Einen Teil I dieser Reihe gibt es streng genommen nicht. Sie setzt fort, was neulich versprochen worden war:
Ob es also irgendeine Rolle spielt, was die Linke der Linken denn so denkt oder tut. Wenn nein, kann man sich das auch ein bisschen sparen. Wenn ja, will begründet sein, wie das. Sehen wir uns den wirklichen Verlauf das nächste Mal an.
Es ist ein bisschen lose, und es geht auch noch weiter. Ich habe nicht vor, hier zu festen Ergebnissen zu kommen, die Debatte ist nicht am Ende, sie hat noch nicht angefangen.
Jörg Finkenberger
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Bei uns zuhause, in den 1990erm, war es ganz normal, dass Leute so taten, als wäre etwas eingetreten, was man „Ende der Geschichte“ nannte. Die landläufige Annahme war wirklich, dass alles das, was alle Welt das ganze 20. Jahrhundert beschäftigt hatte, jetzt vorbei wäre. Der Kapitalismus hatte keine Krisen mehr und die Geschichte keine Revolutionen. Das gehörte alles einer überwundenen Zeit an, und wer davon sprach, zeigte altes Denken. Es zeigte sich aber schon schnell, am Ende des Jahrzehnts, das das natürlich nicht stimmte; wurde aber anscheinend trotzdem geglaubt, solange es noch irgend ging, und das ist immer noch nicht ganz vorbei.
Für Leute wie uns, die das nicht glaubten oder akzeptieren konnten, war es damals auch nicht leicht, sich zu denken, wie es denn dann stattdessen weitergehen würde. Ende 1999 gab es in den Nachrichten die sogenannte Schlacht von Seattle, von der seltsamerweise niemand das Gefühl hatte, das sie der letzte Akt in einem zu Ende gespielten Stück war, sondern ein Bild aus der Zukunft. Eine flüchtige Idee, wie eine künftige Opposition aussehen müsste. Aber diese Zukunft ist in Wahrheit nicht eingetroffen. Das gesellschaftliche Bündnis, das hier eher durch Zufall zusammenprallte, hat sich nicht dauerhaft herstellen lassen, auch wenn es zu Zeiten so aussah, als drängten alle seine Bestandteile von selbst dazu: ihre Ansprüche standen sich gegenseitig zu oft im Wege, und das wird kein Zufall gewesen sein.
Und im Frühjahr 2000 begann eine globale Rezession, eine von den zyklischen Krisen, die es nicht mehr geben sollte. Vorher war man allgemein und wie gehirngewaschen davon ausgegangen, dass die sogenannte New Economy ab jetzt einen krisenlosen Kapitalismus erzeuge. Das sollte, wenn ich mich recht entsinne, daher kommen, weil ab jetzt alle Aktien immer steigen würden, und deswegen alle nur Aktien kaufen müssten, damit alle reich werden würden. Das klingt im Rückblick etwas dumm, und es gibt heute auch keiner mehr zu. Man tut dennoch so, als wäre die Rezession vom 11.September 2001 ausgegangen, so wie man die kommende Rezession auf die Corona-Pandemie schieben wird: auf äussere Ursachen, sogenannte external shocks, und nicht die Investitionsbewegung der kapitalistischen Wirtschaft selbst.
In den frühen 2000ern aber füllte die sogenannte Weltöffentlichkeit, und namentlich der linkere Teil davon, ihre Zeit umfassend mit Opposition gegen die USA. Die gesellschaftliche Mobilierung für nichts, die man 2003 wegen des Iraq-Kriegs sehen konnte, war zum Staunen. Sie beruhte auf lauter falschen Ideen, und sie brachte überall diejenigen Kräfte unter der Opposition nach vorne, die 1989 tatsächlich widerlegt worden waren. Das konnte geschehen, weil eine neue Konstellation sich nicht gefunden hatte.
