Vorbemerkungen zu einer Selbstkritik des „Surrealismus im Dienste der Revolution“
Es ist gelegentlich die Rede von den Situationisten und ihrem Beitrag dazu, das revolutionäre Erbe der Avantgardekunst zu retten. Aber es wird fast nie darüber nachgedacht, worin dieses Erbe denn bestehen soll, noch nicht mal, ob die Avantgardekunst denn ausreichend tot ist, um sie beerben zu wollen. Am Ende könnte es sein, dass die Ideen über die Avantgardekunst genauso unüberlegt sind wie die über die Revolution. Man soll sie ja einander aber nicht einfach äusserlich gegenüber stellen. In was für einem Verhältnis stehen sie zueinander?
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Fragen wir erst einmal André Breton, den Gründer des Surrealismus. „Meine Sympathie ist in der Tat viel zu vollständig bei denen, die die soziale Revolution machen werden, als dass diese Schwierigkeiten sie auch nur zeitweilig beeinträchtigen könnte“ (Andre Breton, Zweites Manifest des Surrealismus). Das schrieb er interessanterweise, als der versuchte, der kommunistischen Partei beizutreten, und dabei auf Schwierigkeiten stiess. Diese Schwierigkeiten hatten ihre Ursache noch nicht in den Differenzen über den Stalinismus, die später zu seinem Austritt führten; sondern in völlig verschiednen Ansichten über das Verhältnis der künstlerischen Avantgarde zur Revolution.
„Ich glaube nicht an die momentane Möglichkeit einer Kunst oder Literatur, die die Ansprüche der arbeitenden Klasse ausdrückt. Wenn ich mich weigere, an eine solche Möglichkeit zu glauben, dann deshalb, weil in der Zeit vor der Revolution die Künstler oder Schriftsteller, die notwendigerweise von der Bürgerklasse hervorgebracht werden, unfähig sind, diese Ansprüche zu übersetzen,“ ibd.
Die kommunistische Partei hatte solche Bedenken nicht; sie verlangte von den Künstlern sogenannten sozialistischen Realismus, und behandelte den als legitimen Ausdruck proletarischer Kunst. Man muss vielleicht heute nicht mehr lange darüber argumentieren; die Künstler, auch die sozialistisch-realistischen, die die kommunistische Partei Frankreichs um sich sammelte, sind in der Tat schon definitionsgemäss keine Arbeiter, sondern kommen aus den privilegierten Klassen. Sonst hätten sie nicht die Zeit, Künstler zu sein; so geisttötend einfältig diese Wahrheit auch ist. Der Realismus ist eine Tendenz innerhalb der bürgerlichen Kunst; und zwar eine, die ohne Schwierigkeit mit einer politischen Tendenz beladen werden kann, weil sie annspruchslose und leicht fassliche Arbeiten ermöglicht; die also zu der Rolle passt, die die kommunistische Partei sich für die Arbeiter gedacht hatte, als passive Konsumenten der Dinge, die die Parteiintellektuellen für sie dachten.
Sie ist natürlich keine Kunst, die die arbeitende Klasse selbst hervorbringt; und sie ist auch kein Schritt auf dem Weg zu einer solchen Kunst, sie betrügt die arbeitende Klasse nur ein weiteres Mal um die ersten Voraussetzungen einer solchen Kunst. Breton hatte andere Absichten: er wollte, beteuert er, der arbeitenden Klassen die Mittel der künstlerischen Avantgarde in die Hand geben. Aber hat er Wort gehalten?
„Ich kann nichts erkennen, was irgendein Wort vom Lautreamont entwerten würde im Hinblick auf das, was den Geist betrifft. Im Vergleich, jeder Versuch, gesellschaftliche Erscheinungen anders als mit Marx zu erklären, ist gerade so irrig, wie jede Anstrengung, eine sogenannte „proletarische“ Kunst und Literatur aufzustellen in einem Zeitalter, wo niemand rechtmässig eine Verwandtschaft zur proletarischen Kultur beanspruchen kann, aus dem hervorragenden Grund, dass diese Kultur noch nicht existiert,“ ibd.
Niemand, richtig. Aber warum denn die Avantgarde der modernen Kunst? Woraus kann denn diese ihren eigenen revolutionären Anspruch begründen? Breton sagt: daraus, dass sie selbst an der Befreiung arbeitet, an der Auflösung der alten Welt, an der Verwirklichung unerhörter Ansprüche; an der Anerkennung der verdrängten, unterirdischen Seite der wirklichen Menschen; an der Niederreissung aller derjenigen Trennungen, auf denen die Herrschaft des Menschen über den Menschen beruht.
