Vor zehn Jahren ist eine denkwürdige Debatte über das seinerzeit berühmte Buch „Der kommende Aufstand“ geführt worden, und zwar mit einer Bitterkeit, wie man sie in den Kreisen der äussersten Linken seit dem Irak-Krieg nicht mehr gesehen hatte. Importiert hat man Argumentation und Frontverlauf natürlich aus der Premium-Presse. Die FAZ, die sich schon damals Leute hielt, die berufsmässig linke Bücher gutfanden, fand es gut; die Süddeutsche, und deren Anhang, über die taz, die jungle world bis zur Bahamas, fands ganz schlimm. Beide begründeten ihrem Klientel ihr jeweiliges Urteil nicht mit einer wirklichen Auseinandersetzung, sondern mit einem pauschalen Vergleich mit „Schmitt, Jünger und Heidegger“, die auch niemand gelesen hatte.
Das war nachweisbarer Unsinn, aber genauso lief die Debatte natürlich auch in „unseren“ Kreisen. Der Gegenstand gab das zwar überhaupt nicht her, aber um so dreister muss man fälschen. Das können unsere kritischen Leute alle gut; so gut, dass es ihnen selbst nicht mehr auffällt. Es gab auch natürlich die, die das Buch gut und lehrreich fanden. Die sagten nicht viel in der Debatte; die hatten keinen Platz darin, die waren auch nicht vorgesehen mehr, die Debatte wurde überhaupt nur dazu geführt, sie öffentlich abzuurteilen und sie unmöglich zu machen. So war die Debatte immer etwas einseitig natürlich, obwohl sie zwei Parteien durchaus hatte; so wie eine Hinrichtung. Mit dem Grossen Thier hat das alles auch etwas zu tun: die glatte Art, wie der Unsinn überall durchging, war für uns Anfang 2011 der unmittelbare Anlass, das Grosse Thier zu gründen. Mir ist beim Aufräumen die zugegeben sehr kurze Äusserung dazu in die Hände gefallen (Heft O/Tiger, Seite e):
Das Buch vom „kommenden Aufstand“ ist auf mehr als eine Weise zu kritisieren, und keine davon ist in Deutschland versucht worden. Man müsste etwa ihre These beim Wort nehmen, dass die Gesellschaft nicht mehr existiert; dem entgegensetzen, dass das Geld, das sie zusammenhält, aber so wohl existiert als der Souverain; und dann die Eigenart dieser bürgerlichen Gesellschaft erörtern: dass sie die erste ist, die Gesellschaft heissen kann, und doch nicht anders existiert als durch die Abwesenheit von Gesellschaft; dann historisch nachzeichnen, wie die revolutionäre Linke seit den Jakobinern schwankte dazwischen, diese Gesellschaft zu stürzen, und sie erst noch recht zu gründen, und wie zuletzt durch die Hereinnahme des Proletariats in den Volksstaat die Gesellschaft tatsächlich faktisch errichtet und gleichzeitig zerstört wurde; wovon die weiteren Entwicklung zum Nationalsozialismus zeugt. Von hier aus würde sichtbar, wie wenig das Buch über die Gesellschaft zu sagen weiss, und wie sehr es den Wünschen derer entspricht, die es so genau gar nicht wissen wollen. Dass sie bewusstlos in den alten Widersprüchen der Linken sich verstricken, und nicht einmal die Kraft besitzen, vom schmalen Grat eines Begriffs, wenn sie denn einmal einen fassen, nach der einen oder nach der anderern Seite hinunterzustürzen; und dass ihre zerfahrene Analyse nicht besser wird dadurch, dass sie in der fortschreitenden Zerstörung krampfhaft nach Chancen suchen; das alles hätte man ja zeigen können. Man hat es bleiben lassen, und statt die direkte Konfrontation mit ihnen zu suchen, hat man sie ihrem jämmerlichem Ruhm überlassen, den man niemandem wünschen möchte; welche Konfrontation sie durchaus verdient hätten als welche, die allen Ernstes versuchen, die Postmoderne aufzuheben mit den Mitteln der Postmoderne. Und niemals wird irgendjemand verstehen, dass man nicht ihnen geschadet hat durch die Weigerung, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lasen, sondern sich selbst.
