„Übt euch im Hass auf die neue Regierung!“

von W.Z.

(Wir veröffentlichen einen interessanten Kommentar, den die ukrainische Autonome ArbeiterInnen-Union angesichts der sich anbahnenden Regierungskriese abgegeben hat. – das GT)

Neuerungen stellen nicht nur das wichtigste Prinzip des Marktes dar, sondern auch im Bereich der Staatsregierung. Alte Warenmarken und -unterarten werden von neuen abgelöst. Telefone, Mikrowellen, Minister und Beamte verbleiben in steter Bewegung. Die langweilig gewordenen Geräte und Politiker werden gegen neue ausgetauscht. Auf diese Weise bleibt bei dem/der VerbraucherIn das Interesse und das Vertrauen in diese Institutionen erhalten. Teilen wir diesen Artikel in zwei Teile auf. Wir beschäftigen uns nicht mit den für „AnarchistInnen“ oder „MarxistInnen“ traditionellen radikalen magischen Ritualen und dem Zurechtbiegen von Fakten unter vorgefertigte Fazite, die von ein paar auswendig gelernten „revolutionären“ Ideologemen oder subkulturellen Stereotypen diktiert sind.Versuchen wir zunäxt die Charakteristika der systematischen Probleme der Funktionsweise des hiesigen Staates zu verstehen. Wir sind natürlich vom ganzen Herzen für die Abschaffung des Staates, aber das Faktum seiner Existenz zu ignorieren wäre noch ein wenig kurzsichtig.
„Ich zögere, nicht zu sagen, dass der Staat das Übel ist, – schrieb Bakunin in seinem Werk „Das knuto-germanische Reich und die soziale Revolution“, – aber ein geschichtlich notwendiges, ebenso notwendig in der Vergangenheit wie es früher oder später seine vollständige Vernichtung sein wird, ebenso notwendig, wie die anfänglich tierische Natur und die theologischen Verirrungen des Menschen“.
Es wäre noch anzumerken, dass Revolutionen sich nicht von selbst aus schmutziger Wäsche erzeugen, sondern passieren aus den durchaus objektiven ökonomischen und politischen Gründen. Deswegen ist es sehr wichtig zu verstehen, was für Prozesse innerhalb eines „historisch notwendigen Übels“ stattfinden.Die heutige ukrainische Regierung ist unpopulär und stützt sich auf die Spitze einer korrumpierten Bürokratie. Indes ist der ukrainische Staat kein eigenständiges Subjekt und kein Hegemon wie der russische. Die Regierung bleibt der Ort, an dem sich Interessen verschiedener Gruppierungen herrschender Klassen kreuzen (der Kapitalisten und der Bürokratie). Das Austauschen von Jazenjuk gegen Jaresko oder Hrojsman (1) wird nicht zu einer fundamentalen Änderung der Regierungspolitik und zur Liquidation der Systemkrise, in der sich der ukrainische Staat seit 2013 befindet. Die Krise also, die zum Maidan geführt hat, ist nicht gelöst und wird nicht unserer Meinung nach selbst von der näxten Regierung gelöst werden.
Das System der Korruptionsrente wird nicht abgeschafft werden und der Staatshaushalt wird nicht aufhören, das Großkapital zu subventionieren. Versuche, Kolomojskys (2) Appetite beispielsweise zu begrenzen, führten zu einem Kompromiss zwischen dem „Oligarchen“ aus Dnipropetrowsk und dem Präsidenten Poroschenko, obwohl die Logik des Prozesses die „Enteignung“ des patriotischen Unternehmers und seiner Konkurrenten Achmetow und Firtasch (3) erforderte. Eigentlich ist die Ukraine zur Machtkonfiguration der Ära Juschtschenko (4) zurückgekehrt. Große Finanz- und Industriegruppierungen und der Beamtenapparat kehren zum Korruptionssystem vor der Krise, obwohl ihre Möglichkeiten die abstürzende Wirtschaft weiterhin auszubeuten schwinden immer mehr.
Wir erinnern, dass eine Eigenart des hiesigen Kapitalismus in der Unterstützung des Großkapitals auf durch Gewährleistung von Privilegien und Subventionen seitens staatlicher Monopolen (Energie- und Transportunternehmen) und des Systems der Staatsbeschaffungen. Auf diese Weise „vergesellschaftet“ das Großkapital seine Unkosten, d.h. wälzt sie auf alle SteuerzahlerInnen ab. Andererseits begründet schwache Position der EigentümerInnen das System des Geldeintreibens vom Business von der Gemeindeebene bis zum Ministerkabinett herauf. So kriegt die Bürokratie ihre Korruptionsrente vom kleinen und mittleren Kapital.
Unter Jaresko werden sich die Stärke und der Einfluss des Auslandskapitals erhöhen. Unter Hrojsman wächst die Bedeutung von mit Poroschenko verbundenen Finanz- und Industriegruppierungen. Ohne Veränderungen in der Judikativen, die wir zwei Jahre nach dem Maidan immer noch nicht gesehen haben, wird es auch keine Trennung zwischen dem Business und der Regierung geben. D.h. der Staatshaushalt wird weiterhin konkrete Interessen von politisch bedeutenden Personen bedienen und die Bürokratie ihre Tribute einkassieren.
