Das BVerfG hat in den zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Streitsachen 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16 über die Verfassungsbeschwerden der Hans-Olaf Henkel, Bernd Lucke, Peter Gauweiler u.a. am 5.5.2020 entschieden. Die Klagen richteten sich gegen die Teilnahme der Bundesbank an dem Aufkaufprogramm für europäische Staatsanleihen PSPP der europäischen Zentralbank.
Dieses 2015 aufgelegte Programm, nebst einigen kleineren ähnlichen und daran angelehnten, ist die einzige dauerhafte und wirksame Antwort der EU-Strukturen auf die Folgen der grossen Krise von 2008, die die europäischen Südländer, am sichtbarsten Griechenland, in den Ruin gestürzt, und die osteuropäischen Länder restlos der deutschen Industrie unterworfen hatte.
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Es funktioniert einigermassen verwickelt und bizarr. Der EZB-Rat beschliesst die Grösse der Ankäufe; die Zentralbanken der Mitgliedstaaten, z.B. also die Bundesbank, setzen sie je nach ihrem Anteil am Kapital der EZB um. Sie kaufen die Anleihen allerdings nicht direkt bei den emittierenden Staaten, sondern auf dem offenen Markt. Das heisst: ein Staat wie Griechenland oder Italien nimmt Anleihen am Kapitalmarkt auf, d.h. verkauft Anleihepapiere auf dem Kapitalmarkt; und von denen, die dem Staat diese Schuldtitel abkaufen, kauft dann eine Zentralbank diese Schuldtitel wieder, und zwar mit Zentralbankgeld, d.h. mit frisch und eigens in diesem Akt ausgegebenen Euros.
Auf diese Weise erhöht sich die in den Umlauf gegebene Geldmenge. Und im Gegenzug erhöht sich die Bilanzsumme der Zentralbanken um dieselbe Menge an Schuldtiteln, d.h. das Vermögen der Bank, mit welchem sie wiederum die ausgegebene Geldmenge deckt. Das ganze kommt den guten Bürgern beim genaueren Nachdenken oft ziemlich unsolide vor. Denselben guten Bürgern würde nie in den Sinn kommen, etwas unsolides an der Art zu finden, wie eine Zentralbank gewöhnlich und von jeher arbeitet.
Die goldenen Jahrzehnte seit dem Boom der 1950er lang haben die Zentralbanken ihr ausgegebenes Geld gedeckt, oder wenn man will besichert, durch Wertpapiere verschiedener Art; nehmen wir das aus historischen Gründen bedeutende Geschäft der Wechseldiskontierung. Die Verbindlichkeiten innerhalb der Geschäftswelt werden in der Regel nicht in bar bezahlt, sondern durch Verbriefung der Schuld, etwa durch Wechsel; der Empfänger bringt diesen zu seiner Bank, die ihm die Summe, auf die er lautet, abzüglich eines Abschlags, des Diskontzinses auszahlt. Sie gibt ihm damit eigentlich ein Darlehen. Die Bank kann wiederum die Fälligkeit abwarten und die Summe einziehen, oder sie kann ihn an die Zentralbank geben und dort wiederum diskontieren lassen. Der Zinsabschlag, den die Zentralbank vornimmt, hiess Diskontzins und war bis in die 1980er der Leitzins der deutschen Bundesbank. Die so erworbenen Wertpapiere in eigener wie in ausländischer Währung bilden den grössten Teil der Aktiva der Zentralbankbilanz, den Grundstock der Deckungsreserve.
Früher einmal hatten die Zentralbanken gemeint, Gold und Edelmetall als Deckungsreserve zu halten und damit ihre Notenausgabe zu decken. Aber die Menge des Golds reicht für die Geldmengen, mit denen die kapitalistischen Gesellschaften seit den 1960ern hantieren müssen, nicht mehr aus. Die Schwierigkeit der Golddeckung besteht auch gerade darin, dass ihr Kern, die Einlösung von Notengeld in Gold, gerade dann versagt, wenn sie nötig ist, nämlich bei einem bank run. Marx hat über den Bank Act von 1844 im „Kapital“ allerhand ergötzliches geschrieben. Als die wirkliche Reserve der Zentralbank mussten auch unter dem Goldsystem schon nicht das Gold, sondern der in der Bank zentralisierte Nationalkredit angesehen werden; die ungeheure Anhäufung von Schuldtiteln, das ist der Kern des ganzen Geldsystems.
