Aus Anlass der etwas zu ungeschickt manipulierten Wahl des russischen Präsidenten, und weil wir in der linken Szene in der ukrainischen Frage genau dieselbe dumme Ignoranz und Gleichgültigkeit finden wie etwa in der syrischen; und weil anscheinend ein Haufen Zeug anscheinend schon gewusst wird, aber von den falschen Leuten; und weil aber vielleicht die in der linken Szene endemische Klugscheisserei vielleicht die einen oder anderen dazu verführt, sich wenigstens zum Distinktionsgewinn ein paar Sachen anzulesen, und weil wir genau wissen, dass das zum Teil Sachen sind, die nicht einmal der abgebrühteste Ficker jemals wieder vergessen wird: deswegen greifen wir in der nächsten Zeit einfach einmal zur schärfsten Waffe der Kritik, der Buchbesprechung.
Ben Judah, Fragile Empire, 2013.
I
Das Buch stammt zugegeben von vor der ukrainischen Revolution und der anschliessenden nationalistischen Welle in Russland, aber das heisst nicht, dass es überholt ist, sondern nur, dass es uns genau darüber wenig sagen kann. Die Zustände aber, die da beschrieben werden, sind ja nicht weg, bloss weil Russland die Krim annektiert hat.
Ben Judah ist im Land herumgereist und hat mit Leuten gesprochen: und zwar mit jeder Sorte. Und das ganze ist sehr schön sortiert, so dass jedes Kapitel einen wie eine archimedische Schraube immer nochmal in ein ganz anderes Problem hereinzieht. Irgendwann mittendrin beginnt man irgendetwas zu begreifen, man ist sich nur nicht so recht klar darüber, was. Es hat etwas mit dem Titel zu tun: Zerbrechliches Imperium.
Denn anstatt festgegründet und in der treuen Liebe seiner Untertanen verankert, wie es die kitschige Propaganda der Zarenpresse vorschlägt, ist diese Macht in der Tat zerbrechlich. Sie bedarf ungeherer Anstrengungen der Manipulation und der Gewalt, sie besteht letztlich nur dadurch, dass sie Chaos entfesselt. Sie rettet sich vor einer Krise dadurch, dass sie die nächste provoziert. Die Inszenierung, als repräsentiere sie einen wie immer gearteten Volkswillen, glaubt ihr kein Mensch. Sie existiert, weil und solange es ihr gelingt, jede Möglichkeit der Opposition und jede Alternative zu zerstören.
Im Buch von Ben Judah stehen nicht die ausserordentlichen Verbrechen im Vordergrund, zu denen das Regime fähig ist und deren es zu seinem Überleben bedarf; dazu werden wir vielleicht eher die Bücher Felshtinkys hernehmen. Oder auch nicht die erstaunliche Logik, mit der ein Krieg wie der tschetschenische erst vom Zaun gebrochen, und dann nicht etwa einem irgendwie definierbaren politischen Ziel entgegen geführt worden ist, sondern präzise um der Logik des Kriegs willen in der Schwebe gehalten worden ist, so dass der Konflikt, ungelöst und unlösbar, immer weiter in die kriegführende Gesellschaft hinein übergreift. Diesen Gegenstand werden wir in den Schriften Politkovskayas finden.
Ben Judah behandelt einen anderen, wesentlich schwerer einzusehenden Gesichtspunkt. Warum gelang es den Putinisten, die alte Opposition zu zerschlagen, domestizieren oder sich dienstbar zu machen? Warum entsteht trotzdem alle paar Jahre wieder eine neue Oppositionsbewegung, die kurz darauf wieder unterworfen wird oder kapituliert? Steht das Regime wirklich so gefestigt da?
