Über die vorletzte und die letzte Reserve der jetzigen Ordnung
1
Man kann an Syrien sehr genau nachzeichnen, wie ein demokratischer Aufstand massakriert worden ist, und aus dem Massaker ein Krieg islamistischer Banden entstanden ist. Es wird entscheidend sein, ob auseinanderzuhalten ist, wie das geschehen konnte. Das selbe gilt für Ägypten, oder Griechenland. Bisher ist rätselhafterweise noch niemandem eingefallen, das Heraufkommen der griechischen Faschisten dem Aufstand von 2008 als dessen eigene innere Tendenz zuzuschreiben; der sexuelle Terrorismus aber, die organisierten Vergewaltigungen, die in Ägypten als Waffe gegen die Revolution, und ihren gefährlichsten Teil: die Frauen, eingesetzt wird, gilt unter Europäern ganz selbstverständlich als Begleiterscheinung der Revolution selbst. (1)
Wenn man die Handlungen der einzelnen Akteure nicht auseinanderhalten will, sondern stattdessen lieber so tut, als sei das alles irgendwie dasselbe, und es zeige sich gewissermassen nur das Wesen der islamischen Gesellschaften, dann wird man z.B. auch nicht wahrhaben wollen, dass die ägyptischen Frauen unter anderem deswegen die Hauptlast der Konterrevolution tragen, weil ihre Beteiligung an der Revolution die grösste Gefahr für eine Ordnung gewesen ist, die ihre Abschaffung mindestens aus eben diesem Grund verdient hat. Die Frauen in Unterordnung zu terrorisieren: damit steht und fällt die Konterrevolution heute. Und alle Mächte, die heute die syrischen Kriegsparteien aufrüsten, gehören dazu.
2
Vor einigen Monaten gab es in Indien eine grössere Protestbewegung, nachdem eine Gruppe Männer eine Studentin stundenlang vergewaltigt und dann erschlagen hatte. Die Tatsache dieser Bewegung ist an sich schon bemerkenswert. Man soll nicht glauben, dass solche Verbrechen noch nicht vorgekommen wären. Im Gegenteil. Die Proteste erklären sich gerade nicht aus der Unerhörtheit des Verbrechens, sondern aus einem Ende der Geduld der Frauen mit dem endemischen, systematischen Charakter solcher Verbrechen.
Die Feindschaft gegen Frauen zeigt sich in vielen Gestalten. Von der Geburt an, die der Familie als Schicksalsschlag gilt, bis zu ihrem Tode, oft genug durch die Axt ihrer Familie oder Schwiegerfamilie, wird den Frauen klargemacht, dass sie eine Last sind, und mehr als das: eine Bedrohung, die mit allen Mitteln im Zaum gehalten werden muss. Das Geheimnis dieses Hasses liegt nicht darin, dass Frauen für weniger wert gehalten würden als Männer: das gäbe noch kein Grund für die obsessive, fast demonstrative Gewalt, und oft genug Ermordung; sondern darin, dass sie schon mit jeder Lebensregung gerade das in Frage zu stellen drohen, worauf diese Gesellschaft beruht.
Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, und innerhalb der Gesellschaft, gehorcht nie und nirgends einer Rationalität ausser der, dass diese immer eine gerade noch ausreichende Zahl von Menschen ernähren können muss, um noch bestehen zu können. Der Druck der tendenziellen Überflüssigkeit, der zunächst auf allen Einzelnen gleich lastet, lädt aber die unter dem Kapital weiterbestehende Herrschaft zwischen den Geschlechtern auf; und frisst gleichzeitig ihre innere Bindekraft an. Von seiten des Gesellschaft wird den Männern zu verstehen gegeben, sich für ihr Elend an den Frauen schadlos zu halten; deren Unterordnung soll die Integrität der Familie, der „Keimzelle des Staates“, garantieren. Da für diese Unterordnung allerdings sonst nichts mehr spricht, muss sie mit blanker Gewalt erzwungen werden. Am Körper der Frau wird gewaltsam die Unterwerfung nachvollzogen; zweckmässig in der häuslichen Gewalt, die die Unterordnung wirklich erzwingt, und demonstrativ, fast rituell im spektakulären Verbrechen.
