Buchbesprechung: J. Moufawad-Paul, Continuity and Rupture, Philosophy in the Maoist Terrain, Zero Books, Winchester u. Washington DC 2016
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Es gibt ganz offenbar ein Bedürfnis nach begrifflicher Klarheit, was die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung betrifft. Ein maoistischer Philosophieprofesser, Moufawad-Paul, hat in „Continuity and Ruptute“, 2016, eine Untersuchung vorgelegt, die das verspricht; und wenn man nicht allzu genau hinsieht auch hält. Ausgerechnet ein Maoist! Historisch waren die Maoisten von allen marxistischen Schulen die schlampigsten. Ihre Vorliebe war bisher eher die Inszenierung von krasser Gewalt durch gewollt einfältige Lüge.
Ein Philosophieprofessor weiss natürlich etwas über die studentische Jugend, das diese über sich selbst nicht weiss; er weiss, wie man das Bedürfnis nach zwingender Logik befriedigt. Alle bisherigen maoistischen Lehren hingen bisher schief unter dem Himmel; als grobe, willkürliche Gewaltakte ohne historische Rechtfertigung. Das macht einen Teil ihres Reizes aus. Moufawad-Paul hat nun unerfindlicherweise unternommen, ihnen den dazu nicht recht passenden Anschein historischer Notwendigkeit zu verfertigen.
Es ist ganz interessant, ihm dabei auf die Finger zu sehen. Die kleinen Fingerfertigkeiten der Philosophen sind ja im Grunde immer die gleichen seit den Tagen Hegels. Es hat sich seither auch erstaunlich wenig getan. Dasselbe bisschen Wahrheit wird um immer neue Unwahrheit gewickelt. Moufawad-Pauls Logik ist dabei bezwingend gearbeitet, wenn man einen Moment die Tatsachen aussenherum vergisst; oder auch, sie hilft dabei, die Tatsachen aussenherum zu vergessen, und das ist vermutlich ihr Zweck.
Aber seine Arbeit hat doch auch noch etwas anderes unverhofft gutes. Soweit die Wahrheit in seinen Sätzen nämlich trägt, gibt sie einen guten Zugang ab zu denjenigen politischen Ideen, die zeitweise Teile dieser Welt in Griff halten: über den Schein von Notwendigkeit, die sie ihren Anhängern vermitteln müssen, über die Quellen, aus denen sie diese beziehen, und über die ganze Welt von bloss willkürlicher Gewalt, der wir uns gegenübersehen müssen.
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M bezeichnet den Maoismus als Wissenschaft, genauer gesagt als neues Stadium einer Wissenschaft. Der Anspruch ist überraschend, ungewöhnlich, klingt vielleicht etwas angemasst und autoritär, aber öffnet das ganze ja immerhin der kritischen Überprüfung. Reden wir also über Wissenschaft! Gegenstand dieser Wissenschaft ist die Art und Weise der Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Nun spricht nichts dagegen, das zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung zu machen. Man muss so einen Anspruch dann aber auch einlösen können.
Marx hat, so M, den Anfang dieser Wissenschaft formuliert. Diesem Anfang entspricht in der Revolutionsgeschichte die frühe Zeit, der Revolutionsversuch der Pariser Commune. Diese frühen Revolutionsideen waren natürlich nicht vollkommen, sie trugen in sich Begrenzungen, und sie scheiterten notwendig; sie mussten in einem längeren Prozess überschritten werden, einer Kritik unterzogen, und anhand der Praxis in ein neues Stadium überführt. Das war die Arbeit, die, so M, in der russischen Revolution von Lenin übernommen wurde. Der Leninismus war natürlich nicht dasselbe wie der ursprüngliche Marxismus, sondern seine wissenschaftliche Weiterentwicklung.
M benutzt einen Vergleich aus der Wissenschaftsgeschichte immer wieder. Die alte Physik nach Newton stellte Sätze auf, die in der Optik und Elektromagnetik zu unmöglichen Resultaten führten; die Relativitätstheorie formulierte diese Sätze auf eine Weise um, die es gestatteten, die Wissenschaft bedeutend weiterzuentwickeln. Nach Einstein würde, so argumentiert er, niemandem gestattet sein, über die Gegenstände der relativistischen Physik mir vorrelativistischen Formeln herumzurechnen; sie mögen noch so orthodov newtonianisch sein, sie sind von der neuen Physik überholt.
