– seepferd
Wie es letztens jemand in einem telegram-Kanal während einer Diskussion über Belarus anmerkte: Bei einem autoritären Regime geht es nicht wirklich um einen „bösen Diktator“; sondern darum, dass Menschen jegliche Verantwortung von sich weisen.
Es börnt also in diesem UdSSR-Nostalgiepark mit Wiesenten, die Wut entlädt sich. Wir versuchten vor einiger Zeit die Lage am Vorabend zu erklären. Und zwar auf eine Art und Weise, auf die viele gehofft haben und mit der niemand wirklich gerechnet hat. Brutale Polizeigewalt auf den Straßen im ganzen Land wird mit brennenden Barrikaden, Molotovs und Feuerwerken beantwortet; Menschen durchbrechen Straßenabsperrungen mit PKWs und gehen Sicherheitskräften mit Lasertags Honkong-Style auf den Sack. In Minsk werden U-Bahn-Stationen geschlossen, Stadtwerke montieren tagsüber Parkbände, Mülleimer und Sonstiges ab, was man so alles zum Barrikadenbau verwenden könnte. Am 10.8. wurde von einem Gefängnisaufstand in Schodino berichtet, wohin man Verhaftete aus Minsk abtransportiert. Die Bullerei benutzt Krankenwägen, um hinter die Barrikaden zu gelangen. Die erfolgreichste Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja (oder mal alternativ als Tsikhanouskaya geschrieben) ist offensichtlich vom belarussischen Geheimdienst außer Lande gebracht worden, von wo sie die Protestierenden auffordert, friedlich zu bleiben und nach Hause zu gehen.
Schauen wir mal, was die GenossInnen vom belarussischen Mediankollektiv „Pramen“ so schreiben:
„Die Instabilität Lukaschenkos in den letzten 10 Jahren hat gezeigt, dass sich die russischen Behörden nicht wirklich auf ihn verlassen können. Die Zuwendung zum Westen 2015, schürte das Feuer der Zwietracht zwischen Moskau und Minsk weiter. Anfang 2020 befand sich Lukaschenko in einer sehr schwierigen Lage. Der Abschluss neuer Öl- und Gasverträge ist viel schwieriger geworden. Die belarussischen Behörden wollten zumindest minimale Zugeständnisse, aber Russland war erst bereit, diese Zugeständnisse zu machen, wenn das Projekt des gemeinsamen Staates mit einer gemeinsamen Währung und anderen Punkten für die Aufnahme von Belarus durch Russland beginnen würde. Politische Schwierigkeiten mit Russland führen traditionell zu wirtschaftlichen Problemen im Land. Während der letzten 5 Jahre versuchte Lukaschenko, diese Abhängigkeit durch die Zusammenarbeit mit dem Westen zu kompensieren, aber westliche Zuschüsse und Kredite können die belarussische Wirtschaft nicht allein am Laufen halten. Anfang 2020 begann der belarussische Rubel gegenüber anderen Währungen stark zu fallen. In den letzten 20 Jahren haben es die Belaruss:innen geschafft, mehrere Wellen eines solchen Falls zu überstehen, die größte davon im Jahr 2011. Der Fall des belarussischen Rubels bedeutet für viele Belaruss:innen auch eine reale Minimierung ihres Einkommens. Darüber hinaus entstanden Probleme mit der Zahlung von Gehältern in staatlichen Unternehmen“.
(https://abcdd.org/2020/08/11/wie-kam-es-zur-rebellion-gegen-die-diktatur-in-belarus/)
Wir viel Lukaschenko zuzutrauen ist, wie weit er noch gehen will – oder wie weit der Geheimdienst und das Innenministerium mit ihm noch gehen wollen, – bleibt noch offen. Die erbitterte Repression verheißt zum Einen gerade nichts Gutes; zum Anderen haben wir das Bild der verhunzten Polizeireform in der post-Maidan-Ukraine vor Augen. Repressionsapparate pflegen ihr eigenes Süppchen zu kochen und zwar egal, unter welchem „demokratischen“ Regime. Aktuell sind die Sicherheitskräfte überfordert und es ist nicht klar, wie lange sie noch so weitermachen wollen. Das was sie bis jetzt verbrockt haben, wird man ihnen nicht verzeihen. Mittlerweile werden sie im Land wie eine fremde Besatzungsmacht empfunden.
Wie beobachten hier aktuell eine sehr interessante Entwicklung: die Klassenzusammensetzung des Protests hat sich erweitert, das spiegelt sich sowohl in der territorialen Ausbreitung als auch in der Gegengewalt der Proteste. Vor allem aber: Betriebsbelegschaften fangen an, eine Art politischen Streik zu organisieren, noch zaghaft, wie man hört, aber das Beispiel ist ansteckend. Dem belarussischen Staat gehören etwa 40% der Betriebe im Land und das nutzen die Leute, um ihre politischen Forderungen direkt an den Staat zu richten. Wir hörten bereits von Betriebsversammlungen und Arbeitsniederlegungen in den Minsker Traktorenwerken, in der Minsker Margarinenfabrik, der Schabinker Zuckerfabrik, den Minsker Elektrotechnikwerken, den Schlobiner Metallurgiewerken, den Stickstoffwerken „Azot“ in Grodno, im Institut für Chemie neuer Materiale. Die Fahrer des 4. Minsker Trolley-Fahrparks, deren Kollege neulich von der Polizei schwer verletzt wurde, weigern sich, die Arbeit aufzunehemen. Die Betriebe der BelAZ-Werke und des Belenergosetproekt schwanken noch. (Charter97 gibt einen Überblick hier: https://charter97.org/en/news/2020/8/11/389084/)
Es ist nicht viel, der Sache kann immer noch das Genick gebrochen werden. Selbst der ominöse Sender „Sputnik“ berichtete über Polizeipräsenz vor den BMZ-Werken in Schlobin und dass seine Quellen sich danach nicht mehr gemeldet hätten. (https://sputnik.by/incidents/20200810/1045398719/Na-BMZ-nachalas-zabastovka.html) Kann an der Repression, kann allerdings auch am teilweise abgeschalteten Internet liegen. Wie Väterchen Lukaschenko neulich sagte, es waren ja ausländische Mächte, die im Land für Internetunterbrechnungen sorgen würden. Man kennst‘s: kaum will man sich bei einem Gläschen Kartoffelschnapps entspannen, kotzen einem fremde Mächte sofort das Hemd voll. Jedes mal so, wie sie das immer so schnell hinbekommen – völlig unverständlich…
Wie auch immer, twitter und telegram sind voll mit riotporn. Wer danach suchen will, ist herzlich willkommen: https://twitter.com/PrayForBelarus
https://www.facebook.com/prayforbelarus/
https://t.me/prayforbelarus
t.me/tutby_official
t.me/mkbelarus
https://www.facebook.com/BYhelpBY/ Es geht allerdings auch um Hilfemöglichkeiten, mögen euch irgendwelche Online-Translators weiterhelfen. Für Belarus beten sollte man nun wirklich nicht, wie kommt man überhaupt auf solchen Blödsinn?!
Falls jemand symbolisch unterstützend tätig werden möchte, Vertretungen der Republik Belarus in Deutschland gibt es anscheinend in Berlin, München, Würzburg, Leipzig, Cottbus und Hamburg. Siehe hier:
Stay safe & stay tuned.
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