Jörg Finkenberger
Jetzt, wo der nahezu gänzlich tot ist, ist vielleicht die richtige Zeit, sich das hier zu Fragen. Hätte man nicht erwarten können, dass man von einem so hohen Herren mehr als zweimal etwas hört, nämlich wenn er zum „Kalifen“ erklärt wird, und wenn er wiederholt für tot erklärt wird? Sollte man nicht auch hören, dass er irgendwelche Entscheidungen getroffen, Reden gehalten, irgendjemanden ernannt hat? Was Herrscher so machen? Jedenfalls sollte man das doch erwarten, wenn die treibende Kraft hinter dieser politischen Bewegung der Hunger des sunnitischen Islam nach einem Kalifat sein soll, und nicht etwa das Ganze eine Ansammlung von alten ba’thistischen Obristen. Man hätte doch erwarten, dass dieser „Kalif“ ein bisschen mehr rumgezeigt wird vielleicht. Die Person des Kalifen selbst soll doch, wenn ich es richtig verstehe, angeblich die religiöse Legitimation weltlicher Herrschaft vermitteln, und das soll es doch gewesen sein, was den IS so unbesiegbar gemacht hat, und nicht etwa die chronischen Betrügereien der angeblich gegen ihn alliierten. Man hätte sich doch unter so einem islamischen Staat ein bisschen etwas anderes vorzustellen, als denselben Haufen von altgedienten Killern, nur „Jetzt Neu! Mit Kalif“. Warum erklärt man nicht offen: Der sogenannte Islamische Staat ist genau die Struktur, die es angeblich nie gegeben hat: eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und der Qa’ida? Jede Sorte Regime hatte ihre Leute in al Qa’ida. Die Fraktion, die für Saddam Hussein arbeitete, taucht zum Beispiel ab 2001 in der Gegend von Halabja auf. In diesem Milieu entsteht die Vorläuferorganisation des IS, al Qa’ida im Zweistromland. Diese hat es bisher zweimal geschafft, die anderen Organisationen des sunnitischen „Irakischen Widerstands“ zu unterwerfen, nämlich in der Endphase des sunnitisch-ba’thistischen Aufstands von 2003-7, und dann wieder nach dem Zusammenbruch von Malikis (und Nujayfis) Herrschaft im West- und Zentraliraq 2011. Offensichtlich hat die Organisation bessere Verbündete. Im Mittleren Osten wird gerne Qatar beschuldigt, wo ein Teil der exilierten Ba’th-Elite lebt. Die Hierarchie des IS besteht aus ehemaligen Offizieren Saddam Husseins.
BAGHDAD – If Islamic State leader Abu Bakr al-Baghdadi is confirmed dead, he is likely to be succeeded by one of his top two lieutenants, both of whom were Iraqi Army officers under late dictator Saddam Hussein.
Experts on Islamist groups see no clear successor but regard Iyad al-Obaidi and Ayad al-Jumaili as the leading contenders, though neither would be likely to assume al-Baghdadi’s title of “caliph,” or overall commander of Muslims.
Wer hätte es gedacht. Aber wie kann denn die innere Struktur eines gestürzten Regimes, das niemandem mehr etwas zu versprechen hat, in einzelnen Landesteilen Jahrzehnte lang überleben und immer wieder nach der Macht greifen, dabei seine eigene Ideologie ablegen und eine neue annehmen, selbst eine anscheinend entgegengesetzte, und sich immer noch auf den über die Zeit immer schrumpfenden inneren Kern von alten Kadern stützen? Wie das geht, können wir auch nicht sagen. Aber dass es geht, haben z.B. die Roten Khmer vorgemacht, die nach ihrem Sturz in Kambodja noch zwanzig Jahre im Nordwesten des Landes die Macht hatten, unter den alten Führern, und die bis heute nicht aufgehört haben zu bestehen; auch wenn sie, ebenfalls kurz nach ihrem Sturz, ihre „marxistisch-leninistische“ Ideologie, in deren Namen sie die kambodjanischen Städte entvölkert hatten und ein Viertel der Bevölkerung den Tod brachten, von einem Tag auf den anderen fallen liessen (Dezember 1981). Die Parallele ist ziemlich tragfähig.
Der Alptraum des Ba’th-Regimes ist nach 2003 nicht vorbei gewesen. Wer ist schuldiger, die USA, die sich die Mühe einer Besatzungsarmee wie in Deutschland 1945 sparen zu können glaubten, oder die „antiimperialistischen“ Kräfte von Nürnberg bis Damaskus, die aktiv das unterstützten, was heute IS heisst?
Es wird wahrscheinlich Leute geben, die den IS für ein zwangsläufiges Ergebnis der religiösen Aspirationen des sunnitschen Islam halten. Es gibt ebenso auch solche, die ihn für ein reines Geheimdienstkomplott halten. Seltsamerweise gibt es eine Schnittmenge zwischen beiden Ansichten, die nämlich beide vereinbar sind mit dem irren Glauben, der IS sei das logische Ergebnis und verkörpere die innere Tendenz der arabischen Revolution. Eine gewisse Zwangsläufigkeit führt zu solchen Ansichten: solche Schlüsse muss man ziehen, wenn man die Geschichte des modernen Staates als die Lösung betrachtet, statt als eine Geschichte von Trümmern, die immer wieder solche Bewegungen hervorbringen und am Leben halten.
Der Ba’th-Staat war, nach allen Kriterien, ein neuzeitlicher Staat der Hochmoderne. Das sollte vielleicht Anlass sein, darüber nachzudenken, was diese Moderne und ihr Staat für Angelegenheiten sind und wie man sie wieder los wird. Wie ein solches Regime wahrscheinlich nicht gestürzt werden kann, haben wir gesehen. Welche Kräfte, wenn man einen solchen Sturz unternähme, einem Freund und welche Feind sein werden, das kann man mit einigem Nachdenken abschätzen.