Dasselbe beansprucht er für den Leninismus. Der Leninismus ist unter den marxistischen Schulen diejenige, die den Marxismus als einzige richtig weiterentwickelt hat; hinter seine Ergebnisse kann man nicht zurück. Er zitiert hier Zizek, der denselben Gedanken mit einem theologischen Bild ausdrückt: man könne genauswenig hinter Lenin direkt auf Marx zurückgreifen, wie man hinter Paulus direkt auf Jesus zurückgehen könne. Die Verrücktheit dieser theologischen Metapher ist beiden nicht aufgefallen. Marx war hautpsächlich ein Schriftsteller, und seine Werke sind bekanntlich überliefert. Jesus ist eine Gottheit und hat nie historisch existiert, sondern war eine Gestalt der kirchlichen Überlieferung, wie die Neutestamtentaristik gar nicht mehr bestreitet. Die Äusserungen Gottes in der Geschichte sind theologisch tatsächlich immer nur als durch die Kirche vermittelt gefasst. Es ist etwas übertrieben, dasselbe von Marx zu sagen.
Den ganzen Unsinn braucht M. auch hauptsächlich, um dasselbe über den Maoismus zu sagen. Auch die russische Revolution und der Leninismus hatten ihre inneren Begrenzungen, an denen sie gescheitert sind; und alsobald tritt dann in Gestalt des Maoismus eine Weiterentwicklung auf den Plan, die genau dasselbe historische Privileg erbt: der Maoismus ist dann nicht mehr eine besondere Form unter den terroristischen politischen Bewegungen, sondern die einzige gültige Form von wissenschaftlicher Revolutionstheorie, alles andere ist bedauernswerter, aber ohnmächtiger Irrtum.
Und dieser Maoismus ist sehr neu. Er ist keineswegs die Theorie und Praxis von Mao, sondern erst in den 1980ern entstanden. Diese Behauptung ist kühn und vielleicht sogar überspannt, aber das Zentrum seiner Darlegung. So wie Lenins Theorie erst von seinen rechtgläubigen Nachfolgern, die wir die Stalinisten nennen, fertig entwickelt worden ist, so auch die Maos. Mao überschreitet, sozusagen, den Leninismus erst, wo er nicht mehr Mao ist, d.h. nach seinem Tod in Gestalt von ganz anderen Leuten, zu denen wir gleich anschliessend kommen. Man könnte einwenden, dass der wirkliche historische Lenin ja immerhin ein tätiger Revolutionär gewesen ist, der mumifizierte Leninismus seiner Epigonen aber bekanntlich steril; M. gelingt es aber an dieser, solche berechtigten Bedenken rhetorisch zu zerstreuen. Im Falle Maos soll es umgekehrt sein.
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Die Neuheit, kraft derer der Maoismus aber die uns allen sehr gut bekannten inneren Begrenzungen des Leninismus überwinden soll, wäre die sogenannte Massenlinie und die Methoden der Kulturrevolution. Der Leninismus scheitert nämlich, wie die Geschichte der Sowjetunion gezeigt hat, an der neuen herrschenden Klasse, die er an die Macht bringt. Die Herrschaft dieser neuen Staatsklasse steht praktisch vom Moment ihrer Machtergreifung dem weiteren Fortschritt der Revolution im Weg.
Den Maoisten ist das besonders schmerzlich aufgefallen, nachdem die Führung der Sowjetunion den Stalin-Kult abgeschafft hatte. Urplötzlich stellte sich heraus, dass unter die sozialistischen Gesellschaftsform nicht mehr einen sozialistischen Klasseninhalt hatten, sondern auf einmal einen bürgerlichen: die Ökonomie unter Chruschtschow wurde auf einmal wieder nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt. Was aber war denn den vorher offenbar vorherrschende sozialistische Inhalt der Formen? Es war, wie uns maoistische Autoren versichern, derselbe, der den Aufbau der sowjetischen Industrie geleitet hat, also, wie wir leicht herausfinden können, die direkte zentrale Kommandowrtischaft, unterstützt durch die ungeheure Entfesselung des Terrors.
