Es ist jetzt ein paar Jahre her seit der Schlacht um Kobane. Die syrisch-kurdischen Milizen der YPG, mit direkter Unterstützung durch die USA, haben es bis heute geschafft, die Stellungen zu halten und das Gebiet der sogenannten Selbstverwaltung beträchtlich auszudehnen. Ausser dem Kanton Afrin, weit im Westen, in Sichtweite des Mittelmeers und in den Bergen direkt über Aleppo, sind die vorwiegend kurdischsprachigen Gebiete Nord-Syriens zu einer zusammenhängenden Entität vereint; die Isolation von Afrin ist Ergebnis der türkischen Intervention und der russisch-amerikanischen Verständigung über die Aufteilung der von ISIS zurückeroberten Gebiete nach dem Fall Aleppos.
Wir werden auf den Fall Aleppos vielleicht noch zu sprechen kommen.
1. Zunächste sollte man einen Moment darüber nachdenken, dass ausserhalb der Türkei die Milizen der YPG fast überall nur Freunde haben. Der Enthusiasmus für die YPG greift weit über alle Parteigrenzen. Selbst innerhalb der radikalen Linken können sich fast alle darauf einigen, selbst solche, die sich vor 10 Jahren noch wegen „Palästina“ auf die Fresse gehauen haben. Wie schön, dass jetzt alle wieder einig sind! Das ist doch eine gute Arbeitsgrundlage für die Zukunft.
Mit zum neuen linken Konsens für Rojava gehören ausser den Antideutschen und den sogenannten „Antiimperialisten“ auch Barack W. Obama und sein Nachfolger; das ist nachvollziehbar, denn Obama war in jungen Jahren auch ein Linker, wie man hört, und sein Nachfolger hat die Demokraten unterstützt. Die revolutionäre Sache Rojavas zieht sich also von der radikalen Linken bis weit in die Mitte. Noch eine gute Nachricht.
Mit von der Partie ist Putin, der immerhin auch einmal für eine „Kommunistische Partei“ gearbeitet hat, auch wenn er heute der Abgott der Rechten ist. Ausserdem scheint Assad nicht viel gegen die YPG zu haben, aber führt die Ba’th-Partei nicht auch den Sozialismus im Namen? Fragen an unsere anarchistischen Freunde. Wisst ihr, wessen Partei noch den Sozialismus im Namen führte? Unter den richtigen Antworten verlosen wir tolle Dinge.
Die YPG – oder nennen wir sie doch lieber beim Namen – die PKK hat Frauen-Bataillone! Das ist in der Tat revolutionär und etwas, was im Mittleren Osten ausserhalb der israelischen Armee unerhört ist. Und, wenn man in all dem Elend zwanghaft etwas gutes finden will, ist das sicher eine Sache, die dem Mittleren Osten nicht schaden wird. Im Gegenteil ist die Bewaffnung der Frauen in jeder Hinsicht die erste Bedingung jeder Art von Befreiung, und die Frauen der Ägyptischen Revolution wussten das sehr gut.
Der Dear Leader der PKK hat ausserdem den Soft-Anarchisten Bookchin gelesen und viel davon in seine Schriften eingeflochten. Das ist erst einmal gut und nicht schlecht. Dass sein Verein nach wie vor wie eine Psychosekte geführt wird, lässt sich dadurch schwer ändern. Sogar wenn der Alte es wollte, liesse es sich schlecht ändern. Eine hierarchische Organisation, deren grosser Vorsitzender zu jedem Thema als Autorität angeführt werden kann, lädt jede ihrer Fraktionen zu dieser Art von Verhalten nur ein. Wie so etwas heilbar wäre, das ist eine Frage, die man nicht uns stellen sollte. Unsere Antwort wäre nur, Organisationen dieser Art aufzulösen.
Dass dem grossen Vorsitzenden zuweilen auch echte Erkenntnisse kommen, wie folgende:
Die Juden gehören zu den Kulturträgern des Mittleren Ostens.
Die Verweigerung ihres Existenzrechts ist ein Angriff auf den
Mittleren Osten als solchen.
