Über ein verbreitetes Missverständnis der israelsolidarischen Linken

Unter proisraelischen Linken hat sich die Formel eingebürgert, man sei generell gegen Staaten, aber Israel sei der Staat, der „als letztes abgeschafft“ werden soll; einstweilen sei er noch notwendig, um die von Antisemitismus bedrohten Juden zu schützen. In allen Ländern sollen Anarchisten also gegen ihre jeweilige Herrschaft agitieren, nur ihre israelischen Genossen müssten sich Zurückhaltung auferlegen und abwarten, bis im Rest der Welt Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende haben.

Martin Stobbe hat diese Haltung in der neuen Ausgabe der linken Zeitschrift Bahamas als widersprüchlich kritisiert: Die Israelsolidarität sei diesen Leuten im Grunde äußerlich, lediglich eine „eher befremdlich erscheinende Zutat“ ihres Programms, dem es „blindwütig und unreflektiert immer um die sofortige Abschaffung aller Nationen“ gehe. Stobbe legt den linken Freunden Israels nahe, generell auf ihre Kritik des Nationalstaats zu verzichten, da nur mit einer staatsbejahenden Haltung eine konsistente Israelsolidarität möglich sei.

Stobbe trifft hier einen wunden Punkt. Auch wenn man seine Schlussfolgerungen nicht teilt, muss man doch zugestehen, dass die Vorstellung von Israel als dem „zuletzt abzuschaffenden Staat“ tatsächlich sehr ungereimt ist.

Zunächst leuchtet nicht ein, warum gerade Israel in Sachen Revolution hintan stehen soll. Es ist ein modernes Land mit hoch entwickelter Industrie, einer relativ gebildeten Bevölkerung und einer reichen Tradition sozialer Kämpfe. Wenn also die revolutionäre Bewegung weltweit endlich den ersehnten Aufschwung nimmt, so kann ich mir gut vorstellen, dass Israel eines der ersten Länder sein wird, die mit von der Partie sind. Jedenfalls scheinen mir die Voraussetzungen für eine erfolgreiche anarchistisch-kommunistische Umwälzung dort viel eher gegeben als beispielsweise im Gazastreifen oder auch in den nordsyrischen Kurdengebieten, die zur Zeit von vielen revolutionsromantisch verklärt werden.

Bleibt die Gefahr antisemitischer Verfolgung und der Schutz, den der jüdische Staat hier bieten soll. Diese Bedrohung ist tatsächlich sehr real. Und wenn wir einmal annehmen, dass sich in Israel eine soziale Revolution ereignen sollte, so wird dies wahrscheinlich den Hass der Antisemiten und aller Reaktionäre sogar noch verstärken. Wenn die Israelis wirklich Ernst machten mit der Abschaffung des Privateigentums, der Familie und des Staates, so würden die Antisemiten ihre Vorurteile vom zersetzenden Charakter des Judentums bestätigt sehen. Die Juden hätten also allen Grund, um ihre Sicherheit zu fürchten.

Der grundlegende Denkfehler der linken Israelfreunde scheint mir aber, dass sie glauben, Menschen bräuchten unbedingt einen Staat, um sich zu verteidigen. Das ist nicht der Fall. Wenn dereinst tatsächlich Arbeiterräte die Macht in Tel Aviv und Jerusalem übernehmen würden, so hieße das nicht, dass die Menschen alle Waffen wegwerfen und ihre beim Militärdienst erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten vergessen. Ich denke, die Israelis könnten sich ihrer Feinde noch immer ganz gut erwehren, wenn sie die straff hierarchischen Israel Defence Forces in eine selbstorganisierte Volksmiliz nach dem Vorbild der anarchistischen Milizen im spanischen Bürgerkrieg umwandeln würden (mit moderner Bewaffnung, versteht sich!).

Apropos spanischer Bürgerkrieg: Damals waren es die Stalinisten, die sagten: „Wir brauchen jetzt noch den Staat und die Hierarchie – die soziale Revolution muss warten, bis wir den Faschismus besiegt haben.“ Mit Hilfe der Sowjetunion setzten sie ihre Vorstellungen gegen die Anarchisten durch. Genützt hat das freilich nichts, die Faschisten gewannen trotzdem. Und glaubt man George Orwells Ausführungen in Mein Katalonien, so hat das revolutionäre Spanien nicht trotz, sondern wegen der Wiederherstellung der Hierarchie in den Armee und der Gesellschaft verloren. Nicht nur wussten die Leute auf der republikanischen Seite immer weniger, wofür sie eigentlich kämpfen, da sie ihre gewonnenen Freiheiten Stück für Stück wieder abgeben mussten – vor allem aber verloren sie die Möglichkeiten einer revolutionären Vorwärtsverteidigung durch die Propagierung ihrer Ideen unter den Bauern und Arbeitern im faschistischen Hinterland und in Spanisch-Marokko, dem Hauptstützpunkt von Francos Truppen. Die Revolution ist ein Krieg, der nicht primär auf dem militärischen, sondern auf dem sozialen Terrain entschieden wird.

Auch ein revolutionäres Israel könnte – anders als das heutige kapitalistische – den unterdrückten Massen in den Palästinensergebieten, in den arabischen Ländern und im Iran ein echtes Verbrüderungsangebot machen: „Wenn ihr eure Waffen nicht mehr gegen uns, sondern gegen eure wirklichen Bedränger richtet, werden wir euch helfen, eure eigenen Herren zum Teufel zu jagen – auf das die schwarz-roten Fahnen auch über Damaskus, Riad und Teheran wehen.“

Zugegeben: Das sind alles nur Gedankenspiele, ohne Halt in der Realität. Arbeiterräte scheinen heute weder in Tel Aviv noch irgendwo sonst auf der Tagesordnung. Aber solche Gedankenspiele muss man von Zeit zu Zeit machen, damit man sich etwas klarer wird über die eigenen Ziele und möglichen Wege dahin. Dass die linken Freunde Israels überhaupt auf eine solche Formel wie die vom „zuletzt abzuschaffenden Staat“ kommen konnten, zeigt meines Erachtens, dass sie über die Überwindung der Herrschaft bisher nur in sehr abstrakten und oberflächlichen Begriffen nachgedacht haben. Entgegen der Meinung Martin Stobbes scheint es mir eher so, dass die Idee von der Abschaffung des Staates nur eine „eher befremdlich erscheinende Zutat“ im ansonsten recht konventionellen Denken der linken Freunde Israels ist. Der Bahamas-Autor kann also beruhigt sein: Von diesem Milieu geht mit Sicherheit keine Gefahr für den Staat aus.

Alfred Masur

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