Die amerikanische Verfassungskrise V

Noch ein Nachtrag. Ein bedeutender Beitrag zur Erhellung der Situation findet sich in einer vor 2 Jahren erschienenen sozialwissenschaftlichen Untersuchung des bremer Soziologen Nils Kumkar: „The Tea Party, Occupy Wall Street, and the Great Recession“, Springer/Palgrave Macmillan 2018.

The presidential election of 2008 can serve as a kind of natural experi-
ment on the interests of different classes in the economic crisis. (42)

A look at the different employers of the donors to the different presi-
dential campaigns does indicate a similar split between the two petty bour-
geoisies… (45)

(i) First, it appears that the so-called middle class is split
into two camps. As will become clear in the next chapter, this split in
important regards already prefigures the political polarization that gave
rise to the TP and OWS. (ii) Second… the factions of capital are similarly
split: Obama’s campaign in 2008 was associated with interests in education
and high-tech industries, and… a move away from fossil-fuel-intensive
industries. McCain on the other hand was supported by oil and gas industries
and favored by companies active in construction. This indicates a confrontation
between industries that fits the expectations one would have from the diagnosis
of a Green New Deal being one possible solution to the crisis: The profiteers
of a shift in the productive cores toward a ‘green economy’ are donating
to Obama’s campaign, while the possible losers of such a development
donate to McCain’s campaign. The confrontation between the different
industries as it is documented in the different donor profiles of the politi-
cal parties only grew fiercer in the years that followed, contributing to
the rising political polarization which in turn contributed to the political
gridlock that hindered substantial reform. (46)

Die gesellschaftlichen Bewegungen der letzten zehn, zwölf Jahre können also verstanden werden von den Interessen verschiedener Zweige des Kapitals aus; die Träger dieser Bewegungen sind aus den middle classes, die von den einen oder anderen Zweigen das Kapitals abhängig sind. Zu den middle classes gehören, wird man annehmen, auch allerhand Lohnabhängige. (Man weiss, wie die Arbeiter von West Virginia, die vom Kohlebergbau abhängen, stimmen. Sie stimmen für die Kandidaten, die von ihren Chefs finanziert werden. Sie stimmen nicht mehr wie vor 15 Jahren für die Kandidaten, die z.B. ein Verbot von Methoden wie dem mountaintop removal fordern: also eine drastische Einschränkung der Maschinisierung. Sie stimmen für den Erhalt der ganz wenigen Arbeitsplätze, die noch übrig sind.)

Die Arbeit untersucht dann eine Reihe von Interviews mit Teilnehmern beider Bewegungen, und zwar vor dem recht frischen Hintergrund der unmittelbaren Krisenfolgen nach 2008. Hinsichtlich der Tea Party, die man sich ruhig als einen Vorläufer der Trump-Kampagne vorstellen darf, entfaltet sich so ziemlich die ganze Breite ihrer Ideologeme aus diesen Interviews.

S. 112 ff. gelingt ihm über alle Erwartung gut, die exzentrischsten und schrillsten Vorstellungen dieser Bewegung auf einen inneren Kern zurückzuführen. Die für Aussenstehende fast undurchdringlichen Begriffe, die man in ihr von der Welt hat; man meint ja dort z.B. mit „der Verfassung“ durchaus etwas anderes, als was der Rest der Welt unter der amerikanischen Verfassung versteht. Im Denken der Tea Party steht „die Verfassung“ in einem engen Zusammenhang mit der regelmässig gehörten Metapher, ander drängten sich in der Schlange, in der man wartet, vor; mit diesen anderen ist die Wählerschaft Obamas gemeint.

Man liest so etwas regelmässig, aber man versteht den Zusammenhang nicht; in den von Kumkar mitgeteilten Interviews wird es, mit Hilfe einer sorgfältigen Interpretation, zum ersten Mal klar: der Zusammenbruch des Bodenmarkts 2008 hat diese Vorstellungen zusammengebracht, die interviewten Tea Party-Leute sprechen das im Grunde wörtlich aus. Und dieser Zusammenbruch wird denjenigen „working-class homeowner“n angelastet, die nicht in der Lage waren, ihre Raten zu bedienen; und zwar den Schwarzen, von denen man annimmt, sie hätten Hypothekenkredite überhaupt nie bekommen dürfen, aber die Antidiskriminierungsgesetzgebung habe die Banken dazu gezwungen, S. 132.