Der „proletarische“ Klasseninhalt der stalinistischen im Unterschied zur späteren „revisionistischen“ Sowjetunion ist also nicht etwa durch irgendeine besondere Stellung des wirklichen Proletariats bestimmt, sondern dadurch, dass er die gewaltsamste denkbare Negation des normalen, in gebräuchlichen Formen fortschreitenden, deswegen „bürgerlich“ genannten Betriebs ist. Das wirklich Proletariat ist für die stalinistische Staatsbürokratie ein Rohstofff, mit dem verschwenderisch umgegangen werden kann. Sobald natürlich die unmittelbar terroristische Aufbauphase endet, zeigt sich, dass diese ungeheure sogenannte sozialistische Industrie nach keinen anderen Prinzipien betrieben werden wird als die kapitalistische Industrie auch, deren direkte Nachahmung sie ist.
Den Maoisten ist das natürlich kein Argument gegen die terroristische Aufbauphase, sondern gegen den anschliessenden „Revisionismus“, also den staatlich kapitalistischen Gebrauch der terroristisch hergestellten Machtmittel. Dieser letztere führt ganz offensichtlich nicht in den Sozialismus, aber aus irgendeinem mystischen Grund gilt das für den terroristischen Staatsaufbau selbst nicht, im Gegenteil. Dieser ist nur von einer regierenden Clique böswillig für den eigenen Machterhalt missbraucht worden. Diesen Übelstand abzustellen, dazu gibt es natürlich kein besseres Mittel, als den Terrorismus permanent zu machen.
Es klingt alles komplett wahnsinnig, aber das war der Inhalt der Kritik des chinesischen Maoismus an der Sowjetunion ab 1960. Und in der sogenannten Kulturrevolution, so erfahren wir bei M., wandte die chinesische Partei diese Kritik auf sich selbst an: die Roten Garden, die Mao gegen den Parteiapparat mobilisierte, sollen, so hören wir, eine praktische Kritik der Begrenzungen des reinen Leninismus gewesen sein.
Weiran Lin, der als Schüler dabei war und es später historisch untersucht hat (The Cultural Revolution and Class History, Madison 1996), weiss es anders: die Roten Garden waren ürsprünglich die Jüngelchen der privilegierten Parteikader, die vom Führer ermächtigt wurden, ihre nichtprivilegierten Kommilitonen, Lehrer usw. in Unterwerfung zu terrorisieren oder umzubringen. Die Funktionärsjugend des Staatskapitalismus ersäufte ihre Lehrer, weil deren Eltern Bauern, oder die es die goldne Jugend nannte: Kapitalisten waren. Als sich dagegen in der zweiten Phase die Bauernjugend begann, ebenfalls zu organisieren, und Kinder der herrschenden Schicht als das anzugreifen, was sie waren: als die Leute der neuen herrschenden Schicht, da fand der Führer das selbstverständlich übertrieben. Als die Partei, die neue herrschende Klasse, in das Fadenkreuz neuer Arbeiter- und Studentenverbände geriet, wurde das Militär mobilisiert und die Kulturrevolution abgebrochen.
Ja, sagt M., das liegt daran, dass der Maoismus damals noch nicht wirklich vollendet war, noch erst gefunden wurde. Der Abbruch der Kulturrevolution, das bewegt sich noch in den Grenzen des alten Leninismus. Der Maoismus überschreitet diese Grenzen erst, wo er solche Dinge wie in der Kulturrevolution nicht als Exzesse, sondern als Methode begreift! Die organisierten Massen müssen die Partei kritisieren und ihr ihren Willen aufzwingen dürfen. Dann, aber auch nur dann, wird die Partei wirklich das Werkzeug der arbeitenden Klasse, die Garantin ihrer Einheit, ihre Stimme und die Organisation ihres politischen Willens.