Daran ist, wie gesagt, nichts unsolides gefunden worden, ausser von Leuten, die Gold als etwas solideres ansehen als eine ungeheure Anhäufung von demnächst fälligen Schuldscheinen. Was unterscheidet nun Staatsschuldscheine? Auch Staatspapiere sind verbriefte Schuldtitel. Sie gelten in der Regel als besonders wertbeständige, aber niedrigverzinsliche Anlagen, vergleichbar dem Gold. Auf den Kapitalmärkten steigen ihre Kurse, ebenso wie das Gold, in der Regel dann, wenn die Aktien, Unternehmensschuldtitel etc. sinken, also in Phasen wackeliger Konjunktur oder Unsicherheit. Sie bilden also im Portfolio der Wertanlagen den konservativen Teil; und zwar sowohl für die Banken, Versicherer oder Anlagegesellschaften (der Pensionsfonds z.B.), als auch natürlich der Zentralbanken.
Überhaupt steht die Staatsschuld ja in einem eigenartig zweideutigen Ruf, als ob sie einerseits ein grosses Übel wäre, aber ihre Abschaffung würde das kapitalistischen Finanzsystem auf eine blanke Unmöglichkeit reduzieren. Soviel Gold, um als werterhaltende Anlage zu dienen, gibt es gewisslich nirgendwo, und wenn es soviel gäbe, würde es gerade dazu untauglich. Von der anderen Seite ist die moderne, das heisst die permanente Staatsschuld das Gegenstück zum privaten Reichtum der modernen bürgerlichen Gesellschaft; das heisst sie ist eine direkte Notwendigkeit unter dem bestehenden System, und sie hat tiefe historische Wurzeln. Sie abzuschaffen heisst soviel, wie Staat und Geld abzuschaffen.
Zurück zur EZB. Der Staat, bzw. die Zentralbank, ist nicht der einzige, der Geld ausgibt oder schafft; sondern, wie wir gesehen haben, tun dies die einzelnen Unternehmen und Banken genauso. Das Zentralbankgeld ist ursprünglich nichts anderes gewesen als ein verbriefter Schuldtitel, nämlich zuerst auf Zahlung einer entsprechenden Summe in Gold. Die Ablösung dieser Einlösepflicht ist ihrerseits nur möglich gewesen durch die zentrale Stellung der Zentralbanken selbst; ihre Noten sind garantiert durch den gewaltigen Haufen Forderungen in ihrem Besitz. Sie werden also von der ganzen Gesellschaft ohne weiteres als Gegenwerte akzeptiert werden, solange eben, und das ist der Hauptpunkt, diese Garantie reicht, und das hängt von etwas ganz anderem ab.
Eine kräftig exportierende Nationalwirtschaft, mit einem Überschuss in der Handelsbilanz, bringt Schuldtitel, verbriefte Forderungen ins Land, wo sie übers Bankensystem in die Zentralbankbilanz wandern, und sich als Devisenreserven, oder unter dem früheren System als Edelmetallreserven niederlassen. Eine Nationalwirtschaft, die auf dem Weltmarkt im Hintertreffen liegt, wird dagegen mit entsprechenden Abflüssen zu kämpfen haben. Die Zentralbankbilanzen spiegeln die internationalen Herrschaftsstrukturen wider, die von der kapitalistischen Produktionsweise in die Welt gebracht und aufrechterhalten worden sind.
