Neuer Krieg im Berg-Karabach – Berufung auf Recht, Ruf nach Verbündeten

(Man schreibt uns und den Gastbeitrag veröffentlichen wir an dieser Stelle. – das GT)

Alexander Amethystow

Zwischen Armenien und Aserbaidschan herrscht Krieg. Am 27. September verhängte Armenien, Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) das Kriegsrecht und rief zur Mobilmachung auf. Als Grund dafür werden Angriffe des benachbarten Aserbaidschan auf die formell unabhängige, aber de facto zu Armenien gehörende Republik Bergkarabach (Arzach) genannt. Der Nachbar leugnete seinerseits die Offensive nicht und verweist darauf, dass es sich beim attackierten Bergkarabach völkerrechtlich gesehen um sein eigenes Territorium handelt, weshalb es sich eigentlich um eine Befreiung von einer fremden Besatzungsmacht handle. Das völkerrechtliche Argument aufgreifend meldete sich auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu Wort und wünscht Aserbaidschan viel Erfolg und wenig Störung von außen.

Der Militäretat des erdölreichen aserbaidschanischen Staates übersteigt das gesamte Staatsbudget von Armenien beim weitem. Armenien ist zwar über die OVKS nicht nur mit Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan, sondern auch mit der Atommacht Russland verbündet. Aber formell führt Aserbaidschan seinen Krieg nur gegen die von niemandem, nicht mal von Armenien selbst anerkannte Republik Bergkarabach — für die OVKS liegt also kein Bündnisfall vor.

Die mit zahlenmäßiger und technischer Übermacht konfrontierte Regierung in Jerewan ergreift die letzten Strohhalme, indem sie darauf verweist, dass a) Armeniern ein neuer Genozid drohe (Appel an die Weltöffentlichkeit), b) in Wirklichkeit auf der Gegenseite türkische Truppen oder zumindest islamistische Söldner aus Syrien kämpfen (Appel an russische Interesse am Erhalt des eigenen Machtbereiches in der Region) und schließlich (c) darauf, dass man eine „junge Demokratie“ sei, während in Aserbaidschan eine korrupte Dynastie diktatorisch regiert (Appel an die westlichen Mächte, die sich als Betreuer der Demokratie weltweit aufführen).

Doch zugleich ist Aserbaidschan ein wichtiger Handelspartner sowohl Russlands als auch aller westlichen Mächten – unter anderem ist es der größte Wirtschaftspartner der Bundesrepublik in Transkaukasien. Die Weltmächte kommen ihrer Pflicht nach, indem sie von beiden Konfliktparteien Feuereinstellung verlangen, was allerdings zunächst keinerlei Wirkung hat. Die Türkei und Afghanistan stellen sich offiziell auf die Seite Aserbaidschans und betonen dabei den eindeutigen völkerrechtlichen Status der besetzten Gebiete.

Niemand bestreitet ernsthaft, dass der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew die Ölreserven des Landes faktisch zum Eigentum seiner Familie machte, womit die politische wie wirtschaftliche Konkurrenz in der Republik ihre Ende nahm. Auch dass die Türkei sich ganz ohne Rücksicht auf ihre NATO-Partner in einen laufenden Konflikt einmischt ist kein Geheimnis.

Recht der Völker vs. Völkerrecht

Beim Zerfall der UdSSR beriefen sich sowohl Armenier wie auch Aserbaidschaner auf das von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) propagierte „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ , die Prinzipien der Sowjetunion gegen die sowjetische Realität wendend. Dabei kam es zu einer Situation, bei der dasselbe Gebiet von zwei Nationalismen gleichzeitig mit dem selben Rechtstitel beansprucht wurde.

In Moskau, Jerewan und Baku betonte man gleichzeitig die Wichtigkeit des Rechtes der Nationen. Offen blieb, was das real bedeutet, wenn in Bergkarabach Gruppen beider konkurrierender Nationen leben und beide auf ihre nationale Souveränität pochen.

