Oder: in was für einer Welt leben wir eigentlich?
Von Vince O’Briann
Dieser Text ist aus dem Letzten Thier. Wir hatten ihn noch nicht auf dem blog, wir bringen ihn, eh die Sachen aus dem neuen kommen, damith er nicht ganz vergessen werde.
Ich kenne durchaus nicht wenige Leute, die sich keine sog. Nachrichten mehr ansehen; nicht nur, weil sie es nicht mehr ertragen, oder nicht die Kapazitäten haben, wirklich auseinanderzuhalten, was das alles bedeuten soll; sondern vor allem auch aus einer an sich sehr verständlichen Antipathie gegen die Geschichte selbst, so wie sie abläuft; oder aus abgrundtiefen Misstrauen daran, dass die Art von Information darüber, der man ausgesetzt ist, irgendjemandem etwas anderes bringt als immer nur mehr Panik und Desorientierung. Ich weiss selbst nicht so recht, was ich davon halte; aber dass niemand, wirklich niemand eine vernünftige Erlärung für das alles anbietet, das kann ich nicht bestreiten. Das scheint ein Teil dieses Problems selbst zu sein.
1.
Obwohl die Geschichte von Menschen gemacht wird, ist sie den Menschen als ihr eigenes Werk nicht ohne weiteres verständlich. Denn das Gesetz, unter dem sie gemacht wird, ist rätselhaft. Alle, die vorgeben, den Schlüssel und die grosse Methode zu kennen, sind ohne weiteres Lügner, die Narren suchen, die ihnen folgen; vom kleinen Sektierer bis zum grossen Gelehrten, und je gebildeter, desto schlimmer; denn nur die gebildetsten verstehen es, auf ihre erschlichenen kleinen Selbsttäuschungen selbst hereinzufallen. Die übrigen müssen sich damit abfinden, um so tobender auf der Richtigkeit derjenigen offenkundig unglaubhaften Lügen zu bestehen, an die sie glauben.
Dieser Zustand, den wir Geschichte nennen, scheint allerdings sowenig stabil zu sein, wie er vernünftig wäre. Wir kennen Situationen, in denen er durchschaubar zu werden scheint bis auf den Grund. Regelmässig versagt bei solchen Gelegenheiten den berufsmässigen Deutern das Radar, während die Lage doch wirklich klar zu sein scheint. Der Aufstand von 2009 und seine Fortsetzung von 2011 wäre solch ein Beispiel, der einen unbefangenen Beobachter nicht überraschen hätte können, während vom Biertischpolitiker über den Zeitungskommentator bis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten niemand zu wissen schien, woher das kam und warum.
Die spezialisierten Apparate begriffen nicht, was geschehen war, während Geschichte sichtbar wurde als Ergebnis der Handlungen von Menschen: sie produzieren sie, oder sie produzieren sie eben nicht mehr. Sichtbar wird so etwas anscheindend immer nur, wenn sie sich weigern. Ein Generalstreik hat eine durchaus unterschätzte erkenntnistheoretische Relevanz. Womit wir und die berufsmässigen Analysten es sonst zu tun haben, sind Akteure und deren Kalküle, die zwar ganz der gegebenen und bekannten Logik gehorchen, allerdings in der Tat auch den sonst so wendigen Analysten völlig unbegreiflich sind.
Die einzelnen Akteure haben unzweifelhaft ihre Kalküle, die man sogar nachvollziehen kann. Geholfen ist damit gar nichts. Den sogenannten islamischen Staat haben z.B. alle möglichen Akteure unterstützt, nacheinander, aus Gründen, die ihnen vielleicht klug vorgekommen sind. Alle wollten irgendwelche Feinde oder Verbündete einschüchtern. Die Summe der Einzelkalküle ist nur irgendwann zu irgendetwas eskaliert, mit dem niemand gerechnet hatte und das auf niemandes Handeln mehr zurückgeführt werden kann.1 Dieses Spiel ist nicht neu. Aus den letzten hundert Jahren wird man sich an ähnliches erinnern. An so einem Punkt stehen wir heute wohl wieder.
Gerade an einem solchen Punkt, wenn es am gefährlichsten wird, verliert diejenige Art von Vernunft oder Verstand, der es hat soweit kommen lassen, jede Aussagekraft. Die geläufigen Weltdeutungen, wenn irgendjemand, sogar ihre eigenen Proponenten sie überhaupt ernst nähmen, müssten jetzt von Rechts wegen in völlige Auflösung geraten sein. Sie sind, so wie sie sind, völlig wertlos. Sie haben uns nichts mehr zu sagen. Sie sind Müll aus Worten, dazu da, um abzulenken davon, dass nichts verstanden worden ist. Wie hat es soweit kommen können, wenn schon der Anfang nicht so recht hat sein können und das bisherige Ende unerklärlich ist?