„Von unsrer Position aus behaupten wir, dass die Tätigkeit der Interpretation der Welt immer mit der der Veränderung der Welt verbunden sein muss. Wir behaupten, dass es die Aufgabe des Dichters, des Künstlers ist, das menschliche Problem in der Tiefe und in allen seinen Formen zu untersuchen; dass es gerade das unbeschränkte Fortschreiten seines Geistes in diese Richtung ist, die die Möglichkeit der Veränderung bietet… Nicht durch stereotype Erklärungen gegen Faschismus und Krieg werden wir die uralten Ketten des menschlichen Geists brechen, und die neuen Ketten, die ihm drohen; sondern durch die Betätigung unserer Treue zu denjenigen Mächten, die den menschlichen Geist befreien. … „Die Welt verändern“, sagt Marx; „das Leben ändern“, sagt Rimbaud. Diese zwei Worte sind eins für uns.“ (Rede auf dem Schriftstellerkongress 1935)
Also vorerst auf einem rein philosophischen Titel; wer aber garantiert, dass die Tendenz der Befreiung, wie sie die Avantgardekunst versteht, zusammenfällt mit den Ansprüchen der wirklichen Unterdrückten? Niemand, sagt eigentlich Breton, ausser die wirkliche Teilnahme an ihrem Kampf; nichts als die wirkliche Arbeit an der Veränderung. Die Kunst kann ein Mittel zu dieser Veränderung sein, eine Waffe in der Hand der Unterdrückten, statt ein Kulturgut in den Händen der privilegierten. Ja, vielleicht ist das so, aber ist der Surrealismus ein Schritt dahin?
Fragen wir unter seinen Nachfolgern die, die am klarsten auf der Seite der Revolution geblieben sind. „In der Epoche ihrer Auflösung ist die Kunst als negative Bewegung… eine Kunst der Veränderung und zugleich der reine Ausdruck der unmöglichen Veränderung. Je grandioser ihre Forderung ist, um so mehr liegt ihre wahre Verwirklichung jenseits ihrer. Diese Kunst ist gezwungenermaßen Avantgarde und diese Kunst existiert nicht. Ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden.“ (Debord, Gesellschaft des Spektakels, These 190). Dass die Kunst als ein eigener, von der Praxis der Gesellschaft getrennter Bereich erscheint, liegt darin, dass die Praxis der Gesellschaft selbst nicht freie schöpferische Tätigkeit ist, sondern unter Zwang geschieht. Alright, das verstehen wir.
„Der Dadaismus und der Surrealismus sind die beiden Strömungen, die das Ende der modernen Kunst kennzeichneten. Sie sind, wenn auch nur auf eine relativ bewußte Weise, Zeitgenossen des letzten großen Sturmangriffs der revolutionären proletarischen Bewegung; und das Scheitern dieser Bewegung, das sie gerade im künstlerischen Feldb… eingeschlossen hielt, ist der Hauptgrund für ihre Immobilisierung. Der Dadaismus und der Surrealismus sind zugleich geschichtlich miteinander verknüpft und stehen im Gegensatz zueinander. In diesem Gegensatz, der für jede der beiden Strömungen auch den konsequentesten und radikalsten Teil ihres Beitrags bildet, erscheint die innere Unzulänglichkeit ihrer Kritik, die von der einen wie von der anderen nur einseitig entwickelt wurde. Der Dadaismus wollte die Kunst aufheben, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie aufzuheben. Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst sind“ (ibd 191).
Auch das klingt plausibel. Die Kunst ist ein Produkt einer gesellschaftlichen Verdrängung, nämlich aller freien schöpferischen Tätigkeit aus der Gesellschaft in einen gesonderten Bereich. Die Kunst wird natürlich durch diese Verdrängung entstellt sein. Aber wie soll das vonstatten gehen? Wohin soll die Kunst aufgehoben werden, worin soll sie verwirklicht werden? Die Situationisten geben uns darüber noch weniger Aufschluss als diejenige moderne Kunst der Avantgarde, die auch nach dem Surrealismus weiter Kunst treiben, als wäre nichts.
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Denn offenbar kann man das. Nehmen wir Joyce. Aber diese Kunst zeigt eine bestimmbare Tendenz: der Gegenstand dieser Untersuchung ist das alltägliche Leben. Und das ist auch die einzige nähere Erklärung, zu der die Situationisten sich bereit finden: die Überwindung der Kunst steht im Dienst der Revolution des alltäglichen Lebens.
Wir müssen im folgenden so tun, als könne man insoweit die moderne Kunst einerseits, die Avantgarde-Bewegungen seit Dada, und die Situationisten als etwas zusammenhängendes ansprechen, und füreinander haftbar machen. Man mag dagegen einwenden, was man will. Wir haben ja bisher schon so getan, als wären Dada, der Surrealismus und der Situationismus im Grunde ein und dasselbe, ohne dass es jemanden gestört zu haben scheint. Wir wissen ohnehin niemanden ausser uns, der diesen Tendenzen noch hinreichend verbunden wäre, dass er die Vollmacht hätte, für sie zu sprechen.