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Das Problem, das M. hier behandelt und für das der Maoismus die Lösung zu sein beansprucht, gibt es ja tatsächlich. Im westlichen Marxismus wird es traditionell unter dem Namen der „Klasse an sich“ behandelt, die auf irgendeine Weise zu der „Klasse für sich“ werden soll. Hier geht es nicht weniger mystisch zu: eine in sich unverbundene Menge von Menschen, oder eine nur über das Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft verbundene Menge von Menschen soll zu einem handlungsfähigen historischen Subjekt werden; mit einem eigenen Willen. Und zwar kann sie das, in den lukacsianischen Varianten, natürlich nur vermittelst der Partei. Die Partei hat, dank des demokratischen Zentralismus, einen einheitlichen Willen; sie hat aber natürlich an sich kein proletarisches Klassenbewusstsein. Sondern sie hat an dessen Stelle zunächst nur den dialektischen Materialismus, das heisst den Marxismus-Leninismus; eine Intellektuellenideologie, die dem Bürgertum entstammt.
Das ist gar keine böswillige Unterstellung, sondern der Marxismus-Leninismus gibt das ja völlig freimütig zu: die Arbeiter haben nicht die Zeit und die Mittel, in ihrer Lage direkt zu einem ausgearbeiteten Verständnis ihrer Lage zu kommen. Diese Zeit und Mittel haben nur die Angehörigen der privilegierten Klassen, die bürgerlichen Intellektuellen. Die Partei wird, wo sie gegründet ist, auch notwendig von diesen gegründet und beherrscht, so dass sich das Problem stellt, wie sie zu einer Partei der Arbeiter werden kann. Indem sie Arbeiter als Mitglieder gewinnt, indem ihre Mitglieder in die Organisationen der Arbeiterklasse, in die Gewerkschaften hineingehen und an deren Kämpfen teilnehmen?
Aber, wie die Leninisten sagen, diese Kämpfe haben einen nur ökonomischen Inhalt. Die Partei verliert, wenn sie in diesen aufgeht, ihren eigenen politischen Inhalt, ohne dass etwas gewonnen ist: sie muss handeln, als teile sie die Illusion über die Erfolgssaussicht solcher Kämpfe, ohne ihnen Einheit und Überblick hinzufügen zu können. Das Problem ist echt, d.h. es ist nicht dadurch gelöst, dass man den Leninismus und den diktatorischen Staat ausstreicht. Das Problem kennen ja, unter einem anderen Namen, die Anarchisten auch. Woher sonst neuerdings wieder das Interesse am Plattformismus?
Die ungeheure Menge an Sekten, die mit unberufenen Ratschlägen am siechen Körper der Klassengesellschaft herumdoktern, gibt es ja nicht deswegen, weil die Linken alle freiwillig dumm wären, sondern weil in der Tat der Zustand dieser Klassengesellschaft so ist, dass notwendig ausser den Kindern der intellektuellen Schichten niemandem auch nur ein unberufener Ratschlag einfällt. Bloss weil, hat Jochen Bruhn irgendwo einmal gesagt, die Vermittlung zwischen Klasse an sich und Klasse für sich nie gelungen ist und nie gelingen wird, heisst das noch lange nicht, dass ohne eine solche Vermittlung an die proletarische Revolution zu denken wäre.
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An eine Lösung ist aber nicht zu denken. Was hier misslingt, misslingt nicht wegen irgendeiner Unzulänglichkeit. Das Subjekt der Revolution, der Gesamtwille der proletarischen Klasse, ist nämlich gerade so gut zu finden oder auch nur zu denken wie der Gesamtwille der bürgerlichen Gesellschaft, auf die man sich den Staat und das Recht so sicher gegründet vorstellt. Dass die Mitglieder der Gesellschaft neben ihrem besonderen Willen, ihrem Eigeninteresse als Privatperson, auch noch einen anderen Willen bilden könnten, der ihre Handlungen als Staatsbürger bestimmt: derartiges wäre seit Rousseau sogar den bürgerlichen Staatstheoretikern zu mystisch. Aus der einfachen Addition der einzelnen Privatwillen wird nie und nimmer ein nicht-privater Gesamtwillen. Wie aber dann?