(S.44 im Grossen Buch)
ist für einen alten Anti-Zionisten wie ihn in der Tat etwas neues, und es ist in der Tat erfrischend. Von den grossen Männern aller an Lenin orientierten „Parteien“ des Mittleren Ostens erinnern wir uns, nur von Jalal Talabani solche Worte gehört zu haben. Die jüdische Präsenz im Mittleren Osten ist legitim, und zwar in Begriffen des Mittleren Ostens selbst. Ein Angriff auf die jüdische Präsenz im Mittleren Osten ist ein Angriff auf den Mittleren Osten insgesamt.
Er hätte nun zwar durchaus noch dazu sagen können, dass die meisten Juden, die aus Ländern des Mittleren Ostens stammen, heute in Israel leben, dass sie dorthin vertrieben worden sind, und zwar von Sympathisanten des deutschen Nationalsozialismus, vor dem auch der grösste Teil der überlebenden europäischen Judenheit nach Israel geflohen ist. Er hätte auch erwähnen können, dass die mizraihischen Juden in Israel bis heute die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung des alten Madantsgebiets Palästina stellen. Wenn er wirklich der mittelöstliche Patriot wäre, der er sein will, hätte er sich sogar zu der These versteigen können, dass Israel im Grunde ein arabischer Staat ist. Zwei Drittel seiner Bürger stammen aus dem Mittlere Osten, etwa die Hälfte seiner jüdischen Bürger aus arabischen Ländern.
Wenn man das gesagt hat, kann man jede Zündelei an den israelischen Grenzen, jede gewaltsame Intifada, jede Kriegsdrohung, sogar den wirtschaftlichen Boykott gegen Israel nur als einen gewalttätigen Akt gegen den Mittleren Osten insgesamt ansehen. In der Tat tun wir das. Gehe ich zu weit in der Interpretation? Jeder Akt, der gegen die Normalisierung gerichtet ist, ist ein aggressiver Akt.
2. Diese schönen Dinge liessen sich alle zwanglos erschliessen aus den Worten des grossen Vorsitzenden. Macht das ihn und seine Organisation gut, oder, für die andere Seite, schlecht? Er legt sich wenig fest, schafft es, sich Bündnisoptionen offen zu halten, sein Verein wird sowohl von den USA als auch von Russland unterstützt, und vielleicht nicht nur von diesen. Und dabei noch mit dem Image des einzigen revolutionären Projekts im auseinandergefallenen Syrien.
Anscheinend sogar mit demselben Appeal, der der spanische Bürgerkrieg damals für die internationale Linke hatte. Anarchisten für die YPG, Internationale Freiwillige für marxistisch-leninistische Gruppen, es scheint, als wäre gerade die kurdische Revolution in Rojava das Ding unserer Zeit, unsere Revolution, unser Spanischer Bürgerkrieg. Es lohnt sich zu erinnern, dass der Spanische Bürgerkrieg das Ende einer revolutionären Epoche markiert und nicht den Anfang; und dass die Revolution zu Ende gebracht worden ist unter anderem durch das Eingreifen jener, die sich auf Lenin beriefen. Falls der radikalen Linken das Bewusstsein ihrer Geschichte so sehr mangelt, wie es den Anschein hat, wäre es vielleicht sogar angezeigt, sich das Geschichtsbewusstesein des Klassenfeindes genau anzusehen.
Just like Franco in Spain, who rolled into Madrid: der buchstäblich erste, der 2011 „Spanischer Bürgerkrieg“ geschrien hat, war Ghaddhafi, und zwar in der damals berühmten „Zenga Zenga“-Rede. Die jungen Leute kennen das alles gar nicht mehr.
Faszinierende Rede. Die musikalische Untermalung, mit der sie zum Meme aufstieg, stammt von einem tunesisch-stämmigen israelischen Techno-Menschen, und die arabische Jugend fand es grossartig. Das hat Gründe. Die Ironie der Musik macht die brutale Drohung, dem inneren Feind nachzusteigen „von Haus zu Haus, Gasse zu Gasse, zenga zenga“ ein bisschen milder. Was sie auch milder machte, war, das Ghaddhafi es nicht geschafft hat. Diesmal intervenierte der Westen, gegen die Möglichkeit, dass ein Franco-Nachfolder am Ende Giftgas gegen die Bevölkerung des Landes einsetzt. In Syrien intervenierte niemand.