2.
Natürlich gibt es noch die Antisemiten, immer für wahnhafte Weltdeutungen gut. Deren Parteien befinden sich seltsamerweise gegeneinander in Bürgerkriegen in Syrien, dem Iraq und der Ukraine. Aber es gibt auch solche, die die gegenwärtige Geschichte für eine des Kampfs der Antisemiten gegen Israel halten. Israel selbst aber steht währenddessen, wie es scheint, fest im arabischen Lager. Neuerdings sieht man arabische Antisemiten deswegen auf europäischen Hauptstrassen demonstrieren. Die europäischen Bürger sind darüber zu Recht sehr aufgebracht, denn so etwas ist auf europäischen Strassen, wenn ich es richtig verstehe, noch nie vorgekommen, schon gar nicht mit Unterstützung der Polizei. Sie hoffen deswegen auf die Polizei, dass sie dergleichen ausländischen Umtrieben ein Ende setzt. Dankbar nehmen sie zur Kenntnis, dass sie deswegen nicht als Nazis dastehen, sondern als Antifaschisten. Wenn sie begreifen könnten, dass das der Sinn der Inszenierung war (als ob die Polizei gegen Demonstranten, vor allem zugereiste, nicht normalerweise ganz anders vorginge), wären sie nur noch dankbarer.
Die USA haben es eilig, aus dem Mittleren Osten herauszukommen und dem Iran die Schlüssel zu übergeben. Das liegt am unfähigen Präsidenten, sagen die einen, aber der letzte war genauso. Die anderen lassen sich darin nicht stören, alles, was passiert, trotzdem der USA ins Schuldbuch schreiben zu wollen. Man kann es nicht allen rechtmachen, nehme ich an, sondern genau niemandem. Die iraqischen Parteien konspirieren gegeneinander, mit dem Resultat, Mosul an etwa 1.800 Mann zu verlieren, die ein halbes Jahr vorher aus der Qa’idah herausgeflogen waren.
Inzwischen tun Europa und Russland das, was vor 6 Monaten nur ein paar völlig Bekloppte gesagt haben, dass sie tun werden: sie pflegen einen Konflikt und eskalieren ihn sorgsam bis zum bekannten Punkt, an dem niemand mehr weiss, wie es dahin gekommen ist, und zwar ohne dass irgendjemand dafür bisher mit einem ökonomischen oder sonstigen Grund um die Ecke gekommen wäre, soweit ich weiss. Beide Seiten benutzen Nazi-Truppen und berufen sich auf den Antifaschismus. Das ist immerhin der Unterschied zu der Scheisse, die in Griechenland oder Ungarn passiert, wo das nichts so schnell jemand behauptet.
Die letzten Jahre waren schon wahnsinnig genug. Aber die Wendungen dieses Jahres spätestens machen alle Politik zum Geplapper. Wohin dieser Zug fährt, und wie schnell, das weiss man auch ohne Doktortitel. Und wenn man den zugegeben anspruchsvollen Satz akzeptiert, dass der Mittlere Osten nicht das Mittelalter darstellt, sondern die Zukunft, dann könnte man sich eine Warnung daran nehmen. Der syrische Krieg und neuerdings das Schicksal der Yeziden führt es vor. Die politischen Ideen führen in die panische Flucht vor dem Mord in den Mord.
3.
Ich glaube nicht an den Todestrieb, aber vor einem Jahr habe ich mit mehr Verve nicht an ihn geglaubt. Jedenfalls einen Katastrophentrieb muss ich dieser Ordnung unterstellen, mindestens Katastrophentendenz, weiter lasse ich mich nicht herunterhandeln, und damit ruiniere ich mich schon. Sie scheint mir nicht ganz identisch zu sein mit der Krisentendenz, von der die Kritik der politischen Ökonomie redet.
Denn natürlich hat die Weltökonomie noch eine Krise am Hals. Man muss gar nicht eigens von dem Zeug reden, das immer noch in den Bankbilanzen steht. Die Verhältnisse, die es dahin gebracht haben, sind noch fast alle da. Das ist nicht ganz selbstverständlich. Immerhin hat es eine konkurrierende Währungsabwertung gegeben, die die Weltmarktposition der EU, USA und Japans gegenüber den sog. Schwellenländern hätte bedeutend verbessern müssen, ausser dass sie es nicht getan hat. Die Krisensituation hat sich sogar noch eher verschärft: das Leistungsbilanzdefizit der USA ist noch da, nur die terms of trade haben sich verschlechtert.2
Die Realität ist bekanntlich manchmal vulgärökonomisch, und die Zahlen unerbittlich: was ansteht, und keiner weiss, ob so etwas in Friedenszeiten möglich ist, ist eine Veränderung der amerikanischen Stellung in der Weltökonomie, eine aggressivere Handels- und Industriepolitik mit dem Ziel, wieder eine Exportnation zu werden. Unter den Namen Fracking und Pivot to East Asia ist das Teil des Programms der Obama-Regierung geworden. Von hier aus zeigen sich der Rückzug aus dem Mittleren Osten und die Sanierung der Bankbilanzen als die selbe Sache, und es zeigt sich, wie wenig von Friedenszeiten die Rede sein kann.