Der Staat steht, das hat die Untersuchung (s. Finkenberger, Staat oder Revolution, bei ca ira, Freiburg 2015; demnächst Bd. II) gezeigt, der Gesellschaft äusserlich gegenüber, er geht nicht organisch und einsichtig aus ihr hervor, auch und gerade nicht unter der Demokratie; und in genau demselben Verhältnis steht die Partei zu der Klasse. Der Staat erscheint als eine Verdoppelung der Gesellschaft, als die Gesellschaft nocheinmal, unter der Form einer eigenen Person, neben der Gesellschaft; weil die Gesellschaft gerade eigene Handlungsfähigkeit, eigene Organe nicht hat. Und ganz analog zeigt sich, dass die Partei aus der Klasse an sich auf gar keine Weise hervorgehend gedacht werden kann, aber so, dass sie sich anmassen muss, der Klasse gegenüber die Klasse für sich darzustellen.
Es wird kein bisschen besser dadurch, dass es hier ja schliesslich um den proletarischen Gesamtwillen geht, nicht um den einer Klassengesellschaft. Das Problem sitzt gar nicht auf der Klassenspaltung, sondern auf der Gesellschaftlichkeit. Es stellt sich für die sogenannten sozialistischen Gesellschaften nicht anders als für die bürgerlichen, eher noch unmittelbarer.
Und so ist der Maoismus, dessen vollen philosophischen Begriff M. her begründet, tatsächlich der terroristische Versuch, eine Lösung zu synthetisieren, wo eine Lösung nicht gelingen kann; das revolutionstheoretische Problem der Klasse an sich zu lösen, und durch dieses wiederum das Problem der Staatsgründung. Und es gibt da an sich nichts neues. Im Gegenteil.
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Die Revolutionsgeschichte seit 1792 weiss von einigen Bewegungen dieser Art, die das Problem der Revolution, das heisst der Errichtung einer Gesellschaft auf ganz ähnliche Weise zu lösen versucht hat. Nehmen wir als Beispiel Blanqui, dessen Name wie Erzklang das 19. Jahrhundert erfüllt hat, wie Benjamin meinte! Der Einfluss Blanquis und seiner Schüler auf alles, was nach ihm kam, wird zu Unrecht verkleinert; „alle seiner Schüler verleugneten ihn / ausser einem“, heissts bei Enzensberger Mausoleum, und der war Mussolini.
Und damit sage ich nichts über die Art des Einflusses. Es wird aber niemand behaupten, dass die Blanquisten sich besonders hervorgetan hätten durch übermässiges Interesse an der Verbesserung der Lebensbedingungen hervorgetan hätten, oder gar mit einem Sozialprogramm oder irgendeiner Vorstellung von der konkreten Einrichtung bekannt geworden wären. Sie haben überhaupt kein nachweisbares Interesse am Sozialismus gehabt. Alles, was an ihm für sie Interesse hatte, war die Revolution, die zu ihm nötig sein würde; die ihr Gelegenheit gäbe, an die Grosse Revolution, die patriotische Mobilisierung von 1792 und die Entfesselung des Terrors anzuknüpfen, in deren Gluthitze dann die neue Gesellschaft entsteht.
Sie hatten keine Idee, wie diese neue Gesellschaft dem Schicksal entgeht, zu werden wie die alte auch, wie also das Problem des gesellschaftlichen Organisation zu lösen ist ohne Wiederherstellung der Formen Privateigentum, patriarchale Familie und Staat: und die Gewerkschafts- und die Genossenschaftsbewegung, die zu diesen Fragen unendlich viel mehr nützliches beigetragen haben, haben sie verachtet wie die Leninisten den „Ökonomismus“; das muss uns misstrauisch machen. Es ist nicht schlichtweg die autoritäre, sondern präzise diejenige Tradition innerhalb des revolutionären Sozialismus, der man mit dem grössten Misstrauen begegnen muss: diejenige, die mit den Fragen der wirklichen gesellschaftlichen Praxis in gar keiner Beziehung steht.