Die Frauen geraten in die Situation, von der Gewalt fast überall umzingelt zu sein; sie sind gleichsam die gemeinsame Beute des Männergeschlechtes; zuhause der Tyrannei der Familie, vom Übergriff auf der Strasse, der das Verlassen des Hauses ahndet, auf diese zurückgeworfen. Von der Polizei und den Gerichten ist keine Hilfe zu erwarten; hier regiert eine Ordnung, die die Frauen den Männern fast offiziell zur Plünderung freigegeben hatte, und zwar aus keinem anderen Grund, als ihr eigenes Bestehen als Ordnung zu retten.
Vor diesem Horizont erscheint sogar die Forderung der protestierenden indischen Frauen nach der Todesstrafe für die Mörder fast wie ein Griff nach der Macht im Staate.
3
Das alles ist keineswegs auf Indien beschränkt; ebensowenig ist es ein archaischer Rückstand aus der Vorgeschichte, es sei denn auf dieselbe Weise, wie die ganze heutige Gesellschaft ein solcher archaischer Rückstand ist. Indien liegt ja sowenig als irgendein Land in einer Welt vor der Moderne. Die Wurzeln der jetzigen Zustände soll man im Zustandekommen der jetzigen Gesellschaft suchen, und nicht in der grauen Vorzeit der vier Veden.
Wer aber die vier Veden bemüht, das sind die Ideologen der Hindutva-Bewegung, der spezifisch indischen Ausformung des allgemeinen Irrsinns. Diese Bewegung, die man zuweilen auch Hindu-Nationalismus oder Hindu-Faschismus nennt, ist ungefähr in demselben Masse nach oben gekommen, in dem seit den 1970ern die Verelendung, und die Zurückdrängung der Frauen vorangeschritten ist.(2) Sie propagiert etwas, was sie für eine Rückkehr zur indischen Religion ausgibt; und in der Tat mögen die Gangster-Methoden dieses Haufens etwa in Bombay (3) denen der Strauchdiebe, von denen die Veden berichten(4), durchaus ähneln.
Die Lehre der Hindutva über die Stellung der Frauen ist nicht gut trennbar von ihrer Stellung zum indischen Kastenwesen. Diese peculiar institution kann man beschreiben als eine Einrichtung, in der der Binnenrassismus der indischen Gesellschaft, ihre soziale Segmentierung und die geschlechtliche Ungleichheit zusammengeführt sind: eine Einrichtung, die vor einigen Jahrzehnten erledigt zu sein schien (der Staatsgründer war ein Kastenloser), und die sich eben seit den 1970ern wieder neu zusammensetzt. Die Kasten sind dabei soziale Segmente, Körperschaften, deren Vorstehern bestimmte Befugnisse zustehen, und deren Mitgliedern eine bestimmte Stellung im Produktionprozess zugedacht ist. So gibt es z.B. Kasten, deren Mitglieder seit jeher für die Fäkalien von Delhi zuständig waren. Die Arbeit in der Kanalisation von Neu-Delhi ist extrem gefährlich, aber man kann sich denken, dass es eine unabhängige Gewerkschaft nicht geben wird, die Verbesserungen durchsetzen könnte; die Kastenoberen werden sich das nicht aus der Hand nehmen lassen.(5)
Die Kasten sind eigentlich Nationen in der Nation. Ehen werden oft von den Familien arrangiert, nach den Vorschriften der einzelnen Kaste. Heiratet eine Frau namentlich einen Kastenniedereren, riskiert sie ihr Leben. – Der Aufstieg aus der Kaste ist schwer, aber Kasten können insgesamt aufsteigen. Die Hindutva-Bewegung ist gerade eine Bewegung von niederen Kasten, die versuchen, ihren sozialen Aufstieg dadurch zu orchestrieren, dass sie tun, als gehörten sie zu den oberen Kasten. Sie übernehmen fanatisch die Regeln des alten Hinduismus, die eigens dafür da waren, Frauen und Leute, wie sie es sind, unten zu halten,(6) und zwar parallel zu ihrem wirklichen Aufstieg in der kapitalistischen Ökonomie. Die Heraufkunft dieser Bewegung steht in engem Zusammenhang mit der kapitalistischen Dynamik Indiens, und diese mit dem wachsenden Terror gegen die Frauen. Man kann das alles drei nicht getrennt voneinander nachzeichnen.(7)
4
Es gibt selbstverständlich Opposition gegen alles das. Die Bewegung der Kastenlosen hätte das Zeug zur relativen Mehrheit, jedenfalls dazu, der Hindutva ernsthaft entgegenzutreten; ein Bündnis mit den Bewegungen der Frauen wird schon lange diskutiert; aber die Parteien der Kastenlosen sind anscheindend unreformierbar korrupt. Um so bemerkenswerter sind die Proteste der indischen Frauen. Vielleicht erkennt man jetzt, wogegen sie sich wirklich richten: nicht etwa nur gegen ein einzelnes Verbrechen, sondern gegen ein ganzes System davon. Wenn die indischen Frauen die Proteste ernsthaft fortsetzen würden, oder wenn sich die Bewegung unterirdisch weiterfrisst, was dann?
