Zu dem Teil III dieser Reihe sind noch ein paar kleinere Überlegungen angebracht, bevor wir uns der Nachrichtenlage wieder zuwenden.
A. Grad jetzt ist der erste Band von Barack Obamas Memoiren erschienen. Sie behandeln die Zeit bis kurz vor der Wiederwahl 2012. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das zu lesen. Man schwankt dazwischen, einzelne Dinge, von denen er erzählt, fast unwirklich fern zu finden, wie aus einer anderen untergegangnen Welt; andere aber, aus demselben Zeitraum, wirken wie eine direkte Ankündigung dessen, was danach kam. In manchen Reflexionen des Präsidenten überkreuzen sich diese beiden Welten, am interessantesten in denen über die sogenannte Tea-Party-Bewegung von 2010, S. 410.
There had been a time – back when I was still a state senator driving around southern Illinois or, later, traveling through rural Iowa during the earliest days of the presidential campaign – when I could reach such voters. I wasn’t yet well known enough to be the target of caricature, which meant that whatever preconceptions people may have had about a Black guy from Chicago with a foreign name could be dispelled by a simple conversation, a small gesture of kindness. After sitting down with folks in a diner or hearing their complaints at a county fair, I might not get their vote or even agreement on most issues. But we would at least make a connection, and we’d come away from such encounters understanding that we had hopes, struggles, and values in common.
I wondered if any of that was still possible, now that I lived locked behind gates and guardsmen, my image filtered through Fox News and other media outlets whose entire business model depended on making their audience angry and fearful. I wanted to believe that the ability to connect was still there. My wife wasn’t so sure. One night toward the end of our road trip, after we’d tucked the girls in, Michelle caught a glimpse of a Tea Party rally on TV – with its enraged flag-waving and inflammatory slogans. She seized the remote and turned off the set, her expression hovering somewhere between rage and resignation. “It’s a trip, isn’t it?” she said. “What is?” “That they’re scared of you. Scared of us.” She shook her head and headed for bed.
Er versteht offenbar die gesellschaftliche Dynamik nicht, die solche Bewegungen hervorbringt; aber das ist kein Wunder. Sie ist auch ziemlich verrückt. Zwei Jahre vorher hatte er die Wahl gewonnen mit der Botschaft, die Gräben zwischen den politischen Lagern zu überwinden und die zerklüftete Gesellschaft zu heilen; und zwar auf einer breiten Welle von Enthusiasmus und von Frustration, aber die Gräben und Klüfte scheinen seit seiner Wahl immer nur tiefer und irrationaler geworden zu sein.
Die Leute vom Linken Flügel der Demokraten verweisen gerne auf die Umfragen, die zeigen, dass breite Mehrheiten diejenigen Ideen unterstützen, die auch der linke Flügel der Demokraten vertritt. Aber anscheinend setzt sich diese lagerübergreifende Zustimmung nicht in Wahlergebnisse um. Noch weniger lässt sich damit das fest eingegrabene Parteiensystem umgehen. Im Gegenteil scheint es sich immer neu zu befestigen, während gleichzeitig nichts im Land verhasster ist als ebendieses Parteiensystem und der disfunktionale Kongress.
Es ist interessant, dass es gesellschaftliche Bewegungen gibt, die völlig quer zu dieser Logik stehen; so die Streikbewegungen des Jahrs 2017. Die waren natürlich wesentlich unspektakulärer als die neueren Massenbewegungen, für die die radikale Linke sich lieber interessiert, aber sie sind vielleicht instruktiver und werden auf Dauer grössere Folgen haben.
Es wird etwas weniger unbegreiflich, wie so etwas zustandekommt, wenn man sich einmal die wechselseitigen grievances anschaut, wie sie von den loyalen Parteigängern beider Seiten auf Twitter ausgetragen werden. Die Debatten werden da ja nicht beherrscht von den Positionen in der Sache. Es gibt faktisch keine zwei Meinungen über den Zustand des Gesundheitssystems oder über die Folgen der Krise.
Sondern die am meisten heisslaufenden Dispute drehen sich um das Handeln des jeweiligen politischen Personals. Die Frage ist dann nicht mehr z.B., wie hoch der Mindestlohn sein soll, sondern welche Politiker alles Schurken sind. Die Frage ist nicht nach der Regulierung der Banken, sondern ob die unzureichende Bankgesetzgebung unter Obama beweist, dass entweder die Demokraten von der Wall Street gekauft sind, oder die Republikaner. Es ist vielleicht in dieser Irrationalität eine gewisse Folgerichtigkeit: die einzelnen Bürger werden im Wahlakt ja nur danach gefragt, wem die politische Autorität übertragen werden soll. So reduziert wie die Entscheidung, die ihnen gegeben wird, ist auch die Debatte. Sie ist so irrational wie die Rivalität unter Fans verfeindeter Fussballmannschaften.
Was also hier in der Krise ist, ist die parlamentarische Regierungsform, die politische Normalform der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Die durch Wahl delegierte Autorität scheint von selbst solche Potentiale freizusetzen. Cottrell und Cockshott, die wir neulich hier besprochen haben, haben darin Recht: das parlamentarische System ist von sich aus oligarchisch, nicht demokratisch. Eine Gesellschaft, die von solchem Wahnsinn frei sein wollte, müsste eine ganz andere Form finden.