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Das erste elementare Knirschen einer neuen Periode war um 2005 zu hören, und es war schon vieldeutig. In diesem Jahr demonstrieren z.B. die Hälfte der libanesischen Bevölkerung für den Abzug der syrischen Besatzung. In Syrien traten die Kurden, unter denen der Staat 2 Mio. die Staatsbürgerschaft verweigerte, in Aufstand. In Ägyten zeigte die Bevölkerung immer bemerkenswertere Hartnäckigkeit bei ihren unerhörten Forderungen, erst nach Ausübung ihres Wahlrechts, dann bis zu dem bekannten Arbeiterinnenaufstand von Mahalla al Kubra 2007, der später in die die ägyptische Revolution überleitete. Die Riots in den französischen Banlieues Ende 2005 drückten eine tiefere, grundsätzlichere Dimension aus: Forderungen, die mit wenigen Reformen nicht erledigt sein würden.
Alle diese Bewegungen wurden von verschiedenen, aber überlappenden Teilen der Gesellschaft getragen, und sie hatten verschiedene, teils überlappende, teils aber sich widersprechende Ziele. Auf die globale Linke, oder was sich seit 1999 für diese halten musste, liess sich ein Teil dieser Ziele gut abbilden; von einem ganzen anderen Teil wusste sich anscheinend noch nichts, oder hatte es in der Antikriegsbewegung von 2003 vergessen.
„Die Massen“, wie es die Maoisten immer nennen, sahen ganz andere Dinge als ihren Hauptfeind an, als die globale Linke glaubte. Und das waren keine Launen oder Moden. Keine Handvoll Jahre verging, dass sie anfingen, danach zu handeln. Und die globale Linke verstand nichts, und aus ihr folgte nichts. In Wahrheit war die globale Linke eine Mode gewesen. In Wahrheit ist sie die Linke der westlichen Metropolen mit einigen Ablegern im Rest der Welt; völlig unvorbereitet auf eine Erschütterung wie die des Revolutionsjahrs 2010/11; und viel zu verstrickt in ihr altes Bündnis mit den Diktaturen des Trikont, als dass sie in derartigem Aufruhr hätte anders handeln können, als sie hat.
Dieses Revolutionsjahr, hat man immer gehört, hat niemand kommen sehen, aber das ist Unsinn. Wer seit 2000 nur dorthin geschaut hat, wo die herrschende Mode hingeschaut hat, hat es natürlich nicht kommen sehen. Man hätte, wenn man denen geglaubt hätte, glauben sollen, dass die Hauptrichtung der kommenden Revolution gegen „den Westen“, die USA, den Zionismus gerichtet sein würde. Die Propaganda-Redner der verschiedensten Reaktionäre haben von nichts anderem gesprochen. Und nichts daran war der Fall. Im Gegenteil. Die erste grosse Bewegung war die gegen das iranische Regime von 2009.
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Man hat es kommen sehen können. Die Zeichen waren da. Es war nur eine zufällige Handvoll, die sie gelesen haben. Und unter diesen stellte sich eine Frage, für die es nicht leicht eine Antwort gab. Die verschiedenen Tendenzen der Kämpfe, die man beginnen sah, zeigten eine sehr aufgewühlte See: verschiedene Ansprüche verschiedener Gruppen, die nicht von alleine zusammenpassten, und die entweder in einem längeren Prozess zusammenfinden mussten, oder gewaltsam aufeinanderprallen würden.
Die ältere Art, mit so etwas umzugehen, sozusagen die 1999er Art, funktionierte nicht, wie sich zeigte: die blosse Addition der verschiedenen Gruppen, und zwar vermittelt über ihre institutionelle Form. Gewerkschaftsbünde, Umweltgruppen und sogenannte Neue Soziale Bewegungen einfach zu einem Bündnis zu addieren, produzierte z.B. einen äusserlichen Kompromiss; eine Linie, auf Grund derer die einzelnen Parteien miteinander gerade noch leben konnten; während es doch wahr ist, dass sie dauerhaft nur miteinander überhaupt leben konnten, und deswegen eine radikale Synthese brauchten. Und für diese hätten sie ihre institutionellen Formen abstreifen und umschmelzen müssen.