Wie aber können dauerhafte Überschüsse sich halten? Verstösst das nicht gegen die vier Grundrechenarten? Nun, eben vermittelst solcher Dinge wie der Staatspapiere. Die Erlöse, die die weltmarktführenden Nationen aus dem Rest der Welt herauspressen, wären an sich bald wertlos, wenn sie nicht dauerhaft und verstetigt angelegt werden könnten. Was ein Staat nicht an Steuern einnehmen kann, muss er als Schulden aufnehmen. Auf diese Weise geraten massenhaft Staatsschuldtitel aus aller Welt in die Bank- und Zentralbankbilanzen, wo sie eine unverzichtbare Rolle spielen. Und jede globale Rezession wirft eine Reihe von Staaten in eine Schuldenkrise, die auch immer eine Bankenkrise in den Metropolen sein wird; weswegen man zur Rettung der Banken dann diese Staaten auf irgendeine Weise partiell funktionsfähig zu halten hat, nämlich als Garanten des Schuldendiensts. Das kann nicht gut gehen, und es geht auch nie gut. Aber von allen Gebilden in der Geschichte aber hat es nur die Europäische Union geschafft, beide Seiten der Gleichung in ein und demselben Gebilde gefasst zu haben. Und auch das kann nicht gutgehen, das ist der Inhalt des Urteils nach seiner ökonomischen Seite, aber es wird trotzdem keinesfalls unterlassen werden, im Gegenteil. Und auch des steht in dem Urteil. Und auch das kann nicht gutgehen, und auch das usw.
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Nach seiner juristischen Seite betrachtet, lassen sich diese Verhältnisse dort leicht wiederfinden unter Begriffen wie Preisstabilität, Währungspolitik als entgegengesetzt zu Wirtschaftspolitik, Demokratieprinzip und Haushaltshoheit und dem entgegengesetzt das „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“. Das bundesdeutsche Rechtsverständnis, als das einer führenden Exportnation, sieht die Aufgabe einer Zentralbank darin, den Aussenwert der Währung zu gewährleisten, nämlich das Ergebnis ihrer Exportanstrengung, und die Früchte der internationalen Ausbeutung. Wirtschafts- und Sozialpolitik sind dagegen die Arbeit der Regierung, die diese Früchte der Ausbeutung nach innen zu verwalten hat.
Das war unter der D-Mark so, und man hatte nicht vor, das durch die Währungsunion zu ändern. Keinesfalls sollte Währungspolitik als Wirtschafts- und Sozialpolitik getrieben werden. Das ist in anderen Ländern durchaus üblich, wie einer der Klägervertreter selbst , der freiburger Staatsrechts-Professor Murswiek, in der FAZ (3.12.2015) ausführt: „Die Fed“, die amerikanische Notenbank, „darf demgegenüber mit ihrer Politik auch auf Vollbeschäftigung hinwirken; sie hat also nicht nur ein geldpolitisches, sondern auch ein wirtschaftspolitisches Mandat. Andererseits ist sie gegenüber dem Kongress rechenschaftspflichtig, und der Kongress kann eingreifen, wenn er die Politik der Fed nicht mehr mittragen will. Die EZB ist hingegen unabhängig – auch gegenüber dem Parlament. Und ihre Unabhängigkeit ist auf Verfassungsebene garantiert. Das gibt es bei keiner anderen großen Zentralbank.“ Das findet er gut. Das muss man dazu sagen.
Warum er das gut findet, sagt er nicht. Er sagt nur, warum er glaubt, dass er das gut findet: „Der Unabhängigkeit liegt eine gute Idee zugrunde: Die EZB soll allein am Maßstab des geldpolitischen Sachverstands ihrer Organmitglieder die zur Wahrung der Preisstabilität notwendigen Entscheidungen treffen, ohne dabei dem Druck der Politiker ausgesetzt zu sein, die mit Blick auf die nächsten Wahlen dazu neigen, sich mit Ausgabenprogrammen beliebt zu machen, statt Haushaltsdisziplin zu üben.“ Er glaubt, dass es an sich gut ist, wenn der Staat wenig ausgibt, und dass das einen guten Einfluss auf die Stabilität des Geldwerts hat. Er kann das nur glauben, wenn er gleichzeitig vergisst, was für eine Menge an ausländischen Staatschuldpapieren in so einer Zentralbankbilanz dazu nötig sind, die Stabilität des Geldwerts garantieren zu helfen. Es müssen nämlich die ausländischen Staaten genug ausgeben, damit man selbst von der „Haushaltsdisziplin“ etwas hat: das ist die fiskalische Übertragung der Exportorientierung.