Wenn das Regime, das über den indischen Frauen aufgerichtet ist, fiele, dann fiele die ganze bestehende Ordnung, zu der dieses Regime ein Schlusstein ist. Der Widerstand der Frauen gegen den zunehmenden Terror, das wäre die Axt an der Wurzel der jetzigen Ordnung. Deren Einrichtung bringt es mit sich, dass durch den Widerstand der Frauen nicht nur die ganze inoffizielle Staatsdoktrin, und die Funktion der Familie als feinste Verästelung der Herrschaft in der Gesellschaft zur Disposition stünden, sondern auch das Kastenwesen und damit der Mechanismus, durch den Indien seine kapitalistische Modernisierung, seinen Aufstieg zur Grossmacht organisiert.
Aus der alltäglichen Gewalt gegen Frauen ist schon jetzt abzulesen, wie sehr man sie fürchtet. Das Potential von Terror, das in dieser Ordnung lauert für den Fall, dass die Frauen sich ernstlich wehrten, würde wahrscheinlich das, was wir in Ägypten und Syrien sehen, noch übertreffen. Es ist jetzt schon absehbar, womöglich jetzt schon in Bewegung gesetzt. Aber der zweite Schlussstein dieser Ordnung, das ist die indische Nuklearwaffe.
Man kann Indien ohne die feindliche Verklammerung mit Pakistan nicht verstehen. Beide Regime verwalten ganz ähnlich gebaute Gesellschaften, mit ganz ähnlichen Widersprüchen; zuletzt garantiert nur der Kriegszustand einen Schein von Stabilität, und die Nuklearwaffen beider Seiten den Kriegszustand. Beide Regime haben keinen anderen Lebenszweck, als die gegenseitigen Bevölkerungen für den Fall einer Störung der Ordnung mit Einäscherung zu bedrohen.
Wenn aber die Schwachstelle dieser Ordnungen, die Unterordnung der Frauen, in Bewegung gerät, wozu wären diese Regime fähig? Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass etwas, das so anfinge, in einem nuklearen Krieg enden könnte. Die gegenwärtige Ordnung steht auf einem derart dünnen Boden, und verfügt dabei über derartige Mittel der Zerstörung, dass jede Bewegung eine katastrofale Entwicklung auslösen kann.
5
Vielleicht klingt das nach übertrieben. Deswegen werfen wir doch noch einmal einen Blick auf Syrien! Was als eine keineswegs mörderische und weder islamische noch exklusiv sunnitische Protestbewegung angefangen hatte, wurde nach der gewaltsamen Niederschlagung zu einer sunnitisch-arabischen Nationalangelegenheit, zu einer Gelegenheit zu einem ganz anderen Krieg. Die arabischen Mächte, die selbst noch schwer mit ganz ähnlichen Bewegungen zu kämpfen hatten, nutzten die Gelegenheit, indem sie gezielt die sunnitisch-islamistischen Kräfte ausrüsteten. Das iranische Regime, das sich von der Protestbewegung 2009/10 noch kaum erholt hatte, warf sein ganzes Gewicht hinter Assad. Auf den Trümmern der Protestbewegung wurde auf einmal ein regionaler Krieg ausgefochten.
Der Umschlag in den Krieg, mit möglichen weiteren Eskalationen, begann mit der gewaltsamen Niederwerfung; danach mit der Organisierung von Milizen und Todesschwadronen, die die Gegenorganisierung von Milizen mit sich brachte; zwischen den verfeindeten Milizen entstand ein militarisierter Konflikt, der wie immer die Entmächtigung der Frauen bedeutet; zuletzt griffen die regionalen Mächte ein. Alle Seiten stehen auf dem Sprung, in einen offenen regionalen Krieg zu flüchten; das sind die Umstände, in denen das iranische Regime heute nukleare Bewaffnung anstrebt. Glaubt irgend jemand, es würde eine Sekunde zögern, die zu benutzen?