Als Argumente dienten archäologische Funde, mittelalterliche Chroniken und Ornamente auf alten Ruinen – daran sollte festgemacht werden, wer sich zuerst wo angesiedelt hat und nun über die anderen mit der eigenen Staatsgewalt regieren darf. Wenig überraschend konnten sich Historiker, Archäologen und Linguisten der beiden Seiten nicht einigen. Zwei gleiche, aber einander ausschließende Rechtsansprüche standen im Raum – dazwischen konnte nur Gewalt entscheiden, die nicht auf sich warten ließ.

Aserbaidschan reklamierte für sich noch ein weiteres Recht – andere Staaten erkannten es in den alten sowjetischen Grenzen an, inklusive dem umstrittenen Karabach. Auch nachdem Armenien den Krieg gewann, ein Viertel des aserbaidschanischen Staatgebietes besetzte und Aserbaidschaner vertrieb sowie zahlreiche armenische Flüchtlinge dort ansiedelte, also vollendete Tatsachen schuf, ist die Leitlinie der aserbaidschanischen Politik, dass das Territorium eigentlich Aserbaidschan gehört. Die Parole ist: Auf diesen Boden gehören Leute mit anderem Blut, als die, die dort tatsächlich wohnen. Die ganzen vergangenen Jahre bereitete der aserbaidschanische Staat den aktuellen Wiedereroberungsfeldzug vor.

Die reale Grausamkeit der beiden Rechtskonzeptionen – Völkerrecht und Recht der Völker – zeigt sich im Karabachkonflikt in ihrer ganzen Pracht. Seit Ende der 1980er-Jahre fielen ca. 20.000 Menschen dem Konflikt zum Opfer, Hunderttausende wurden zur Flüchtlingen. Die Forderung nach der „historischen Gerechtigkeit“ bedeutet blutige Korrekturen der bestehenden Grenzen und der Bevölkerungszusammensetzung.

Neues Armenien – Probleme mit den alten Verbündeten

Seit der gegenwärtige armenische Regierungschef Nikol Paschinjan 2018 die zwanzigjährige Herrschaft der mit Russland eng verbündeten „Republikanischen Partei“ (RPA) beendete (1), steht Armenien unter besonders aufmerksamer Beobachtung ihres bisher wichtigsten Partner im Region. Die neue Regierung beteuert zwar, weiterhin zum Bündnis mit Moskau zu stehen, die Kampagne gegen die Korruption der bisherigen Regierung traf aber wichtige politische und wirtschaftliche Partner Russlands im Land.

Die gesamte ehemalige Führung der RPA wurde von den Ermittlungen erfasst, erst die Straf- und dann auch die Verfassungsrichter wurden aus ihren bisherigen Positionen gedrängt, um die Verurteilungen in den Prozessen zu ermöglichen. Paschinjans Regierung kam mit der Vorstellung an die Macht, das nationale Glück wäre von einer verdorbenen und verantwortungslosen politischen Klasse vereitelt worden. Die hohen Arbeitlosen- und Armutsqoten sollten vor allem durch konsequentes Auswechseln und Einsperren des Führungspersonals bekämpft werden. Dadurch solle das Land attraktiv für ausländisches Kapital werden.

Dieser Ansatz ändert aber nichts an der Mittelosigkeit und Ohnmacht des armenischen Staates, der Russland um politische Preise für Strom und Rohstoffe bitten muss. Die als „Reform“ deklarierte Antikorruptionskampagne kommt zudem bei Moskau nicht gut an. Als der ehemalige Präsident Armeniens und Bergkarabachs Robert Kotscharjan vor Gericht gestellt wurde, erreichten die Beziehungen zu Russland den bisherigen Tiefpunkt. Russische Medien beschuldigten Armenien „antirussische NGOs“ zu beherbergen und Anlehnung an die EU zu suchen. Im August 2020 schränkte Armenien die Ausstrahlung von russischen Fernsehkanälen ein.

Die Peinlichkeit nun Russland offiziell um militärischen Beistand zu bitten, spart sich Paschinjan. Von den anderen OVKS-Staaten ist ohnehin nicht zu erwarten, dass sie sich mit Aserbaidschan und perspektivisch mit der Türkei auch nur diplomatisch anlegen. Armeniens Hoffnung bleibt einfach, dass die Angst vor Erdogans Machtzuwachs im Westen oder bei Russland doch noch überwiegt.

Fußnote:

1) Siehe Gai Dao 2018, Nr. 91.

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