Nicht nur haben ganz offensichtlich haben die anderen europäischen Wirtschaftsräume ganz andere Interessen, nämlich z.B. ganz einfach überhaupt wieder Zugang zum Kapitalmarkt, um Anleihen aufnehmen zu können. Sondern verrückterweise hat nach allem auch die deutsche Ökonomie ein Interesse daran, dass sie das können. Die deutsche Zentralbank nahm denn auch an dem Anleihenkaufprogramm teil; aber nur gegen gewisse Garantien: Keine konkrete Ankündigung der Käufe nach Höhe und Zeitpunkt, Möglichkeit des Wiederverkaufs, Sperrfrist zwischen Emission und Kauf, Ankaufsobergrenze von 33% der Emission, Ankaufvolumen nach Kapitalzeichnungsschlüssel, usw.
Aber, so der Klägervertreter damals in seinem FAZ-Artikel, es darf natürlich nicht sein, dass „für Verluste aus den von der Zentralbank gehaltenen Staatsanleihen alle Mitgliedstaaten letztlich gemeinschaftlich haften: Mit den Verlusten der EZB aus einer eventuellen Insolvenz eines Krisenstaates werden indirekt die Haushalte der anderen Eurostaaten belastet. Solche Umverteilungsprobleme werden durch Entscheidungen der Fed oder der Bank of England nicht hervorgerufen. In einer Währungsunion hat daher das Verbot der monetären Staatsfinanzierung – wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend betont hat – zentrale Bedeutung für die Absicherung des Demokratieprinzips.“
Wenn z.B. Griechenland insolvent geht, sind die griechischen Staatspapiere in der Bilanz der Bundesbank wertlos, und der Bundestag ist gezwungen, in einem Nachtragshaushalt in die Bundesbank Kapital nachzuschiessen. Das ist natürlich ein schwerer Eingriff in die Budgethoheit. Das gleiche gilt z.B. für den Fall einer Insolvenz der Deutschen Bahn AG, weswegen es verfassungswidrig wäre, dass der Bund überhaupt Kapitalgesellschaften betreibt. Das ist natürlich absurd; ausser, man versteht unter Budgethoheit und Demokratieprizip nichts anderes und genau dieses, dass eine Umverteilung nie sozusagen von deutschem Boden ausgehen darf. Die Kläger, darunter zwei Gründer der AfD, vertreten einen ganz unmöglichen Standpunkt.
Das Bundesverfassungsgericht ist dieser extremistischen Auffassung nicht gefolgt, und mit gutem Grund, denn sie untersagt streng genommen Geschäftsbeziehungen aller Art zum Ausland. Es hat hingegen etwas noch viel unbegreiflicheres ausgeurteilt. Unter den oben genannten Garantien, sagt es, liegt kein Verstoss gegen das sogenannte Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, Art. 123 Abs. 1 AEUV, vor. Danach ist der Bank verboten, dem Staat direkt Geld zu leihen, d.h. direkt Staatsschuldtitel zu kaufen. Es ist interessant, dass „nur die europäische Währungsverfassung ein Verbot der monetären Staatsfinanzierung enthält. Außerhalb der Eurozone ist den Zentralbanken die Haushaltsfinanzierung mit der Gelddruckmaschine nicht verboten“, wie der freiburger Professor weiss. Warum aber dieses? Wiederum weil ohnedies „insbesondere Deutschland nicht bereit gewesen wäre, die D-Mark zugunsten des Euro aufzugeben.“
Die EZB darf also nur auf dem offenen Markt solche Schuldtitel erwerben, und nur zu den in den europäischen Verträgen genannten Zwecken, nämlich um die Währungsstabilität zu gewährleisten, nicht jedoch aus irgendwelchen anderen ökonomischen Erwägungen. Auf welche Weise kann man Staatsschuldtitel aufkaufen, um die Währungsstabilität zu gewährleisten? Wenn man feststellt, dass man in einer Deflationsspirale, d.h. in einer Rezessionslage steckt, und man mit anderen Mitteln kein Geld mehr in das Bankensystem mehr gestopft bekommt. Das ist das Ergebnis der europäischen Finanzarchitektur und der berühmten deutschen Stabilitätskultur der D-Mark: dass die einzige Politik gegen die Krise, die sie haben finden können, ein gräulicher Workaround ist, ein auf Dauer gestellter Notbehelf, völlig gegen den Geist der Vorschrift, völlig ungeeignet für den vorschriftsmässigen Zweck.