Die Radikalität aber, die für diese Umschmelzung nötig gewesen wäre, war notwendigerweise aus der institutionellen Form verbannt. Niemand täuschte sich darüber. So führte die Addition der Tendenzen nicht zu Entfaltung addierter Energie, sondern nur zu möglichst geringer gegenseitiger Hinderung, und das reicht nicht aus. Die Niederlagen der 2000er sind Zeugnis davon. In Frankreich konnte man den Prozess von hier aus gut beobachten: jede einzelne Auseinandersetzung blockierte jede andere Auseindersetzung, weil, wie wir es damals nannten, kein Teil des Proletariats mehr sich bewegen kann, wenn sich nicht das ganze Proletariat bewegt. Die Proteste der Studierenden z.B. lehnten sich an die Streiks der Lehrer und der Kulturbeschäftigten auf der einen Seite an, auf der anderen Seite traten sie in ein Bündnis mit der arbeitslosen vorstädtischen Jugend; eine Konstellation, die sich praktisch aufdrängte und dennoch nicht zustandekommen konnte. Dieses Bündnis hätte lokale Kerne einer qualititativ anderen Bewegung bilden müssen, und es war unmöglich.
Und darin drückte sich das ganze Problem eigentlich schon aus. Die Bewegung, wenn man das widersprüchliche Ding schon so nennen durfte, hatte völlig unterschiedliche Bedürfnisse, und ihre Institutionen trennten diese scharf auseinander und hielt sie in dauerndem Konflikt. Es bedurfte einer ungeheueren, gründlich durchdringenden Negativität, die in der Lage war, alles bestehende rundweg abzuweisen. Und es bedurfte gleichzeitig eines geduldigen konstruktiven Aufbaus neuer Dinge anstelle der alten. Ruhiger hartnäckiger Arbeit, für fast banal aussehende Dinge. Das Problem war, dass diese beiden Sachen nicht Platz hatten in ein und demselben Kopf. Wolfgang Harichs Wort vom „Sozialismus im Geiste der Kaufhausbrandstiftung“ ging damals viel um. Aber es ist damals niemandem gelungen, ihm einen Sinn unterzuschieben.
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Es war wieder einmal eine Zeit, „als die Situationisten noch Recht hatten.“ Eine Gesellschaft, die stillgestellt aussah und sich selbst auch für stillgestellt hielt, war von leicht sichtbaren Rissen durchzogen, die unter unseren Augen immer grösser wurden, während niemand sie zu bemerken schien. Sie liefen leicht erkennbar auf die Kette von Aufständen, Revolten und Revolutionen zu, die wir seither haben geschehen sehen. Und während es leicht zu sehen war, versuchte alle Welt, es einem auszureden.
Der Aufstand aber ist eine Notwendigkeit. Er ist eine Manifestation der Unwahrheit dieser Gesellschaft. Und es ist kein Zufall, dass in ihm wie in einem Brennglas alle diejenigen sich wiedererkennen, die von dem Bewusstsein dieser Unwahrheit körperlich geplagt werden; für diese ist es ein Trost, zu wissen, dass das Problem nicht sie sind. Und an diesem Trost erkennen sie sich gegenseitig. Der Aufstand ist ein Wetterleuchten, aber es ist nicht das Gewitter. Er löst das Problem nicht, er zeigt es. Den alten Satz des Bakunin, dass der Geist der Zerstörung ein schaffender Geist sei, hat er selbst zurückgenommen: „Unsere Aufgabe ist es“, sagt er anderswo, „zu zerstören. Andere sind es, die aufbauen werden, bessere als wir“. Aber ist wenigstens das denn wahr?
Leonard Cohen singt in „The Old Revolution“: „Of course I was very young, / and I thought that we were winning. / I can’t pretend / I still feel very much like singing / as they carry the bodies away.“ Nach der ersten Revolutionswoche in Ägypten Januar 2011 war eine gute Zeit, genau das zu denken. Und damals hatten wir noch nicht einmal begonnen zu verlieren; noch nicht einmal zu gewinnen.
