Zur Kritk der Lesekreisbewegung

In der Druckausgabe war zu diesem Text noch ein Gewinnspiel angekündigt; wir bitten um Verzeihung; wir haben das Gewinnspiel in das Intro verlegt.

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Was ist, und zu welchem Ende betreibt man Lesekreise? Offensichtlich gibt es seit Jahren einen Hunger nach Theorie. Schon lange, bevor sich der Studentenverband der Linkspartei der Sache annahm und zu Abwechslung diesmal dieselben unvermeidlichen Figuren als Anleiter installierte, die schon seit Jahrzehnten dafür garantieren, dass, was gelesen wird, auch tatsächlich Theorie bleibt. Und diese beherrschen nicht einmal das Feld; sie teilen es sich mit den konkurrierenden Tendenzen der MG, der Bahamiten und einer Tendenz, die wir ironisch die Undogmatischen nennen wollen.

Man liest nicht nur das „Kapital“, man liest Lukacz, Adorno, auch die neueren: Scheit, Grigat. Man liest Michael Heinrich, in Gruppen, als ob das alleine zu schwierig wäre; man liest die beliebten und furchtbar schlechten theorie.org-Bände, so als ob sie „brauchbare Einführungen“ wären; kurz, man liest, als ob man Hunger hätte, aber keinen Geschmack.

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Seit um 2000 die Gewissheiten der 1990er Linken in ganzen Stücken heruntergefallen sind, findet man unter jungen und unruhigen Leuten das Bedürfnis, zu lesen und zu begreifen; ein natürliches und berechtigtes Bedürfnis; aber es erscheint unauflösbar verschränkt mit dem Wunsch, den Riss in der Welt, den man zu schmerzlich empfindet, wieder zu kitten, zwei oder drei Gewissheiten zu finden, auf denen zu bauen wäre. Welche Gewissheiten es aber nicht gibt; und weswegen sich das ganze Elend immer nur auf anderer Stufe wieder herstellt.

Die Wildheit, mit der dieses Bedürfnis um sich greift, ist erstaunlich; und es müssen zwangsläufig Chimären entstehen aus dieser Paarung von Wildheit und Intellekt. Der Vorgriff auf die erstrebte Gewissheit, zu der vorerst die Voraussetzungen fehlen, erzeugt etwas ganz eigenartig schiefes an den wenigen Vorurteilen, die man sich hastig angelesen hat und auf denen man erleichtert und vorschnell beharrt; der Horizont wird nicht weiter, nur die Isolation vermehrt sich.(1) Das Bedürfnis, das die Lesekreise antreibt, mag vom aufklärerischen herkommen, aber verschwistert sich mit dem ontologischen: dem Wunsch, nun endlich die Theorie zu bekommen, eine Antwort, einen festen Boden, um darauf zu stehen, und es droht, in diesem unterzugehen.

Man liest auch nicht etwa alleine, sondern kollektiv; wie um einzelne Erkenntnisse, die einem etwa kommen mögen, schon vorab zu nivellieren, und zu verhindern, dass sie den Konsens durchbrechen. Jede Denkschule hat ihre Anleiter, weil es natürlich heute niemandem zugetraut werden kann, sich seines Verstandes ohne solche Anleitung zu bedienen; als ob es unmöglich geworden wäre, selbst zu lesen.

Und keineswegs hat man sich gesagt sein lassen, was mit der Lesekreisbewegung passiert ist, die der historische SDS 1969 angeleitet hatte, und die zum Motor der ML-Bewegung geworden war; wie traurig, dass man sich anschickt, das selbe noch einmal zu probieren. Niemandem ist Spott über die K-Gruppen gestattet, der sich heute an diesem Unternehmen beteiligt.

3
Die Lesekreisbewegung ist wahrscheinlich konstitutionell unfähig, das Bedürfnis nach Aufklärung zu erfüllen. Was sie produzieren wird, wird wohl mehr dem Haufen wildgewordener Filosofiestudenten aufs Haar gleichen, der allerorten die Magazine vollschreibt mit den einfältigen Eingebungen ihres domestizierten Genies.

Nun ist nicht gesagt, dass es nicht hilfreich sein kann, in Gruppen zu lesen; und sinnvoller als viele anderen Sachen, die in Gruppen getan werden, ist es allemal; ich frage mich trotzdem, wozu das nötig sein soll. Vielleicht ist es gut, einen Kreis zu haben, der einen gemeinsamen Stand hat, in dem man diskutieren kann; aber auch das diskutieren scheint mir getrieben zu werden, wie man vielleicht Jogging treibt.