Die wenig überraschende Antwort ist: nein, überhaupt nicht, wie kommst du darauf? Die etwas überraschendere Antwort darauf ist: ganz im Gegenteil, es verkörpert praktisch alles, was die Leute im Land hassen, ob aus guten oder schlechten Gründen. Die Morde, der Betrug, die allgegenwärtige Polizeigewalt, die völlige Aushöhlung aller öffentlichen Einrichtungen; die Korruption, die hohle und dumme Propaganda, auf die niemand hereinfällt; der irrsinnige Krieg, die Zustände beim Militär, die völlige Vernachlässigung der allermeisten Regionen; eine Regierungspartei, die allgemein die „Partei der Gauner und Diebe“ genannt wird; der Präsident, den man „Mister Botox“ nannte wegen seines eingefrorenen Killergesichts, von dem ahnt, dass er nicht plant, lebend vom Stuhl zu steigen, koste es andere, was es wolle; und bei allem die ständige Präsenz einer gemanageten, manipulierte, gesteuerten Pseudo-Opposition.
Die ganze Zusammenstellung von Judahs Berichten hinterlässt den Eindruck, dass das Regime bei allen seinen Versuchen, Opposition zu neutralisieren, sich selbst ganz andere Todfeinde schafft; dass hinter der glatten Inszenierung einer Nation, die in Putin ihren Retter erblickt, ein abgrundtiefer Hass auf ihn und sein Regime lauert, der irgendwann, ohne dass man raten möchte wann, über diese Leute hereinbricht.
Putins Furcht von 2011, dass es mit ihm genaus schnell gehen könnte wie mit Qadhdhafi, ist nicht weit hergeholt. Wer kann glauben, dass es mit ihm ein besseres Ende nehmen wird? Wo wird er den Nachfolger finden, der ihm Amnestie dekretiert? Wird einer freiwillig die Macht abgeben, der nach nürnberger Recht an den Galgen gehört?
II
Zu den erstaunlichsten Abschnitten in Ben Judahs Buch gehört die Geschichte mit den Teenagern, die hinten im Fernen Osten, im Hinterland von Vladivostok, mit Kleinwaffen und Baseballschlägern bewaffnet einen kurzen Kleinkrieg gegen die Polizei geführt hatten, ehe man sie schnappte. Ihre Videobotschaft auf Youtube scheint ganz schön eingeschlagen zu haben, und in der Gegend waren die Meinungen geteilt: die einen hielten sie für Helden; die Gegenmeinung lautete ungefähr, das sei Unfug und die seien auch nicht viel besser als die Polizei.
Diese Episode ist nur die Krönung einer ganzen Reihe von Geschichten aus der russsischen Provinz, eine unfassbarer als die andere; entvölkerte Provinzen, in denen die Idee umgeht, China sei dabei, Sibirien zu übernehmen (und nicht wenige dort befragte sagen: na und, es kann nur besser werden); Arbeiter in Industriestädten hinter dem Ural, die freimütig erzählen, wie ihre Manager in Arbeiterkostüme schlüpfen, um dem geliebten Führer Videobotschaften von der treuen Liebe seiner Untertanen zu drehen, die nur drauf brennen, in Moskau einzufallen und mit der Opposition aufzuräumen; und eine Opposition wie die von 2011, wild zusammengewürfelt aus Leuten mit Fahnen verrückter Parteien, die im entscheidenden Moment, ehe sie den Kreml stürmen müssten, innehalten und umkehren, weil sie ahnen, dass das Land kein Regime, das sie aufzustellen vermöchten, tragen würde; und dass es das jetzige Regime nur deswegen trägt, weil es skrupellos, gewalttätig, verlogen genug ist.
Die Geschichte ist bei allem lokalen Kolorit beliebig auf alle Gegenden der Welt übertragbar. Und sie gibt uns einen Begriff von der Niedertracht, die heute notwendig ist, um die Ordnung der Dinge, wie sie heute besteht, aufrechtzuerhalten. Ist damit die Niedertracht gerechtfertigt? Garantiert sie den Bestand der Ordnung? Nein, sie garantiert, dass der unausweichliche Zusammenbruch um so grauenhafter wird. Etwas davon spiegelt sich bereits in der heutigen Opposition.
III
Irgendwie in einem ein andermal zu besprechenden Buch über die ukrainischen Revolution schreibt ein russsischer Oppositioneller erschreckt, wie schnell das ging, dass Leute, mit denen man vor ein paar Jahren noch auf dem Bolotnaya-Platz gegen die Wiederwahl Putins 2012 demonstriert hatte, plötzlich wegen der Krim mit dem Regime wieder völlig versöhnt waren.
