von ndejra
Helmut Thielen war ein Soziologe und Agrarwissenschaftler, der an der Universität Porto Alegre in Brasilien gelehrt und sich für die Weiterführung der Kritischen Theorie gemäß der Horkheimerschen Maxime: „Das einzige Mittel, der Natur beizustehen, ist die Entfesselung ihres scheinbaren Gegenteils: der kritischen Vernunft“, stark gemacht hat. Für den letzteren Zweck hat er das ICIBOLA (Institut für Bildung, Publikation und Forschung im Interesse einer lateinamerikanischen, bolivarianischen Bürgergesellschaft) mitbegründet. Zufällig erfahre ich, dass er August 2020 gestorben ist, und bei keinem der Verlage, wo er veröffentlicht hat, findet man nur ein einziges Wort dazu. Was soll‘s, ich kenne drei-vier Bücher von ihm, die waren mal für mich wichtig, dann mach ich das halt. „Befreiung. Perspektiven jenseits der Moderne“ (1994) und „Die Wüste lebt. Jenseits von Staat und Kapital“ (2001) waren immerhin mein – durchaus verhunzter, muss ich sagen – Zugang zur Kritischen Theorie, die ich vor etwa Dutzend Jahren wenn nicht gegen Adorno, dann gegen die Adorniten zu halten meinte. (Würde ich heute zwar nicht mehr so machen, aber einen rationalen Kern hatte der Angriff damals).
Für „IdeologiekritikerInnen“ war Thielen wohl zu anarchistisch, für AnarchistInnen wohl zu marxologisch und theorielastig, dazu noch mit der 3. Welt-Perspektive und den seltsamen Anleihen aus der Befreiungstheologie. Und last but not least – er war noch an einem für linke Intellektuelle typischen Leiden erkrankt: an der sogenannten Israelkritik, die sich in einen emanzipatorischen Jargon kleidet. Unwahrscheinlich, dass er deswegen seit 2007 nichts mehr auf Deutsch veröffentlicht hat. Denn so gut kann man die linke „Gegenöffentlichkeit“ in der BRD kennen, um zu wissen, dass weder tendenziell anarchistische oder tendenziell marxistische Verlage, noch Zusammenschlüsse wie etwa die Nürnberger Literaturmesse oder dergleichen am linken Antizionismus stören würden.
Thielen wollte partout nicht wissen, was den Antisemitismus von links ausmacht. Was kann schon schief gehen, wenn man Finkielkraut, Zuckermann und Avneri eins zu eins nachplappert? Man gebe doch nur die berechtigte Staats- bzw. Militärkritik weiter, allerdings ist der kritische Theoretiker und Friedensfreund dabei fest entschlossen, die Tatsache zu übersehen, dass die besagten Herrschaften es mit den Fakten nicht so ernst nehmen und meistens nur Stuss von sich geben (im Falle Uri Avneri gaben, möge Allah mit ihm zufrieden sein). Der Stuss ist der deutschen Friedensbewegung bzw. „-Forschung“ sehr willkommen, also unterschreibt Thielen als einziger weder in Deutschland noch in Österreich ansässiger Politologe 2006 das „Manifest der 25“ mit, einen offenen Brief der Gelehrten, welche „die deutsche Verantwortung gegenüber Palästina“ proklamieren und das Ende der der „besonderen“ Beziehungen zu Israel fordern. Auch hier: wer dem israelischen Regierungspersonal die Hände schüttelt und mit der anderen Hand Handelsabkommen mit dem iranischen Regime unterzeichnet hat es wohl nie mit irgendeiner „besonderen“ Freundschaft erst gemeint, denn das würde immerhin ein reziprokes Verhältnis implizieren, sondern hat nur seine „besondere“ Rolle in der Welt vor Augen. Die Rolle, unter anderem und vielleicht als „Vergangenheitsbewältigungsweltmeister“ doch insbesondere Israel über seine Sicherheitspolitik belehren zu dürfen. Das hätten die gelehrten Damen und Herren wissen können, wollten sie offensichtlich nicht.
Wie auch immer, mir geht es jetzt um was anderes und das sollte für sich sprechen:
Die reine Gesellschaftskritik hat dem Versuch, sie mit systemtranszendierenden Experimenten einer kulturrevolutionären Praxis zu verbinden, als Praxis der Utopie, nichts voraus. Kritik ist zwar ein vermittelter, aber doch ein Bestandteil des Lebens, nicht gänzlich von ihm verschieden und daher auch nicht völlig abzutrennen von ihm. Adornos Diktum, es gäbe kein richtiges Leben im falschen ist daher auf die Kritik und ihren Anspruch, das Ganze seiner Unwahrheit zu überführen, zurückzuführen. Das neue Problem, das damit auftaucht, war ihm wohl bewusst. Im letzten der Aphorismen Minima Moralia… stellt er die beiden problematischen Möglichkeiten fest, dass entweder die Kritik zu nahe an ihrem Gegenstande dran ist, weil sie sachhaltig sein will, sich aber damit der Gefahr aussetzt, nicht mehr Kritik, sondern Affirmation zu sein, und andererseits, um Kritik zu bleiben, sich so weit von der Realität entfernt, dass sie abstrakt und leer wird. Es gibt also, so scheint es, keine richtige theoretische Kritik am falschen Leben. Die transzendente bleibt abstrakt, sie konkrete blind und wird daher konformistisch.