So abstrakt ging es damals beim Thier zu. Natürlich waren unsere Sympathien auf deren Seite, die mit dem Buch etwas sinnvolles anfangen zu können glaubte; auch wenn wir da nicht dazu gehörten. Aber es waren immerhin die Leute, die nicht logen und nicht fälschten. Man ist zusammen eine ganze Strecke gegangen seither. Alle Dinge haben ein Ende aber. Nur manche Sachen sind geblieben wie am Anfang, und nicht die besten.
Ich glaube mittlerweile ernsthaft, dass es eine Konstante in der ganzen Debatte gibt, bis heute: man hat keine rechte Idee, was die Gesellschaft eigentlich ist. Und ich glaube, dass dieser Mangel damals auf beiden Seiten dieser Debatte in völlig gleicher Art bestanden hat. Die ganze Debatte war wirklich so vergeblich und ärgerlich, wie man das damals dachte.
Die Bevölkerung einander Fremder, in deren Mitte wir leben, als »Gesellschaft« zu bezeichnen, stellt einen derartigen Betrug dar, dass sich sogar die Soziologen überlegen, sich von einem Konzept zu verabschieden, das ein Jahrhundert lang ihr Broterwerb war.
So ähnlich heissts in dem „Kommenden Aufstand“ irgendwo am Anfang des zweiten Kapitels, den Rest des Buchs wird alles genau ausgeführt, was nach Meinung der Autoren von den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen im Sterben liegt, und weiter heissts natürlich:
Es wäre Zeitverschwendung, alles genau aufzuführen, was von den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen im Sterben liegt. … In Wirklichkeit ist die Zersetzung aller gesellschaftlichen Formen ein Glücksfall.
Und über das letzte Element, über die Zutat des eigenen Willens wurde dann so gestritten: nämlich ob das wirklich ein Glücksfall ist oder nicht. Und nicht etwa darüber, ob das wirklich stattfindet oder nicht: darüber waren sich scheints alle einig. Obwohl grade das der Fehler war. In der Sache waren sich alle einig. Ich fürchte, das ist alles, was man über die Debatte wissen muss.
Natürlich ist die Gesellschaft ein Haufen von Leuten, die einander und dem Ganzen fremd sind. Aber das war von Anfang an so. Das ist nicht das Ergebnis eines Zerfalls der Gesellschaft. Sondern der ist eine Illusion, den man sich von Carl Schmitt einerseits, vom alten Horkheimer andererseits einreden hat lassen.
Dieses Missverständnis, was die Gesellschaft ist, produziert ein Missverständnis darüber, was man selbst ist. Als ob man sie von aussen betrachtet; aber das tun alle. Sie hat kein inneres, kein sie zusammenhaltendes Prinzip. Der Verstand muss vermuten, sie hätte eines gehabt, und es sei ihr abhanden gekommen. Deswegen nennen wir den Verstand auch Ideologie.
Man kann dann Leninist oder Situationist, oder beides gleichzeitig, werden; mit jeder Hirnhälfte einen anderen Aspekt der mit sich selbst zerfallnen Gesellschaft verstehen; dass sie nämlich eine Vielheit ohne Einheit, und dass sie Einheit ohne Vielheit ist; und über das Verstehen den Verstand restlich verlieren, und auch den Gegenstand. Aber auch wenn man dem entkommt: irgendwann holts einen ein.
Vor zehn Jahren, war das ganz zufällig nicht in der letzten Groß-Krise? Jetzt haben wir die nächste. Schauen wir zurück, was alle Debatte seitdem gebracht hat. Gar nichts? Gut möglich. Was hätte sich denn tun sollen? Das kommt drauf an. Nämlich auf den wirklichen Verlauf der Dinge, und was für eine Rolle die von solchen Debatten Faszinierten da überhaupt zu spielen hätten. Ob es also irgendeine Rolle spielt, was die Linke der Linken denn so denkt oder tut. Wenn nein, kann man sich das auch ein bisschen sparen. Wenn ja, will begründet sein, wie das. Sehen wir uns den wirklichen Verlauf das nächste Mal an.
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