Der Aufstand alleine ist noch nicht einmal ein Anfang von irgendetwas. Er ist noch nicht einmal das Ende von irgendetwas. Er ist ein verschwindend geringes Moment in einem Geschehen, das sehr viel grösser ist, man mag es wollen oder nicht. Wenn er mächtig genug wird, stürzt er ein Regime und hilft ein neues aufrichten; wenn er tief genug reicht, setzt er die Gesellschaft in den Stand, auch das neue Regime zu stürzen oder das dritte. Die ägyptische Revolution von 2011-13 schaffte drei, eines weniger als die grosse französische auch, ehe sie der Armee unterlag.
Den Pathos und die Glorie des Aufstands werden wir nicht anzweifeln. Aber was er in unserer Zeit zu beweisen hatte, ist bewiesen. Keine Herrschaft wird mehr sicher sitzen. Die Revolutionsgeschichte ist lange nicht vorüber. Alles ist noch zu tun. Die Selbsttäuschung dieser Gesellschaft wird auseinanderfliegen wie Gespenster beim Hahnenschrei, und alle ihre Einrichtungen sind nur ebensoviele Hindernisse, aus denen die Gesellschaft sich herauszuarbeiten haben wird. Aber das ist jetzt keine Neuheit mehr, sondern seit bald zehn Jahren eine Tatsache. Das Jahr 2011 ist an Deutschland vielleicht vorübergegangen, aber die Naivetät der Zeit davor wird sich nicht retten lassen: die Konterrevolutionsbewegung haben wir ja mitbekommen. Unser Situationismus hat Recht behalten, und ist dadurch überholt.
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In der Zeit seit der Flut aber stellt sich das Problem auf eine andere Weise. Die Notwendigkeit der Negation und die der aufbauenden Arbeit stehen sich nicht mehr nur verzweifelt abstrakt gegenüber. Sie beginnen sich gegenseitig vorauszusetzen. Alle kommenden Dinge erfordern einen völlig anderen Umgang mit der Gesellschaft, die uns umgibt, als die vorangegangene Epoche. Alle Gewohnheiten der Linken sträuben sich gegen diese Einsicht. Es gibt keinen Raum mehr für radikale Spezialideen, die sich von der Gesellschaft in eigene Gruppen absondern, um sich getrennt von der Gesellschaft aufzubewahren; denn dieser Raum war von einer Gesellschaft geschaffen, die Erfolg dabei hatte, solche Ideen aus sich zu verbannen. Aber jetzt entstehen überall in der Gesellschaft bereits viel seltsamere Ideen.
Die globale Linke wird entweder die Selbsttäuschung aufgeben müssen, sie sei Depositarin höherer Erkennntnis, und sich in die gesellschaftliche Bewegung auflösen und sich ihr transparent machen; oder sie wird gezwungen sein, ihre bisher nur eingebildete Avantgarde-Rolle dadurch einzulösen, dass sie sich vollends abschliesst und sich zur gesellschaftlichen Bewegung in Opposition setzt. Für beides gibt es Präzendenz. Und beide Wege werden auch ausprobiert werden.
Früher pflegten wir diese beiden Wege als zwei Flügel ein und desselben strategischen Dilemmas zu verstehen, und dieses Dilemma in den bekannten militärstrategischen Begriffen zu beschreiben: als Entscheidung zwischen einem plötzlichen, überwältigenden Angriffsfeldzug, der die Kräfte des Gegners zerstört; oder einem langandauernden erschöpfenden Zermürbungskrieg, der ihn überdehnt und zuletzt kollabieren lässt. Kann die Lage heute noch so beschrieben werden? Können wir tun, als bestehe das Dilemma noch in derselben Form? Oder müssen wir annehmen, dass es eine grundlegend andere Form genommen hat, oder am End schon immer hatte?
In Teil II: Ist der zerstörende Geist auch der Geist des Aufbaus, und: Venezuela und Griechenland
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