben werden – sie darf gerade deswegen nicht an ein falsches Bild, einen neuen Schein verkauft werden.
Für Adorno steckt utopisches Potential in der Kunst, welche durch Mimesis an die Herrschaft eben diese bloßstellt(11) und somit die „Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwing[t], daß[sie] ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“(12) (Das Verhältnis Ästhetik-Utopie bei Adorno wäre weiter auszuführen)
Fußnoten:
(1) Vom Frühwerk Blochs schriebt Adorno etwa „nie etwas geschrieben zu haben, was seiner nicht, latent oder offen, gedächte.“ In: Adorno: Noten zur Literatur, S. 557.
(2) Vgl. Bloch in Über Ernst Bloch, S. 93.
(3) Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; in: MEW 1, S. 385.
(4) Bloch: Naturrecht und menschliche Würde, S. 78.
(5) Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 275.
(6) Ebd. S. 167.
(7) Ebd. S. 169.
(8) Vgl. Lukács: Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats; in: ders.: Geschichte und Klassenbewusstesein, S. 174.
(9) Adorno: Zur Logik der Sozialwissenschaft; in: ders.: Soziologische Schriften I, S. 564.
(10) Adorno: Probleme der Moralphilosophie, S. 261.
(11) Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 428 ff.
(12) Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; in: MEW 1, S. 381.