Und die ganze Heuchelei dieses Kompromisses zeigt sich eigentlich darin, was das BVerfG dann, anders als die Kläger, wirklich zu beanstanden hat: dass nämlich die EZB nicht dargelegt hat, und das EuGH nicht geprüft hat, ob dieses Aufkaufprogramm denn „verhältnismässig“ sei, d.h. ob seine gesamtwirtschaftlichen Folgen denn vertretbar seien, als da wären „die Auswirkungen … , die das PSPP etwa für die Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise und das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen hat“ (Urteil v. 5.5., 139); diese Auswirkungen soll die EZB berücksichtigen, auch wenn sie „mit geldpolitischen Instrumenten keine Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben darf“, wie es kurz vorher geheissen hat, im selben Satz.
Die schlagende Absurdität dieser Idee, Wirtschaftspolitik zu treiben, ohne Wirtschaftspolitik zu treiben, kann man eigentlich nicht weiter kommentieren. Aber die rechtliche Begründung aus dem EU-Primärrecht ist tadellos und richtig; um so schlimmer für das EU-Primärrecht! Es enthält offenbar eine schlagende Absurdität. Denn die Wirtschaftspolitik ist nach den Verträgen alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Währungspolitik ist der EZB übertragen. Der Europäische Gerichtshof hatte in einer Vorlageentscheidung zum selben Verfahren völlig richtig ausgeführt, Währungspolitik und Wirtschaftspolitik liessen sich nicht klar trennen; was logischerweise zur Folge haben muss, dass das europäische System, einmal in Gang gesetzt, diese wirtschaftspolitische Kompetenz kraft Sachzusammenhang benötigt, um zu funktionieren (136 ff.).
Dem hält das BVerfG entgegen, dass das die Verträge nicht hergeben (163). Die Verträge ermächtigen die Einrichtungen der Union in einzelnen Punkten, sie übertragen nicht die originär verfassungsfortbildende Kompetenz. Die Verträge müssten also durch die Einzelstaaten geändert werden. „Der Erlass wirtschaftspolitischer Maßnahmen durch das ESZB erforderte eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV … , sodass der Gesetzgeber tätig werden müsste“ (160). Das aber ist nach den herrschenden Kräfteverhältnissen ohne einen Umsturz nicht denkbar.
Der Weg, den das BVerfG stattdessen vorschlägt, ist nicht gut gangbar: der Rat der EZB soll nachvollziehbar jedesmal die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Programms darlegen, und das soll gerichtlich bei jedem Schritt nachprüfbar sein (145, 156, 189). Eine so weitgehende Verrechtlichung der Zentralbankpolitik hat es aus Gründen nie gegeben. Diese Politik ist immer und systemnotwendig ein rechtsfreier Raum geblieben. Eigentlich legt, ohne es zu wollen, das Gericht im Namen der Unabhängigkeit der Zentralbank die Axt an die Unabhängigkeit der Zentralbank.
Falls das Gericht glaubt, eine praktikable Lösung vorgelegt zu haben, hat es offenbar die deutschen Kläger vergessen. Wo die Gauweiler, Lucke, Henkel oder Bolko Hoffmann selig herkommen, gibt es noch mehr. Und Materie genug für weitere Klagen wird es in naher Zukunft geben. Es ist völlig ausgeschlossen, dass die Zentralbank – irgendeine Zentralbank! – eine unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit nachvollziehbare Abwägung für ihre Entscheidungen darlegt, und gleich zweimal, wenn ihr Statut ihrem eigentlichen Zweck derart im Weg steht; und dreimal, wenn die merkwürdigen Wege, die sie dabei findet, buchstäblich alles ist, was das EU-Universum gegen die Krise von 2008 auf die Beine bekommen hat.
Die Krise von 2008 ist nicht vorbei, da hat die von 2020 schon angefangen. Eine Lösung wird sie auf dem Boden der bestehenden Ordnung nicht finden. Das Problem heisst nach der ökomischen Seite: wer eine Lösung innerhalb der verfassungsmässigen Ordnung verhindert, bekommt eine Lösung ausserhalb der verfassungsmässigen Ordnung. In juristischer Hinsicht heisst es: entweder es gibt es eine europäische Verfassung, oder es gibt auch keine europäische Zentralbank. Das Problem ist gestellt.