4
Die Literatur sich in Lesekreisen anzueignen, wird zu nichts besserem führen, als stillgelegte Fabriken sich anzueignen und selbstverwaltet weiterzuführen; ich meine die Parallele wörtlich; es kann ja die einzige Möglichkeit sein, aber sie führt nicht viel weiter; sie ist bestimmt von Not und nicht von Freiheit; und sie überschreitet gleich wenig hier den Bereich der Literatur, dort den der Fabrik, sondern betreibt beides weiter, nur unter den Bedingungen des Mangels; wo doch die Literatur heute selbst eine stillgelegte Fabrik ist, wie man vor allem an unserer sieht.(2)

Solange ich nichts von einem C.M. Wieland-Lesekreis höre, in welchem sich solche zusammentun, die Deutsch als tote Sprache wirklich in Wort und Schrift lernen wollen, will ich nichts mehr davon hören. Und solange es nötig ist, all den Aufwand zu betreiben nur dafür, die Beschränkungen des kleinen abgetrennten Segments der Literatur zu reproduzieren, und solange gar nicht daran gedacht werden kann, darüber hinauszugreifen, solange ist das alles völlig nutzlos.

Man hat nämlich die ganze Filosofie neu zu erfinden, und den Kommunismus und die ganze unendliche Welt. Man muss alles wissen. Man muss alles können, denn man muss „die Führung übernehmen“.

5
Literatur ist aufgespeichertes Gedächtnis; ohne zu lesen, wird man nicht dazu kommen, das Versteinerte wieder flüssig zu machen; und das Elend eines Zeitalters kann man unfehlbar ablesen an dem Elend ihrer Literatur. Das Elend ist aber nicht unausweichlich; es kann durchaus zurückgeschlagen werden; man muss es dazu vielleicht genau begreifen; und zuletzt braucht man wesentlich mehr dazu als Lesekreise und andere fruchttragende Gesellschaften.

Es handelt sich bei diesen und den meisten Organisationen dieser Szene und der Welt, von der sie kommt, nicht darum, zu lesen, um zu begreifen, sowenig Hunger ein Grund für die Herstellung von Brot ist. Es handelt sich nicht um das begreifen, sondern um Theorie. Theorie ist die Warenform des Begriffes. Es geht gar nicht um eine Wahl zwischen Theorie und falscher, illusorischer, wahnhafter Praxis; das Denken, Diskutieren, Lesen ist selbst eine Praxis; vielleicht eine der wenigen, die noch bleiben, gewiss.

Aber auch diese verkümmerte Praxis hat etwas wahnhaftes. Und dieses wahnhafte hat sehr viel damit zu tun, dass ein grösseres und nach Aufklärung hungriges Publikum nichts dagegen hat, Literatur bloss passiv zu konsumieren. Ich sehe nicht, dass man dadurch lernte, zu lesen und zu sagen: jener Gedanke war richtig, dieser ist aber falsch; und diesen Unsinn macht der Autor durch folgendes Mittel plausibel. Kritik finge aber genau so an: das richtige und das falsche zu unterscheiden. Und ich bezweifle sehr, dass die neuere Lesekreisbewegung es in der Regel darauf anlegt, und nicht darauf, dasjenige fetischierte Verhältnis zu den heiligen Texten herzustellen, ohne welches die ganze Szene gar nicht denkbar wäre; ein Verhältnis, dass es den selbstbewussteren erlaubt, jeden Unsinn aus der Schrift zu rechtfertigen.

Kritik wäre etwas anderes, aber eh man diesem Begriff nicht ganz neues Leben einhaucht, wird sich unter diesem Namen alles spreizen können, was sonst noch nicht einmal Theorie wäre; auch ein Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kargheit des heutigen intellektuellen Lebens.

1 Isolation ist nicht, wie man sich einreden mag, notwendiges Nebenprodukt gerade des Begreifens; die berüchtigte „Einsamkeit des Kritikers“; es ist ja nicht so, dass nur die Denkenden zum verzweifeln marginalisiert wären, alle einzelnen sind es.

2 Mehr als 80% der antideutschen Literatur sind Müll. Das ist ein wesentlich niederer Schnitt als der über die sonstige Literatur, wo man von bedeutend über 95% ausgehen muss; die Zahlen beziehen sich auf Zeitschriften und neuerschienene Bücher, gemessen nach Raummetern verarbeitetes Holz.

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0 Antworten zu Zur Kritk der Lesekreisbewegung

  1. Ale sagt:

    Diese Kritik ist zu abstrakt formuliert und schießt übers Ziel hinaus. Einerseits trifft sie auf Lesekreise der MG und vermutlich auch von DieLinke zu, wo es darum geht, sich „Theorie anzueignen“, wie der Staat sich die Körper einverleibt. Aber diese Art Lesekreise, wo ja gar nicht mal gelesen, sondern vorgekaut und präsentiert wird, sind in der Regel ohnehin langweilig und kein bei Vernunft gebliebener bleibt bei sowas länger als einer Sitzung, höchstens zwei. Gute Lesekreise, bei denen die Leute das Buch auch zu Ende lesen (wie häufig passiert das schon?), laufen doch anders ab. Soll die Neugierde nicht abflauen, dann bewährt sich solch ein Lesen nur indem es begreift und versteht. So nachvollzieht, wie Adorno vom Hörer abverlangt hat, dass dieser das Stück nachkomponieren müsse – idealerweise.

    Also glaub ich nicht, dass die „Lesekreisbewegung“, die Texte von Scheit und Grigat liest, so unorthodox vorgeht, wie die „Kopfarbeiter“, die sich heute Marx „aneignen“ – im Sinne des situationistischen Rekuperierens.

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