Worauf es hinausliefe, ist nichts anderes als ein Polsprung in den globalen Warenströmen, und was wir im Mittleren Osten sehen, ist nur der Anfang davon. Ob das alles gelingt, weiss niemand. Alles, was man weiss, ist, dass es geplant ist.3 Vielleicht ist auch das nur eines von diesen Kalkülen, die zu völligem Desaster eskalieren, statt irgendwie zu gelingen. Das ist umso wahrscheinlicher, als er erzwungen worden ist von zwei Entwicklungen, die beide in keinem Buch vorgesehen waren: die ökonomische und die politische Krise seit 2008, von der wir uns erinnern werden, dass sie aufeinander nicht reduzierbar sind. In Griechenland z.B. begann die politische vor der ökonomischen.
Die ökonomischen Krisen sind bewusstlose Prozesse, die Aufstände sehen aus wie bewusste. Man tut ihnen damit vielleicht zuviel Ehre an. In beiden Fällen empört sich die Naturalform von Waren gegen ihre Wertform4. Alles, was beide Prozesse darüberhinaus zusammenzwingt, vergleichbar macht, ist die Dynamik der Krisenbewältigung. Der Prozess selbst, Staat und Kapital, setzen sich durch sie fort.
4.
Ebensowenig wie an den Todestrieb aber glaube ich an den Staatszerfall, oder das berühmte „Abschmelzen der Wertsubstanz“, auf dem Robert Kurz zu bestehen pflegte. Es hat sich irgendwann nachgerade eine Art Weltuntergangsfimmel eingebürgert, gegen den noch lange nicht genug geschrieben worden ist. Aus irgendeinem Grund scheinen Linke neuerdings gerne zu glauben, die Formen Staat und Kapital hätten sich erschöpft oder brächen zusammen, und setzten dabei eine unmittelbare Herrschaft der Rackets aus sich heraus.
Ich bin kein Horkheimer-Philologe5, und denke auch nicht, dass solche Dinge mit Mitteln der Philologie bewiesen werden. Ich überschlage nur grob die Weltbevölkerung von heute und von sagen wir 1965 und den Anteil von ihnen, der heute und der damals unter als Staat funktionierenden Strukturen und insbesondere unter industrieller Lohnarbeit lebt, und mir scheint diese Zahl nicht zu sinken, sondern bedeutend zu steigen. Auf ein Somalia von heute fällt mir ein Somalia von 1965 und ein Puntland von heute ein.6 Dass soll nicht heissen, dass es irgendwie einfach besser statt schlechter wird; sondern dass die kapitalistische Moderne samt ihrer Staatlichkeit sich durch Krieg und Bürgerkrieg, Zerfall und Staatsgründung hindurch bewegt, schon immer. Nicht der Zusammenbruch, nicht der Zerfall, sondern der Normalzustand sind es, was hier zu sehen ist.
Diesen Normalzustand hat niemand jemals fassen können, auch die Linke nicht, bis heute. Tendenziell ist jedes Ideologem recht, ihn nicht fassen zu müssen. Ich erinnere mich an gewisse Talkshow-Professoren, die uns vor zehn Jahren noch erklärten, der Kapitalismus käme heute irgendwie ohne Industriearbeiter aus. Seit 2008 hört man das Geschwätz über die sog. Dienstleitungsgesellschaft nicht mehr so laut, ausser etwa bei der Linken, wo man heute noch Dinge mit ernster Miene diskutiert, für die man sich früher sogar beim DGB geschämt hätte. Damals hiess das alles aber auch noch Post-Fordismus, und man glaubte noch ans Ende der Geschichte.
Was hat das mit dem Thema zu tun? Die gegenwärtige Katastrophe, die wie in Zeitlupe direkt vor unseren Augen abläuft, zwingt uns aus mehreren verschiedenen Gründen in die Schockstarre. Die Katastrophe der Yeziden etwa, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit abspielt, ohne dass irgendetwas dagegen geschieht, sollte reichen, einen besonnenen Menschen um den Verstand zu bringen.7 Aber manche dieser Gründe sind auch selbstverschuldet. Die Panik, die eingibt, der sog. IS sei nicht zu stoppen, weil die iraqischen Kräfte vor ihm davongelaufen sind, das ist eine originale Zutat des Betrachters.
