Aus der Geschichte der Arbeiterbewegung: Halle a.d. Saale

Aus den 30er Jahren ist u.A. Folgendes überliefert:

Ob es viele Hackekreuzler in Halle gibt? Nun, es sind ihrer immerhin 58000. Aber sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den Gewerbetreibenden und aus den den Studenten der Hallenser Universität. Darum konnten sie aus ihrer 58000köpfigen Masse nur etwa vierhundert SA-Leute aufstellen. Diese vierhundert, das sind die wenigen Proleten der „Arbeiterpartei“. Sie sind es, die für Hitler prügeln und schießen, die sich für ihn schlagen und erstechen lassen, während die anderen im Hintergrund bleiben. (…)

Freitag nacht wurde das Hallenser Gewerkschaftshaus mit Musikbegleitung bewacht, weil der Speilmannszug des Reichsbanners Bereitschaft hatte. Ungefähr zwanzig Mann saßen im Wachzimmer, rauchten, spielten Karten, musizierten – Singen ist bei der Wache verboten. Zum Ausschlafen hatten die Reichsbannerleute am nächsten Tag Zeit, denn sie sind alle zwanzig arbeitslos. (…) In den das Gewerkschaftshaus umliegenden Straßen streiften verstärkte Patrouillen umher. Tagsüber hatte es nämlich Stänkereien zwischen Nazis und Arbeiterturnern, die zu einem Sportfest gekommen waren, gegeben. Auch die fünfzehn Jungbannermänner, die bei Anbruch der Dämmerung von einer Landpropagandatour auf Fahrrädern zurückgekommen waren, hatten, heiser und schweißgebadet – sie hatten zwölf Stunden lang geradelt und Sprechchöre gebrüllt -, zu berichten gewusst, sie seien in der Stadt von Hackenkreuzlern angestänkert worden.

Und so saß in Erwartung kommender Ereignisse der Speilmannszug des Reichsbanners Halle im Gewerkschaftshaus, drosch Skat, soff elenden Zichorienkaffee. Der Gitarrenspieler aber summte, obwohl es verboten war: „ Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet, zu unserer Fahne ström‘ zuhauf!“

Schlag neun wurden von draußen plötzlich Kaufschritte hörbar. Eine Patrouille stürmte von der Straße in den Hof. Und gleich hinterher eine andere. Ein Mann blutete am Kopf. „Alles heraus“, brüllten die Patrouillen, „die Nazis kommen!“

Die zwanzig im Wachlokal hatten gerade noch Zeit, ihre Lichtknüppel – schwere, stabförmige Lampen, die gut leuchten und andere Dienste tun – zu packen, für alle Fälle ein paar Stühle mitzunehmen und auf die Straße zu laufen. Draußen kam schond er Lastwagen herangesaust: das Rollkommando der braunen Mordpest. In halber Fahrt sprangen fünfzig SA- Leute heraus und stürmen mit Totschlägern das Ochsenziemern auf das Haus zu.

Die Schalcht von Austerlitz lässt sich beschreiben, da damals zumindest Napoleon angeblich wusste, was los war.

Was aber Freitag den 16. um 21 Uhr in der spärlich beleuchteten Straße vor dem Hallenser Gewerkschaftshaus zu sehen war, war ein auf und ab wogender Haufe von Grün- und Braunhemden. Was zu hören war, war das Krachen von Schlägen, das Krachen von Blumentöpfen und Geschirrstücken, die aus den Fenstern der Häuser auf die Köpfe der Nazis flogen, was unbeschreibliches Gejohle.

Aber als das Überfallkommando der Polizei nach zehn Minuten erschien, blieb ihm nichts mehr zu tun übrig, als zwei schwerverletzte Hackenkreuzler wegzuführen. Die übrigen waren mit Vollgas ausgerissen.

Nach weiteren zehn Minuten war die „Kommune“ (die Kommunisten) in einer Stärke von hundert Mann da, um das Gewerkschaftshaus schützen zu helfen. Sie besetzten das Nebenhaus, und ein Einkreisungsplan wurde mit ihnen vereinbart, für den Fall, dass die Hackenkreuzler wiederkommen sollten.

Doch zur allgemeinen Verwunderung holten die Nazis nicht ihre Reserven aus den umliegenden Dörfern. Sie mobilisierten nicht einmal die SA der Stadt. Sie hatten den Bereitschaftsdienst der Kommunisten wohl ausspioniert; sie gingen schlafen. (…)

Um 10 Uhr saßen die Spielleute des Reichsbanners wieder im Wachlokal. Der Gitarrenspieler hatte eine blutige Bandage um den Kopf. Er fing die Arbeitermarseillaise von vorne an.

Und obwohl es verboten ist, sangen alle mit, als Stelle kam: „Stehet fest, stehet fest und wanket nicht…“

Jura Soyfer, „Bericht aus dem deutschen Bürgerkrieg“, aus „Die Ordnung schuf der liebe Gott“, Leipzig, 1979

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