Auch Assad zögerte ja keine Sekunde, seine Ordnung in Syrien dadurch zu verteidigen, dass er Syrien in Schutt und Asche zu legen begann. Die arabischen Mächte und das iranische Regime zögerten keine Sekunde, mit aller Macht dabei zu helfen. Die Ordnung, wie sie jetzt ist, wird mit allen Mittel verteidigt werden. Und die Ordnung ist sehr fragil geworden, soviel ist gewiss. Worauf die Revolutionäre nicht vorbereitet waren, das war das ganze Potential von Mord und Zerstörung, das diese Ordnung zu entfesseln im Stande ist. Gleich hinter ihr, im Schatten noch halb verborgen, halten sich die Todesschwadrone in Bereitschaft. Und es ist kein Zufall, dass sie in Ägypten und Syrien Jagd auf Frauen machen. Die Unterwerfung steht und fällt insgesamt mit deren Unterwerfung. Und es ist kein Zufall, sondern Strategie, dass Assad und ebenso die anderen Mächte den Aufstand in einem Krieg untergehen liessen: der Krieg nimmt den Frauen die Mittel aus der Hand. Ebenso, wie es kein Zufall ist, dass die Milizen islamisch werden. Beide Seiten exorzieren das selbe Gespenst: aber um die Gewaltsamkeit zu begreifen, muss man verstehen, dass dieses Gespenst da ist.
1 Die ägytischen Frauen haben sich überproportional an der Revolution beteiligt. Sie haben die Ordnung unter Mubarak als Garanten der Ordnung der Familie begriffen, und ihr Handeln stellte die Herrschaft der Familienväter nicht nur symbolisch in Frage, sondern praktisch. Der Gegenschlag setzt da an, und rechnet darauf, sich auf die Rachsucht der Männer stützen zu können. Der Vorläufer dieser Revolution, der Aufstand von Mahalla al Kubra, enthält in den Szenen von Arbeiterfrauen, die Polizisten verprügeln, das alles schon in Keimform.
3 Welche Stadt sie auf den Fantasienamen Mumbai umbenannt haben, nach einer Gottheit, von der nie jemand gehört hat; die dortigen Hinutva-Leute heissen Shivsena, eine Partei, deren Gründer auf den ur-indischen Namen Thackeray hörte und dessen bevorzugte Methode das Rollkommando und der Meuchelmord gewesen sind, recht als hätte er sich Brechts „Arturo Ui“ zum Vorbild genommen.
4 Der Gott Indra z.B. holt die Rinder von den „Viehdieben“ „zurück“. Der Mythos gibt sich gar nicht erst die Mühe, zu verschweigen, dass die „Viehdiebe“ die ursprünglichen Eigentümer waren, deren Diebstahl eben darin bestand, Indra die Rinder nicht gutwillig zu überlassen.
5 Solchen starren Strukturen verdankt sich die Mär, in der „indischen Kultur“ gälten solche gefahrgeneigten Tätigkeiten eben als Teil des Karma. Welche Mär gut von den Kastenoberen selbst aufgebracht worden sein kann. – Das alles klingt natürlich völlig fremdartig für Europäer, jedenfalls für solche, die noch nie gehört haben, dass sowohl auf dem Land, als auch in den Industriezentren Arbeitsplätze genauso in der Familie vererbt werden, wie anderswo. Die Existenz solcher Strukturen, irgendwo zwischen Kastenwesen und Klientelismus, darf man getrost überall vermuten; von der Prosperität überdeckt, werden sie sich in der Krise immer zeigen.
6 Man kann in dem Buch „Why I am not a Hindu“ von Kancha Ilaia eine recht hart geschriebene Abrechnung mit diesem System und dieser Bewegung nachlesen. Man sollte nie vergessen, dass Ilaia gleichzeitig auch auf unangenehme Weise ein Narodnik ist; die Passagen im Buch, in denen die solidarische Ökonomie der bäuerlichen Gemeinden geschildert wird, sind abscheulich. Gleichzeitig ist es die erste und schärfte Probe einer Kritik des Hinduismus als Ideologie und Praxis, die es heute gibt.
7 Begreifen schon. Aber die konkrete Ausformung ist es, was der Sache ihr wirkliches Gesicht gibt, und sie gegebenenfalls lesbar werden lässt.
von Jörg Finkenberger
Pingback: Indien unter Modi | Das grosse Thier
Pingback: (De)generation Europa | Das grosse Thier