Eine Revolutionstheorie, die ohne Hinsehen auf solche Dinge entworfen wird, und jede maostische hat bisher dazugehört (ja, jede „Revolutionstheorie“), kann genausogut im Namen jeder anderen Lehre, Sekte oder Idee hingestellt werden. Der Sozialismus ist bei diesen nur ein äusserlicher Zierat, der leicht weggetan werden kann. Pol Pots Partei hat ihn ja von einem Tag auf den anderen zugunsten des reinen Rassismus fallen lassen. Dieselbe Revolutionstheorie kann auch einer ganz anderen Tendenz dienen. Die verschiedensten Regime haben vom Maoismus gelernt. (Hat eigentlich Mao vom Maoismus gelernt? Grice, The Myth of Mao and Modern Insurgency, Palgrave MacMillan 2019 stellt diese berechtigte Frage. Aber die Rede ist, wenn wir M. folgen, ja nicht von Mao, sondern dem Maoismus, und das sind zwei sehr verschiedene Dinge.)
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Wenn man M.s sehr konzise argumentiertes Werk, in dem vom Sozialismus kein nenneswertes Wort steht, durchliest, fühlt man vielleicht unweigerlich an die innere Dynamik der jihadistischen Bewegung erinnert. Auch dort streitet man sich ja, welche der bewaffneten aufständischen Organisationen auf welchem rein zufälligen Flecken der Welt das im Moment legitime Vaterland der Gläubigen ist, welchem Befehlshaber der Gläubigen man Gehorsam schuldet, und welche anderen Gruppen aus welchen Gründen vom richtigen Weg abgewichen und Verräter geworden sind.
Mit dem Tod Maos und dem Sturz seiner Richtung in China wird auch der Platz an der Spitze der maoistischen Weltbewegung vakant, und die diversen Prätendenten beanspruchen die Nachfolge. Die richtige Linie einer Organisation reicht nicht aus. Hat sie auch eine Partei gegründet, führt sie die Massenlinie korrekt durch, beherrscht sie Gebiete, hat sie den sogenannten Volkskrieg begonnen? Der sogenannte langwierige Volkskrieg ist die höchste politische Entfaltung des Maoismus. Alle seine politischen Begriffe münden in diesen ein: nicht nur ist er die ultimative Perspektive der Umwälzung, sondern von ihm aus bestimmt sich auch die Richtigkeit aller sonstigen Begriffe, und zuletzt auch, welche maoistische Gruppe eigentlich die wahre Partei ist.
Denn es haben viele bewaffnete Gruppen ähnliches begonnen, und der Nichteingeweihte wird hier vermutlich vermuten, etwa die EZLN, die PKK, oder ähnliche Organisationen wenigstens erwähnt zu finden. Nichtsen. Der maoistische Aufstand in Nepal bis zum Friedensschluss (danach Verrat), der in Indien und der auf den Philippinen gelten noch als rechtgläubig genug. Aber als ultimatives Eichmass gilt der Aufstand des Leuchtenden Pfads in Peru; dessen geliebter Führer Guzman, den sie Präsident Gonzalo nennen, beansprucht immerhin, das fünfte Schwert des Marxismus zu sein: nach Marx, Lenin, Stalin, Mao. Man sieht, es geht um geschichtstheologische Legitimität: es gibt in jedem Zeitalter nur einen Imam. Das Auftreten des nächsten Imams eröffnet das nächste Zeitalter.
Wer das jetzige Schwert, den Anführer des jetzigen Zeitalters nicht anerkennt, kann nicht rechtgeleitet sein. In dem Anführer und den Kultus, der um ihn gemacht wird, konzentriert sich die Einheit der Partei. Je abstruser die Lobhudelei um seine übermenschliche Genialität, desto mehr muss sie geglaubt sein. Denn nur dieser Glaube vermittelt die dringend benötigte Einheit, ohne ihn besteht von ihr nicht eine Spur. Er garantiert die Einheit der Partei mit ihrer historischen Bestimmung, und damit ihren einzigen Anspruch, die gesellschaftliche Einheit zu verkörpern. Das Illusorische daran ist das realste daran.
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Die Partei entscheidet auch nicht aufgrund wirklicher gesellschaftlicher Bedürfnisse, welche Form des Kampfes sie zu wählen hat, sondern sie handelt in völliger abstrakter Souveränität. Sie verhält sich gegenüber der gesellschaftlichen Realität, als Depositarin der politischen Entscheidung, nicht als abhängige Funktion gesellschaftlicher Kämpfe. Sie konstituiert sich nicht durch einen Akt der Klasse, oder sonst einer gesellschaftlichen Grösse, sondern auf übernatürliche Weise durch einen blossen Willensakt, der keine Voraussetzungen hat.