Der IS muss und wird aufgehalten werden. Und gerade jetzt muss man an die Lektion erinnern, die Mahmoud Salem uns vor Zeiten über die Hoffnung gegeben hat. Man wird sich hüten, die PKK zu rühmen; in Kobane kämpfen zu der Zeit, wo ich diese Zeilen schreiben, dem Vernehmen nach auch türkische Anarchisten.8 Es muss nicht dazu kommen, dass gegen sunnitische Islamisten nur noch schiitische Islamisten kämpfen, gegen nichts als Araber nur noch nichts als Kurden; alles Leute, die sich durch die Katastrophe zu Völkern machen.
Es muss nicht. Es wird lediglich so kommen. Das ist ein grosser Unterschied. Danach wird die europäische Bürgerklasse ein neues Exempel ihrer Weltanschauung haben, nach welcher sie eigentlich gar nicht existiert und nichts tun kann, ungeachtet der Tatsache, dass ihre nach genau diesen Kriterien gebildete öffentliche Meinung die sog. Welt beherrscht. Ihr Kind, die sog. Linke, sieht ihr übrigens zum Verwechseln ähnlich, nur dass es den Laden nie geerbt hat. Von ihrem noch nichtnutzigeren Enkelkind will ich heute nicht reden.
1 Der Mittlere Osten besteht nicht unwesentlich daraus, dass man es dort dennoch versucht. Die bekannten monströsen Verschwörungstheorien kommen daher.
2 Es ist gar nicht einfach, zu erklären, was das eigentlich bedeutet. Die terms of trade sind ohne mikroökonomische Verflechtungen gar nicht zu begreifen. Deswegen neigen die Ökonomie-Linke bzw. linke VWLer dazu, lieber makroökonomische Grössen wie Wechselkurse zu betrachten. Die haben auch den Vorteil, dass sie leichter in rechnerische Gleichgewichte fallen oder durch staatliches Handeln veränderbar sind. Sie haben aber leider, wie gesagt, den Nachteile, dass solche Veränderungen nicht immer die Prozesse abbilden, die wirklich stattfinden bzw. wirklich stattfinden sollen.
3 Wenn es nicht gelingt, wird die USA demnächst vor dem Konkurs stehen. Nicht wegen des sog. Twin deficits selbst, sondern weil es wegen der Entwicklung der terms of trade nicht mehr gelingen wird, es zu finanzieren.
4 Der klassische Auslöser von Aufständen unter massenhaft erwerbs- und perspektivlosen Jugendlichen ist derjenige Polizeiübergriff, der einer zuviel gewesen ist. Deutlicher kann man nicht machen, welches Stabilitätsrisiko die Anhäufung ausser Kurs gesetzter Arbeitskraft bedeuten kann.
5 Horkheimer hätte sich ganz gewiss gegen die Vorstellung verwahrt, dass ein Wesen als es selbst erscheinen könnte. Er hätte ganz gewiss darauf hingewiesen, dass die Herrschaft der Rackets sich im Staat und durch den Staat hindurch fortsetzt und äussert. Er hätte das wahrscheinlich als den inneren Kern seines Racketbegriffes angesehen und sich dagegen verwahrt, mit Carl Schmitt verwechselt zu werden, den legitimen Ahnherren derartiger Vorstellungen.
6 Hinter dem Begriff des Staatszerfalls versteckt sich auch der Begriff des nicht anerkannten Staates; etwas, das wie ein Staat fungiert, aber nicht als Staat gilt, u.a. wegen des Grundsatzes, keine neuen Grenzen anzuerkennen. Einige dieser de-facto-Regime sind eher wie die Taliban. Einige sind eher wie die kurdische Regionalregierung. Man könnte auch dem Umfang der einen und der anderen Sorte im Jahre 1965 mit heute vergleichen.
7 Nicht, weil dergleichen nicht oft geschehen wäre in unserer Zeit; sondern gerade, weil das der Menschheit angetan werden kann nicht nur in ihrem vollen Bewusstsein, sondern sogar unter ihrer konzentrierten Aufmerksamkeit, und weil selbst dann nicht einmal ein Wort darüber zu hören ist. Wir haben das Jahr 1994 erlebt, aber nicht an Twitter und an Facebook, und es war nicht Headline auf spiegel.de.
8 Auch 2011 hat man bei uns keine Parteien sehen wollen, während sie doch in vollem Kampf lagen; sondern nur wieder ein Exempel davon, wie die Staaten zu Banden zerfallen.