Libyen sieht heute nicht besonders gut aus. Wenn Ghaddhafi gewonnen hätte, sähe es so aus wie Syrien heute. Die Linke, weder die staatstragende wie Sarah Wagenknecht, noch die sogenannte „radikale“, hat keinen Finger gerührt für die arabischen Revolutionen. Niemand hat. Die arabischen Monarchien haben bewaffnete Gruppen aufgebaut, der sogenannte Westen hat sich darauf beschränkt, in Libyen „einzugreifen“, um gleich danach irgenwelche neuen Räuber als Verbündete zu behandeln, aber die Linke hat in diesem Konflikt praktisch nichts zu sagen gewusst.
Die Ägyptische, die Tunesische und die Libyische Revolutionen beginnen mit der Arbeiterbewegung. In Ägypten kulminiert das ganze in einer drei Jahre dauernden Streikbewegung, die in Opposition zum verhassten islamistischen Präsidenten Mursi in der Erklärung des Austritts aus dem Staatsverband kulminiert.
Zu diesen Arbeiterbewegungen fällt der Linken nicht viel ein. Die meisten von uns haben noch nicht einmal davon gehört. Dafür wissen alle über die fürchterlich progressive Politik der PKK in Syrien Bescheid. Diese beiden Dinge widersprechen sich insoferne, als in Syrien die arabische Revolution, wie wir das für jetzt einmal nennen wollen, mit der kurdischen, in Konflikt liegt. Und die Meinung der Weltöffentlichkeit, von der die Linke nur eine Abteilung ist, neigt einseitig der „kurdischen“ Seite zu und hat die arabische Revolution völlig im Stich gelassen. Das ist eigentlich überraschend; sehen wir und doch kurz an, was da so parteiübergreifend gesagt und verschwiegen wird.
3. Es ist zum Beispiel überraschend, dass der Bericht der linken amerikanischen Zeitschrift The Nation über Kriegsverbrechen der PKK so überhaupt keine Resonanz gefunden hat. Ich schlage vor, dass man den einmal liest.
Wir fangen noch gar nicht mit den Übergriffen gegen die politische Opposition an, sondern mit etwas, das die Reste der pro-palästinensischen Linken eigentlich unversöhnlich erzürnen sollte.
Asked about the SNHR list of 26 completely destroyed villages, 40 partially destroyed villages, and 48 more emptied of all inhabitants in Hasakah alone, Dibo said it’s not the mandate of the PYD to investigate such violations. “Again I confirm that such things never happened,” he said.
In Hassakah leben 1,4 Mio. Menschen. In ganz Rojava leben 4,6 Millionen. Rechnen wir die 114 entvölkerten arabischen Dörfer einmal auf die Gesamgrösse von Rojava hoch, dann erhalten wir 375.
Das entpricht in guter Näherung der sogenannten „Nakbah“. Und die Zahlen sind aus der Zeit, ehe die PKK Raqqah erobert hat. Es wäre verrückt, wenn sie nicht mittlerweile viel höher wären.
Around 400 Arab towns and villages were depopulated during the 1948 Palestinian exodus.
Das geht der PKK so einfach durch, ohne jede Diskussion unter ihren westlichen Ünterstützern. Leute, die ernsthaft glauben, die Einmischung der amerikanischen Luftwaffe hätte die Massenflucht verursacht (eine Wahnidee, die nur Leuten kommen kann, denen es prinzipiell eigentlich scheissegal ist, was in Syrien passiert), dieselben Leute werden natürlich nicht mehr fragen, was denn z.B. Assad und die PKK damit zu tun haben könnte. Und sie werden nie auf die Idee kommen, dass genau das die lexikale Definition von Antisemitismus ist: Dinge, die an der kurdischen Staatsgründung niemandem auffallen oder die als unvermeidliche, wenn auch bedauerliche militärische Notwendigkeit abgetan werden, gelten bei der jüdischen Staatsgründung dagegen als singuläre Verbrechen, die zum inneren Kern der israelischen Staatlichkeit gerechnet werden.
Wir wollen dies keineswegs als Argument gegen die kurdische Befreiungsbewegung verstanden wissen, wie dies die kompromissloseren unter den Antizionisten tun. Kurdistan als ein „zweites Israel“ in der Region, das ist heute eine Propaganalinie des iranischen Regimes, so wie es früher eine der iraqischen Ba’th gewesen ist. Im Gegenteil ist die Befreiung der Kurden vom arabischen Nationalismus wahrscheinlich die erste Bedingung der Befreiung der Araber vom arabischen Nationalismus.