In dieser Hinsicht fällt die ukrainische Bürokratisierung der Wirtschaft in den weltweiten Trend zur aktiven „Hilfe“ für den großen Business seitens der Regierung. Gleichzeitig ist der bürokratische Tribut in den entwickelten Ländern nicht so verbreitet. Das ist „nicht einmal Kapitalismus“, wie es der Anthropologe und Anarchist David Graeber in seinem Interview für „Socialter“ scharfsinnig behauptet:
„Als ich Student war, mein Dozent für Geschichte und Wirtschaft pflegte zu sagen, dass das Erzeugen von Saldo mittels gezielter politischer Handlungen nicht Kapitalismus, sondern Feudalismus heißt. Im Grunde genommen ist es das, was wir heute haben: das Zusammenschmelzen staatlicher und unternehmerischer Bürokratien zum Zwecke einer immer weiteren Erzeugung von Schulden, die dann in Objekte verschiedener Spekulationen umgewandelt werden“.
Später in Interview schlüpft Graeber wieder in seine Lieblingsrolle eines „Anklägers der Schuldensklaverei“, dennoch beschreiben seine Worte unsere Situation besser als Eigenarten der kapitalistischen Entwicklung im Westen. Bei uns stellt die Korruption eine Institution zur Umwandlung politischer Herrschaft in Geld. Um sie loszuwerden, muss man nicht nur die Persönlichkeiten an der Macht austauschen und Hunderte von Gesetzen verändern. Wir brauchen eine Abschaffung der staatlichen Herrschaft. Dafür sind aber keine subjektiven politischen Bedingungen gegeben. Das System der Korruptionsrente bremst die ökonomische Entwicklung des Landes aus. Egal, wer PremierministerIn wird, OberbürgermeisterInnen werden nicht aufhören, das Geld im Zentrum „vorbei zu bringen“.Wir sehen also, dass nach einer „Erneuerung“ der Personalien im Ministerkabinett der ukrainische Staat kaum effizienter oder günstiger selbst für die Kapitalakkumulation sein wird.
Also macht es Sinn, sich darauf einzustellen, die neue Regierung jetzt schon zu hassen.
Es gibt zwei Organisationen, denen man unter keinen Umständen trauen darf. Das sind Polizei und Regierung. Wenn ihr den Cops vertraut, geht ihr zunäxt zu Demos, um „gute PolizistInnen“ zu unterstützen, und dann zum Zahnarzt, um sich neue Zähne statt auf der Polizeistation ausgeschlagener, machen zu lassen. (5) So sind die Eigenschaften jeder unkontrollierten, d.h. jeder Herrschaft, die keinen steten Druck von unten verspürt.
Jaresko oder Hrojsman zu vertrauen ist genauso dumm, wie einem Cop Vertrauen entgegen zu bringen und gleichzeitig einem alten Bullen nicht mehr zu vertrauen, obwohl beide Vertreter desselben Repressionsapparates sind, der nach immer gleichen Regeln, Gesetzen und ethischen Prinzipien funktioniert. (6)
Im Aufsatz „Wissenschaft und die aktuelle Sache der Revolution“ schrieb Michail Bakunin:
„Was im privaten Leben Abscheu, Niederträchtigkeit, Verbrechen genannt wird, wir für eine Regierung zu Ehre, Tüchtigkeit und Pflicht. Machiavelli hatte tausendmal Recht, als er behauptete, dass die Existenz, das Gedeihen und die Stärke eines jeden Staates – egal ob monarchistisch oder republikanisch – sich auf Verbrechen gründen müsse. Das Leben einer jeden Regierung ist notwendigerweise eine ununterbrochene Reihe von Abscheulichkeiten, Niederträchtigkeiten und Verbrechen gegen alle fremden Völker und außerdem, und das hauptsächlich, gegen das eigene Gesindel, ist also eine unendliche Verschwörung gegen das Wohlergehen des Volkes und gegen seine Freiheit“.
Welche Schlüsse sollen wir aus dem Ganzen ziehen? Lernen, jede Regierung schon im Voraus zu hassen. Aber das ist noch nicht alles. Wir sollen auch die fehlerhafte Taktik der PopulistInnen bedenken und uns darauf vorbereiten, unser „Programm des ersten Tags der Revolution“ zu realisieren.
Die Systemkrise ist nicht überwunden und kann in absehbarer Zukunft die Mechanismen der näxten bürgerlichen Revolution vom Neuen starten, der die AnarchistInnen den sozialen Charakter geben müssen.

Anmerkungen:
1) Arsenij Jazenjuk – seit Februar 2014 ukrainischer Ministerpräsident; Natalija Jaresko – seit Dezember 2014 ukrainische Finanzministerin; Wolodymir Hrojsman – ukrainischer Parlamentspräsident.
2) Ihor Kolomojskyj – Multimiliardär, Gouvernuer des Dnipropetrowsker Gebiets.
3) Rinat Achmetow – Politiker und einer der reichsten Menschen in der Ukraine; Dmytro Firtasch – ebenfalls einer der reichsten UkrainerInnen, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes.
4) Wiktor Juschtschenko – war 2005-2010 ukrainischer Präsident.
5) Am 7. Februar beschossen Polizisten mitten in Kiew ein Auto, um es zu stoppen, und verletzten dabei tödlich den minderjährigen Beifahrer. Daraufhin gab es Solidaritätsbekundungen und -demonstrationen für die „guten Cops“.
6) Diese viel bejubelte Reform der Polizei war eine der wichtigsten Forderungen des Maidan. Nur scheint sie mancherorts nicht vollständig umgesetzt zu sein, weswegen immer noch zwei Polizeistrukturen parallel zu einander existieren.

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