Das wird selten so klar ausgesprochen, aber ist in M.s Darstellung mit Händen zu greifen. Der Volkskrieg, wie sie es nennen, wird ja nicht vom aufgenommen, weil das „Volk“ es so will, sondern weil die Führung es für richtig befindet. Seinen Erfordernissen wird alles andere untergeordnet. Der Wille des „Volkes“ dient der Führung als Ansatzpunkt, sie zu manipulieren und um ihre kleinlichen ökonomische Interessen zu betrügen, im Namen der eigenen höhen Einsicht. (Man lese ruhig in der durchaus sympathisierenden Beschreibung bei Meisner, Mao’s China and After, Simon & Schuster 1999 die Kapitel über die Kollektivierung und die Kulturrevolution.) Sie wird auch gewaltsam gegen die Klasse durchgesetzt. Und das muss sie auch, weil weder der Volkskrieg noch ein Sieg dem „Volk“ irgendetwas zu versprechen hat ausser nur mehr und neue Leiden.
Der Kampf wird auch gar nicht begonnen um eines Ziels willen, sondern um der Dynamik willen, die er freisetzt. Der Kampf entscheidet nicht, wie bei den früheren Leninisten, eine einmal eingetretene „revolutionäre Situation“, sondern er stellt eine solche Situation überhaupt her. Er zerreisst das Kontinuum des gesellschaftlichen Lebens, zwingt allen ihren Insassen eine unmögliche Entscheidung auf, treibt sie in Gewaltsamkeiten, und reisst ihnen die Möglichkeit, unbeschadet durchzukommen, aus der Hand. Er kommt nicht aus vorhandenen Widersprüchen, sondern wirkt wie von aussen auf sie ein. Er katalysiert den gesellschaftlichen Prozess, löst ihn in seine konflikthaften Elemente auf, zerstört seine Grundlagen und wirft sich dann in den eroberten Gebieten zur einzigen Macht auf, die Hilfe verspricht.
Von einem strategischen Feind kann er nicht ohne weiteres geschlagen werden, da er keine strategische Position hat, deren Verlust sein Ende bedeutet; kein strategisches Ziel, auf das er Rücksicht nehmen muss; nichts ausser dem Kampf selbst. Der bewaffnete Kampf löst die alte Ordnung auf, und wenn er langsamer ermüdet als sein Feind, dann erzwingt er eine neue Ordnung.
Oder so verhält es sich in der Ideenwelt der neueren maoistischen Theorie und allen ähnlichen Bewegungen. In Wahrheit besteht der Prozess nur, solange die Führung besteht. Wenn die Guerilla bedroht ist, zieht sie sich zurück und lässt die Bauern schutzlos der Rache ausgeliefert zurück. Aber Guzman („Präsident Gonzalo“) wurde mit seinem Stab im ersten Stock einer Tanzschule gefasst, und alsobald war der Spuk vorbei; aus dem Gefängnis wandte sich das Fünfte Schwert an die Partei und verkündete das glorreiche neue strategische Ziel, nämlich den Kampf einzustellen, um seinen allerhöchsten Arsch zu retten. Und sie parierte. (Über diese wahnsinnige Geschichte Degregori, How Difficult It Is To Be God, University of Wisconsin Press, Madison 2012)
Nichts an dem ganzen Unsinn ist nämlich wahr ausser der Zerstörung, die er hinterlässt. Wie schafft denn „das Kapital“, die alten Gesellschaften zu zertrümmern und sich zu unterwerfen? Schaut nach China. Der ungeheure Aufschwung des Kapitalismus in China ist das glorreiche Ergebnis der Grossen Proletarischen Kulturrevolution, und wird dort allgemein als das kleinere Übel gesehen; die Trümmer der Bauerngesellschaft in Peru, die der Leuchtende Pfad hinterlassen hat, hat er der städtischen Industrie in den Rachen geworfen. Am Ende, wenn der Wahnsinn sich ausgebrannt hat, räumt man ihn fort und kehrt zum ganz gewöhnlichen Kapitalismus zurück; bis die unvermeidbaren Intellektuellen zum Schluss kommen, hier sei ein skandalöser Verrat begangen worden, und irgendwo das ganz nocheinmal anfangen, nur noch radikaler.