B. Über die Rolle des evangelikalen Christentums in der Politik hat Kristin Kobes du Mez ein interessantes Buch vorgelegt, „Jesus and John Wayne. How White Evangelicals Corrupted a Faith and Fractured a Nation“. Sie beantwortet die erstaunte Frage, die man öfter gehört hat: warum haben die Evangelikalen in der Mehrheit Trump trotz allem, was man über ihn weiss, unterstützt? Und sie beantwortet sie sehr dicht argumentiert so: sie haben ihn nicht trotz, sondern wegem dem, was man über ihn weiss, gewählt; gerade der skrupellose Machismus, den er verkörpert, ist das, was sie als Garantie der Familie und der Moral ansehen. Das ganze ist interessanterweise aus einer christlichen Perspektive argumentiert, und sorgt in amerikanischen christlichen Kreisen anscheinend für erhebliches Aufsehen. Vielleicht muss man darauf noch einmal besonders zurückkommen.
C. Es scheint eine unausgesprochene Einigkeit darüber zu bestehen, dass irgendetwas in den westlichen Gesellschaften zerbrochen ist. Seltsamerweise manifestiert sich das jetzt auf viel deutlichere Weise als vor 4 Jahren. Der Wahlsieg von Biden, von dem niemand viel erwartet, hilft anscheinend auch unseren liberalen Freunden darüber nicht hinweg. Die Debatten in den radikaleren Kreisen aber wirken hohl und wirklichkeitsfern. Es wäre jetzt ein guter Moment, um in Ruhe neu anzusetzen.
D. Was passiert eigentlich mit dem Teil der Gesellschaft, der an Trumps Lügen glaubt? Wir haben seit 2015 einen, seit 2010 eigentlich zwei Zyklen von Lügen, Verschwörungstheorien und den politischen Bewegungen, die sie ausbeuten, entstehen und ablaufen sehen. Das ganze fängt z.B. hierzulande ja nicht mit der Fluchtwelle 2015 an, sondern mit der griechischen Krise. Die AfD wurde auch daraufhin gegründet. Die Vorstellungswelt der frühen AfD, oder der Tea Party, stammen aus dem ganz alltäglichen Bewusstsein der Vorkrisenzeit und waren damals Mainstream; es sind die Vorstellungen der neoklassischen Ökonomie, und es waren ja nicht zufällig Wirtschaftsprofessoren, die die AfD gegründet haben. Je mehr sich die Wirklichkeit der Rezessionspolitik von diesen Vorstellungen entfernt hatte, desto mehr entfernten sich diese Vorstellungen von dem, was man die politische Mitte nennt, oder, wie man es auch sagt, radikalisierten sich; aber sie verlieren dabei etwas dem, was sie plausibel erscheinen liess und tendieren dazu, sich abzuschliessen. 2014 war das ganze in der Sackgasse angelangt, dass diese Leute konsterniert zu dem Schluss kamen, die Regierung lege es geradezu darauf an, den Interessen der deutschen Wirtschaft zu schaden; und diese schon an sich abstruse Idee begann, sich in eine nur den Eingeweihten verständliche Sprache zu kleiden, in Argumentation, die Aussenstehenden zunehmend unbegreiflich wurde.
2015 wurde das selbe Milieu durch die Fluchtwelle noch einmal elektrisiert; die einmal gewonnene Idee, die Regierung sei aus irgendeinem Grund aktiv staatsfeindlich, liess sich nocheinmal plausibel machen; aber zu den Zeitpunkten, wo solche Mobilisierung ihr Maximum erreicht, beginnt auch ihre Argumentation sich wieder ins immer schwerer mitteilbare zu verwirren. Die eigene Logik des Verschwörungsdenkens leidet offenbar an dem Nachteil, dass mit einem bestimmten Mass an Komplexität ihre Ausdehnungsdynamik nachlässt. Und die Komplexität scheint mit einer gewissen Notwendigkeit zu steigen. Denn wenn man sich die Szenen, in denen Verschwörungsideen vorherrschen, ansieht, findet man in der Regel keine zwei Leute, die exakt der gleichen Ansicht sind; es ist gerade das nebelhafte an der Sache, was es überhaupt ermöglicht, dass völlig gegensätzliche Ideen in ein und dieselbe Erzählung eingewoben werden können. Die Verschwörungsgläubigen tun ja grundsätzlich nichts anderes, als was die Gesellschaft auch tut: einen gemeinsamen Boden oder Rahmen finden für Leute, die nichts miteinander gemeinsam haben. Was also den Erfolg und die Ausbreitungsgeschwindigkeit solcher Wellen ausmacht, ist das gleiche, was später die verwirrende Kompliziertheit, die Aussenstehende abschreckende Detailversessenheit, die blasenhafte Isolation vom Alltagsverstand ausmacht.
Was dem abhelfen kann, ist eine anerkannte Autorität im Zentrum des ganzen, an dem sich das ganze Gewimmel ausrichtet. Wo die herkommt, ist recht zufällig. Gaulands Machtstellung in der Afd beruht nicht darauf, dass er wirklich Einfluss und Ansehen unter diesen Leuten hätte, sondern dass er als Parteigründer schon immer im Vorstand war und sich hütete, es mit irgendeinem dieser Leute zu verscherzen; die Dynamik selbst machte ihn zum notwendigen Schiedsrichter zwischen Fraktionen, die nach innen miteinander zerfallener sind, als man das vielleicht glauben würde. Jede Fraktion hält ihn für den mächtigsten, weil sie weiss, dass alle anderen ihn für den mächtigsten halten.
Zerfällt eine solche Bewegung, wenn der beabsichtigte Durchbruch ausbleibt, und wenn ja, wie? Was bleibt von der Massenneurose übrig, lässt sie sich wieder reaktivieren? Oder führt sie zu einer dauerhaften Spaltung der Rechten? Wir wissen es nicht, weil soweit ich weiss noch nie vorher eine solche Bewegung friedlich und durch Wahlen die Macht verloren hat. D.h. wir erfahren im Januar möglicherweise etwas historisch neues.
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