It is therefore no surprise that it is in this form that the foreclosure
crisis appears in all three group discussions: as the critique of an unjust
political response to it, in which irresponsibility gets rewarded and
industriousness gets punished. (121)

The ‘undeserving poor’ are the symmetrical inversion of
the TP activists’ self-perception. Where the latter had suffered without
profiting, the former profit without suffering (121 f)

Faktisch ist das alles nicht wahr, die erwähnte Gesetzgebung galt für den privaten Sektor nicht, und das ist gar kein Geheimnis; man glaubt es, weil man es glauben will, und hier muss man sich wohl besinnen auf das, was oben zitiert wurde: es reagiert nicht die ganze Gesellschaft so, sondern nur ein eingrenzbarer Teil. Aber dieser mit Vehemenz und Furie.

That Obama figures so prominently in the TP activists’ explicit commu-
nication about their reasons to protest has to be understood by analyzing
what he symbolizes for the TP… (123)

It is this double ambivalence (on the vertical axis of the governing and
the governed and on the horizontal axis of the inside and the outside)
which makes the discourse that developed in the TP around the person of
Barack Obama so enormously rich and arcane. (124)

The conspiracy that is postulated as unifying all
these attacks against the ordered world one bases one’s claims on material
and social recognition is, symbolized in the person of Barack Obama, the
alliance of the unworthy elite above with the undeserving poor below. (128)

S. 129 ff. findet man verblüffende Aufschlüsse darüber, was diese Leute eigentlich wollen:

Thus, the discussants in one group discussion, asked for the best world
they could imagine, presented accounts of a world that is pretty much exactly
the world they are living in. In an awkward contrast to the apocalyptic sce-
narios they just gave of the current state of US society, changes seem really
peripheral, such as the wish for more “wholesome TV shows”… (132)

And finally the conspiracy logic that can be seen as processing the tragic
tension between the overwhelming feeling that the world is disintegrat-
ing, on the one hand, and the insistence on nothing having to change
fundamentally, on the other hand, also helps to explain the escalating
nature of the political practice of the TP… (133)

Kumkar kommt aus der Regulationsschule, wo man zu Recht davon ausgeht, dass die kapitalistische Produktionsweise sich nicht aus einem ihr inneren Prinzip heraus entwickelt, sondern in einem Umfeld, dass durch gesellschaftliche Konflikte und Institutionen geschaffen wird. Die Regulationstheoretiker und verwandte Schulen sind, soweit ich mich erinnere, seit den 1970ern daran, zu untersuchen, wie die nächste Epoche des Kapitalismus aussehen wird; das heisst, wie man sich eine stabile Form, ein sogenanntes Akkumulationsregime vorstellen darf.

Er interpretiert deshalb die derzeitigen Vorgänge als eine Auseinandersetzung, aus der die Grundzüge eines solchen Modelles sich ergeben, „a Green New Deal being one possible solution to the crisis“. Aber dasselbe hat die Regulationsschule über alle Auseinandersetzungen seit den 1970ern gesagt, und die Umrisse eines „postfordistischen Akkumulationsregimes“, einer neuen stabilen Phase des Kapitalismus sind nicht erschienen.

Vielleicht geht das auch gar nicht auf diese Weise. Auf welche Art genau nach 1929 „the political gridlock that hindered substantial reform“ zu einem neuen Akkumulationsregime geführt hat, wissen wir. Ich sehe bisher nicht, wie ein Green New Deal die kapitalistische Krise lösen könnte. Ich sehe nicht, wie die berühmten neuen Technologien etwas anderes bewirken, als noch mehr Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess freizusetzen und die Stagnation immer noch ein kleines Stück länger durchhaltbar zu machen.

Ein selbstfahrendes Auto ist immer noch ein Auto, nur braucht man keine Lkw-Fahrer mehr. Der ganze Produktionsprozess ist der gleiche, nur minus soundsoviele Arbeitsplätze. Der Übergang ist nicht entfernt vergleichbar mit den gewaltigen Konjunkturen, die die Einführung des Automobilismus begleitet haben. Ist es bei irgendeiner der anderen anstehenden Veränderungen anders?

the so-called middle class is split
into two camps. … the factions of capital are similarly
split

Und die Arbeiterklasse betätigt sich als „Schwanz irgendwelcher Bourgeoisparteien“ (MEW 17, 416). Und da fragt man sich, warum das Wort „Schwanz“ auf Twitter trendet. So klärt sich auch dieses auf!

Ganz ähnliche Sachen wie die Tea Party-Bewegung finden ja auch hier statt. Was würde man herausfinden, wenn man die auf ähnliche Weise untersuchen würde?

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