Aber die Verabsolutisierung der Kritik ist das Einfallstor, durch das die antagonistische Gesellschaft sie verohnmächtigt. Sie ist, einmal verinnerlicht, ein Agent der Gesellschaft zur Kontrolle des praktischen Impulses zur Änderung in den kritischen Subjekten. Sie ersetzt das praktische Ausloten, Erkunden, Erproben von Elementen des richtigen Lebens durch eine rein theoretische Entscheidung. In dieser Form schließt Kritik des Nicht-Identische aus. Zur Möglichkeit von Praxis kann sie keine Aussagen machen. Sie trägt dazu bei, experimentelle Praxis zu blockieren.
Praxistheorie, die gleichsam andere Seite der theoretischen Kritik, anerkennt den Vorrang der praktischen Experimente vor der Analyse, die ohne solche Experimente keinen Gegenstand hätte. Sie geht der Frage nach den praktischen Möglichkeiten des Nicht-Identischen in seiner Konkretheit nach, das in der Theorie ein Residualbegriff ohne konkreten Inhalt bleibt. Praxistheorie ist: zweifach solidarisch, als Kritik der unvermeidliches negativen Momente jeder Praxis und als Affirmation der positiven.
Zurück zum Problem der reinen Kritik. Die theoretische Entscheidung, nicht Praxis machen zu können und zu wollen, ohne deren Möglichkeiten mit anderen in immer neuen Anläufen detektivisch aufzusuchen, ist selber auch eine praktische. Denn sie bestätigt mit dieser Entscheidung das, was ist – es sei denn, sie bliebe eine vorläufige Entscheidung, sie sich jederzeit ihrer Falsifikation durch Praxis aussetzt und sich ständig dafür offen hält durch Vermittlung mit der Praxistheorie.
In der rein theoretischen Entscheidung gegen jede Praxis fallen die kritische Denunziation der falschen Verhältnisse und deren Affirmation durch die Behauptung zusammen, von keiner Praxis mehr veränderbar zu sein, ohne die Mühsal dieser Praxis auf sich zu nehmen oder offen zu lassen. Auf diese Weise geht die Erfahrung verloren, dass niemals Theorie allein oder vor allem über die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Praxis entscheidet, sondern, ganz im Gegenteil, zuerst diese Praxis selber. Der Erfahrung der Praxis eignet das Privileg, dass ihr das Nicht-Identische zugänglich ist. Diese Erfahrung kann von keiner theoretischen Kritik eingeholt werden, solange die Theorie bloß immer wieder von außen her feststellt, im negativen Ganzen von Herrschaft und Unterdrückung seinen Praxis und Praxistheorie nicht möglich, und sich damit von sich aus gegenüber der praktischen „Frage“ nach anderen Möglichkeiten verschließt.
Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus. Kritische Theorie selber hat ein praktisches apriori, ohne das sie ihr Wesen als Kritik verlieren und in das bloße Protokollieren und Analysieren des Bestehenden übergehen müsste, verbunden mit moralischen Anklagen und Beschwörungen oder mit Resignation. Das apriori der theoretischen Kritik ist die Erfahrung des mannigfaltigsten Leides in der Wirklichkeit und des spontanen Impulses, das Ganze des Unterdrückungszusammenhanges der gegebenen Herrschaftsverhältnisse abzuschaffen. Dieses praktische apriori der theoretischen Kritik kann sie nicht abschaffen wollen, aber sie muss, um ihrer Identität als Kritik willen mit ihm vermittelt bleiben. Kritik ist also um ihrer selbst willen mit den beiden Polen der Praxis, dem passiven und dem aktiven, in diesem apriori vermittelt.
Gerade in geschichtlichen Augenblicken, in denen theoretisch Praxis als unmöglich erscheint, kann sich Kritik gegen ihre affirmative Transformation nur durch ein als-ob behaupten. Sie muss sich so entfalten, als könnte sich schon im nächsten Augenblick eine Chance der Befreiung einstellen, von der Theorie nichts ahnte, sie zumindest von ihr nicht ausreichend vorhergesehen werden konnte. Kritik ist nur mit sich identisch, wenn sie zweifach vermittelt bleibt mit Praxis: mit dem Leid und mit dem Impuls zur Abschaffung seiner Ursachen. (…) Ohne den Willen zur Praxis, der freilich Praxis nicht ersetzen kann als praktische Verneinung des Leidens, gibt es auch keine Kritische Theorie als dessen theoretische Verneinung.
(Warum die Blue Jeans schwarz geworden ist. Nachrufe auf den Zeitgeist der „Postmoderne“, Berlin 1998)