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Was muss man also zu dem Buch sagen? Es ist eine hervorragende Darstellung einer Sache, die man nur mit Lug und Trug verteidigen kann. Fast alles daran klingt zwingend, und nichts daran stimmt. Den Intellektuellen, die in ihren einem Jahrhundert alten leninistischen Schemata gefangen sind, wird nichts dagegen einfallen können. Dazu greift M. zu tief in die Grundlagen aller ihrer Irrtümer. Das Thema, weil falsch gestellt, arbeitet für ihn.
Natürlich heisst das nicht, dass er durchschlagenden Erfolg haben wird. Die Welt ist nicht so eingerichtet. Seine Sekte wird keineswegs alle anderen Sekten auffressen. Nach aller Erfahrung werden alle Sekten noch eine Weile bestehen bleiben. Sie werden den neuen Maoisten allerdings immer ihre Unbekümmertheit um Tatsachen neiden, ihre Rücksichtlosigkeit, die sie für Vitalität halten müssen, und ihre gezielte Herunterdummung, die ihnen als volksnah erscheinen.
Was ist schon die alte trübe DKP gegen den Leuchtenden Pfad? Vereine ihresgleichen gewinnen den glanzlosen Schimmer von Leuten, die zwar das Mittel wollen, aber nicht das Ziel. Allen diesen Sekten läge als Konsequenz nahe, so zu werden, wie M. es beschreibt, aber können sich dazu nicht entschliessen können. M. hat ja auch eine Kritik dieser Sekten, die ist sehr lesenswert, aber nicht gut; vor allem auch ein ganzen Kapitel über den Trotzkismus.
Wogegen er seine Idee aber am klarsten abgrenzt, ist das, was man auf politikanten-englisch den Movementismus nennt; diese Tendenz in den 2000en, sich in Einzel-Punkt-Bewegungen zusammenzutun, formlos, organisationslos, und ohne eine allgemein geteilte Idee, was man über diese Einzelpunkte hinaus sonst noch will. Dagegen aber die Partei! Da weiss man wenigstens, was man bekommt, nämlich den Kultus des Geliebten Führers; und nicht viel mehr, denn die Partei weiss es auch auf keine Weise besser. Woher auch? Diese Movementismuskritik ist deswegen gleichzeitig das fadenscheinigste, und das, was bei der Leserschaft am ehesten verfangen wird.
Denn es ist dieser doch nicht aus dem Kopf zu treiben, dass es ihre, der Durchblicker, Aufgabe und Bestimmung ist, Dinge miteinander zu vermitteln, die sich nicht vermitteln lassen, wenn sie sich nicht selbst vermitteln; dass die Aufgabe ihrer Klasse, der Intellektuellen, es ist, Veränderungen anzuleiten, die nicht geschehen können, wenn sie angeleitet werden müssen.
Die Maoisten würden widersprechen: sie haben ja die Massenlinie. Die Partei lernt doch von den Massen! Sie lernt ihnen nach dem Mund reden, um sie zu betrügen. Auf diesen Betrug, so alt wie Gott und der Staat, läuft auch die Linke des 20. Jahrhunderts im wesentlichen hinaus. Und der neueste Maoismus ist ihr letzter und höchster Ausdruck gewesen. Wenn man es anders will, muss man es auch anders machen.
Die Ära dessen, was M. den Movementismus nennt, ist ab 2005 zu Ende gegangen. Sie hat nicht viel mehr hinterlassen als Fragen. Da werden wir M. nicht widersprechen. Die Revolutionen des letzten Jahrzehnts sind unterdrückt worden, und zu leicht unterdrückt worden. Auch da widersprechen wir ihm nicht. Aber vor den Antworten, die er gibt, haben wir auf der Hut zu sein, und vor denen, denen diese Antworten einleuchten. Unsere eigenen Antworten, die demnächst darzulegen sein werden, müssen davon ausgehen.
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