Diese Befreiung ist allerdings ernsthaft dadurch gefährdet, dass die Anführer der kurdischen Revolution sich in eine Position bringen lassen, in denen sie mit den Feinden der arabischen Revolution gemeinsame Sache machen. Betrachten wir weiter den erstaunlichen Bericht von „The Nation“.
Kurds and Arabs alike say the expulsions are best understood by looking at the PYD’s relationship with the Assad regime. They say the expulsions were not ethnically but politically motivated, directed against the anti-Assad political opposition. Indeed, former residents said YPG Asayish, or military police, after capturing villages from ISIS, arrived with lists of regime opponents whom they then arrested.
…
The YPG calls itself a sworn enemy of ISIS, and indeed the two have fought ferocious battles against each other. But the two groups have often worked in tandem against moderate rebel groups. In several notable instances, for example in Tel Hamis and Husseiniya in Hasakah province, the YPG fought in 2013 to oust moderate rebels of the Free Syrian Army but failed. Islamic State fighters moved in with their suicide bomb units, captured the towns, and in 2015 handed them over to the YPG without a fight.
…
At a meeting in March 2011 with PKK leaders in Damascus, national security aides assigned the PKK the role of suppressing anti-Assad protests in Hasakah province, according to Mahmud al-Naser, who at the time was a top regime intelligence official in Hasakah province. “The message to the PKK was this: ‘We established you. We supported you from 1983. Now it’s your turn to do something for us.’” (He was referring to the founding of the Syrian branch of the PKK in Damascus under the patronage of Syrian intelligence. Naser said the regime of Hafez al-Assad, Bashar’s father, often encouraged the Syrian branch to carry out guerrilla operations as a proxy force against Turkey).
The Kurdish party closest to the protests was the Future Party, led by Mish’al al-Tammu, a charismatic agricultural engineer.Tammu and other Kurds opposed to the Assad regime quickly became the first target in the YPG crackdown. There were mass arrests and assassinations of leaders—first Tammu, killed in October 2011; then Mahmud Wali in September 2012 and Ahmad Bunjak in September 2013.
“Certainly the PYD was operating under orders from the regime,” said Ibrahim Hussein, the Kurdish judge. Many regime opponents, all said to be on lists of those wanted by the government, were “disappeared” and never seen again, according to Hussein, and others were arrested or expelled.
Und so weiter. Ausserdem noch ein paar Einzelheiten zur Finanzierung und Steuerung der PKK-Operationen durch den Iran und Qassim Soleimani.
The expulsions and destruction of villages that began in early 2014 followed a surprising pattern of seeming collaboration between the YPG, ISIS, and the Assad regime with the purpose of expelling moderate rebel forces from key border crossings and major cities across the region. Again and again, in towns where the YPG lacked the manpower or weapons to dislodge the rebels, ISIS forces arrived unexpectedly with their corps of suicide bombers, seized the territory, and later handed it over to the YPG without a fight. Afterward the YPG expelled the Arab residents.
Und schliesslich die Rolle der PKK beim Fall von Aleppo.
The YPG’s collaboration with the Assad regime extends to recently active battlefronts. An example is Aleppo, where YPG forces in the suburban neighborhood of Sheikh Maksud attacked the last supply route into the rebel-held eastern sector last July, helping the Assad regime close the road and complete the siege, leading to its collapse in December.
Und es gibt noch mehr dazu. Das ist alles ziemlich heftig. Trotzdem machen Antifagruppen „Kurdistanabende für Rojava“, und Anarchisten schwärmen für die Selbstverwaltung (von den politischen Gefangenen in Rojava will man nichts hören); Antideutschen imponieren die Frauenbataillone, und sogenannten „Antiimperialisten“ imponieren die Frauenbataillone. Es ist alles perfekt, und niemand stellt mehr Fragen. Völlig untergepflügt wird bei alle dem, wer die syrische Revolution angefangen hat, und aus welchen Gründen. Es interessiert nicht, jetzt, wo das neue Vaterland der Werktätigen errichtet wird, mit Hilfe des Imperialismus und der Theokratie.
Also, Freunde, so leid es mir tut, aber eure Begeisterung für Rojava, das ist etwas, über das wir noch einmal werden reden müssen. OK, nehmen wir an, es wäre wirklich etwas wie der spanische Bürgerkrieg. Aber war da nicht auch etwas?
Jörg Finkenberger
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