Man kann den Mann über seinen Verlust nicht trösten. Aber erklären kann man ihn. Ausser dem unartikulierten und unorganisierten Hass erzeugt das Regime unter der Art von Leuten, die gewohnt und geneigt sind, sich politisch zu organisieren und grosse Weltdeutungen zu entwerfen, vor allem eine nationalistische Oppositionsideologie. Das ist eigentlich auch fast selbstverständlich: zunächst einmal wird die nationalistische Rhetorik des Regimes immer den leichtesten Rahmen abgeben, an dem seine Taten gemessen werden können. Und zum zweiten liegt das leider an der universellen Tatsache, dass immer und überall die Leute, die nichts besseres zu tun haben, als politische Vereine aufzumachen, in aller Regel schlimme, verblendete Idioten sind, die auch überall aus guten Gründen daran leiden, mit ihrer Art, die Dinge zu sehen, nicht zur Bevölkerung „durchzudringen“ und so weiter. Diese Sorte ist natürlicherweise die ersten, die auf der Strasse sind. Sie sind aber auch die ersten, die gekauft und herumgedreht werden können, sobald das Regime nur in der Lage ist, eine möglichst irre und abartige vaterländische Grosstat zu vollbringen; etwa eine, durch die es sich sogar mit der ganzen sonstigen Welt in Verschiss bringt. Bismarck war ein Virtuose darin, „das nationale Programm der Bourgeosie zu verwirklichen“, und sie um ihr demokratisches zu betrügen. Ob man die Krim oder Elsass-Lothringen annektiert, ist vielleicht gar kein so grosser Unterschied.
Das ist die schwache Stelle der russischen Opposition. Sie wird zwangsläufig Gefangene eines russischen Nationalismus sein, wenn auch eines Nationalismus, der sich immer wieder gegen Putins Regime wenden wird, und vom Regime immer wieder mit nationalistischer Propaganda der Tat eingefangen werden kann. Dieser Prozess kann immer weitergehen, und er hält eine Dynamik in Gang, der die russische Politik zu immer grösserer Eskalation antreibt. Nehmen wir den tschetschenischen Krieg als Beispiel. Es ist nicht so, dass dieses absurde und genozidale Unternehmen in der Bevölkerung besonders beliebt wäre. Aber der Hass, den der Krieg und die Kriegspropaganda erzeugt, anscheinend sehr wohl. Das führt dann dazu, dass die meisten, die Judah fragt, dafür wären, den Nordkaukasus völlig aufzugeben, auch die turkestanischen Staaten, und alle Nordkauskasier und Turkestaner aus Russland auszuweisen. Putins imperiale Politik züchtet also als ihren eigenen Schatten eine Opposition heran, die auf enger nationalistischer Grundlage steht.
Diese Leute hassen natürlich etwa die Kadyrov-Bande, die von Putin als Herrscher über Tschetschenien und als Todesschwadrone gegen die russische Opposition eingesetzt wird; sie kaufen etwa dem Schwachkopf Ramzan Kadyrow seinen russischen Patriotismus keine Sekunde ab, sondern halten ihn für den Gangster, der er auch ist. Sie nehmen auch wahr, dass solche Zustände in einem Teil des Landes Auswirkungen auf alle anderen Teile haben müssen; dass die Verhältnisse, für die Kadyrov steht, schon längst auf das ganze Russland übergegriffen haben.
Sie sind aber nicht bereit, zu akzeptieren, dass es sich dabei um das eigene innere Prinzip des heutigen Russland handelt. Dass das Elend der Tschetschenen und ihr eigenes Elend zwei Seiten der selben Münze sind. Der Nationalhass befestigt das Gefühl, die Tschetschenen hätten die Behandlung, die sie erfahren haben, schon verdient, auch die Herrschaft Kadyrovs; die Erkenntnis, dass das Kriegsrecht über Tschetschenien die Unterwerfung nicht nur Tschtscheniens, sondern ganz Russlands unter die Putin- und Kadyrov-Bande möglich gemacht hat, wird noch abgewehrt. Anna Politkovskaya ist umsonst gestorben.
IV
Auf der grössten Demonstration der Oppostion von 2011 sprach Navalny folgende Worte: „Ich sehen genug Leute hier, um den Kreml und die Duma zu erobern, jetzt und hier. Wir sind friedliche Menschen, wir tun so etwas nicht. Aber wenn die Gauner und Diebe weiter machen, weiter Lügen, weiter stehlen, werden wir uns das zurückholen, was uns gehört.“ Ben Judah beschreibt diesen Moment, in Worten, die er von Hunter S. Thomsons „Wave Speech“ entleiht, als den Moment, wo die Welle sich bricht, und wo sie anfängt, sich zurückzuziehen; so wie er vorher den Enthusiasmus der Massenbewegung mit Worten Thompsons beschrieben hatte: das Gefühl von Kraft, Freiheit und Energie, das Gefühl „that our Energy would simply prevail“.
Vor der direkten Konfrontation schreckte man zurück. Liegt das an der Unvereinbarkeit der Positionen, die sich in einem Meer aus den konträrsten Fahnen ausdrückt: solche, die einen neuen Zar, und solche, die einen neuen Lenin fordern; Anarchisten und Nationalbolschewisten; Liberale, und Nationalisten wie Navalny selbst? Aber die Mehrheit der Teilnehmer gehörte keinem Verein an und trug keine der bunten Narrenkappen.
Oder liegt es an der Ahnung, dass man selber, in Moskau, nur auf der Spitze einer wild divergierenden Gesellschaft steht, dass also das wirre Fahnenmeer noch nicht einmal ein adäquater Ausdruck der wirklichen Gegensätze ist, die sich auftun würden, wenn Putins Macht erst gestürzt wäre?
Die meiste Literatur, auch die, die wir noch besprechen werden, handelt in Moskau, höchstens noch Petersburg, als ob die Städte wirklich das Zentrum der Welt wären. „Moskau ist nicht Russland“, bekommt Judah oft zu hören. Damit ist nicht nur gemeint: „ist nicht ganz Russland“, sondern tendenziell auch: „gehört nicht zu Russland“. Judah schreibt als einer der ganz wenigen über die Provinzen. Das ist das beste an dem Buch. Das schlechteste an dem Buch ist das Kapitel, wo er mit der Zerknirschung eines echten Liberalen mit den Clichees über Liberale hantiert; hier bleibt unsnichts erspart, namentlich nicht alles, was man je über sogenannte „Hipster“ gehört hat.
Liberale tun ja gerne so, als wären sie isoliert, weil sie als sogenannte „Hipster“ gelten. Hat ihnen nie jemand gesagt, dass sie keine sind? Nie waren? Nie werden können? Sondern dass sie isoliert sind, weil alle isoliert sind? Dass nicht „da draussen“ irgendwo die „richtigen Leute“ sind, die die Sprache der „richtigen Leute“ sprechen? Dass in unseren Ländern niemand die Sprache des anderen spricht, und dass es nicht einmal Selbsthass dieser Urbaniten ist, wenn sie glauben, sie blieben ungehört, weil sie so urban wären? Sondern Grössenwahn, dass sie glauben, dass jemand sie und ihre vermeinte Anderartigkeit überhaupt bemerkt oder wichtig nimmt als sie selbst?
Viel von dem Zeug, was auch in der linken Szene unterwegs ist, lebt von diesem absonderlichen Aberglauben liberaler Intellektueller. Sobald man das Wort Latte Macchato, Hipster oder (neuerdings) Theaterwissenschaftler in solchen Zusammenhängen hört, sollte man sich ernsthaft fragen, ob hier einer einen an der Klatsche hat.
Ansonsten ist das Buch sehr gut und sollte unbedingt gelesen werden. Gibts glaub ich nur auf Englisch. Man findet angeblich auch irgendwo das E-book.
Schöner Text. Buch wird bestellt.
heisst du wirklich friedrich saladin?