Sehen wir uns rein als Beispiel einen Aspekt dieser modernen Kunst einmal an, für den sie seltsamerweise nicht angeschaut werden will. Sagen wir, wie suchen ein Drama um 1900, vielleicht zum Aufführen, und blättern durch Strindbergs oder auch Kokoschkas Werke. Man wird erstaunlich oft finden, dass sie für unsere Zwecke unbrauchbar sind, und zwar wegen eines rasenden, fanatischen Frauenhasses, der den Arbeiten nicht auszutreiben sein wird, weil er in der Tat oft den inneren Kern der Handlung abgibt, der das Stück zusammenhält. Was für einen Reim macht man sich darauf?
Man kann auf die interessante Ausrede verfallen, mit den Surrealisten, mit der modernen Avantgarde habe das nichts zu tun; das waren auch „andere Zeiten“, ganze zwanzig Jahre vorher; aber was ist mit ihrer Anbetung des de Sade, oder sogar Lautreamonts? Liegt bei diesen der Fall anders? Oder mit Bretons berühmtem Roman „Nadia“. Die Titelperson kommt da nur als ein rätselhaftes Objekt vor, es wird kein Versuch gemacht, herauszubekommen, warum sie so handelt, wie sie handelt. Und Dali, der doch vom Surrealismus her kommt: sein ungeheurer Erfolg verdankt sich gerade seinem offen zur Schau getragenen Frauenhass. Orwell hat das in seinem Aufsatz über ihn fast erkannt und auf interessante Weise diese Einsicht gerade noch zu verfehlen geschafft.
Oh aber man verstehe mich nicht falsch, natürlich hat Breton oft und nachdrücklich die Unterdrückung der Frauen angeklagt, und ihre Befreiung gefordert! Aber getrennt von seinem Werk, diesem äusserlich, und auf gerade die Weise, wie die Dichter der Volksfront ihr revolutionären Proklamationen äusserlich neben ihre nicht revolutionäre Kunst gestellt haben. Wir erinnern uns: „stereotype Erklärungen…“
Es ist für mich garnicht die Frage, ob Breton das verziehen werden kann. Es geht nicht um ein moralisches Urteil, oder um billige Absolution. Es geht um ein Versagen, das die befreiende Kraft dieser radikalen Kunst in Frage stellt. Es ist nicht eine Frage der äusserlichen Solidarität, sondern der inneren Wahrheit dieser Kunst. Für die Sache der allgemeinen Befreiung ist ein Surrealismus, der Männerphantasien produziert und äusserlich Solidarität mit den Frauen daranleimt, gerade so hilfreich wie ein Realismus mit aussen darangeleimter Sympathie fürs Proletariat.
Oder sehen wir Henry Miller an! Orwell nimmt ihn zu Recht als hervorragendes Beispiel für die Tendenz der modernen Kunst zum alltäglichen Leben. Ihm ist nichts menschliches fremd, ausser alles, was die Frauen in seinen Geschichten denken, wollen und fühlen. Es sind vollkommen rätselhafte Wesen, die zu verstehen er sich nicht bemüht; etwas anderes als sie zu betrügen fällt ihm nicht ein. Es ist jedenfalls ehrlich, es ist nicht gelogen; es hat, man muss Orwell Recht geben, durchaus einen Wert.
Und die Milleriten, die nach ihm kamen: Ginsberg, oder Burroughs; es geht hier ja keineswegs nur um Prosakunst, sondern diese Schule gehört fest zu denjenigen Veränderungen des alltäglichen Lebens, die man heute die „sexuelle Revolution“ nennt. Davon ist diese Avantgarde die Avantgarde gewesen. Wir haben heute zum Glück eine ausgezeichnete Arbeit über diese ganze Bewegung, Sheila Jeffreys „Anticlimax“. Und das Problem an dem Verlauf und dem Inhalt dieser „sexuellen Revolution“ steht in einer interessanten Verbindung zu dem Problem der Avantgarde.
„Diejenigen, die behaupten, dass The Naked Lunch in der Tat ein Kunstwerk ist, und nicht bloss eine Darstellung von Burroughs‘ sadomasochistischen Phantasien, haben sich einen sehr anspruchsvollen sozialen Zweck seiner obsessiven Neigung zum Erhängen ausgedacht. Er besteht darin, ‚den Lesern die Verbindung zwischen sexuellem Begehren und dem Drang zu töten oder zu quälen deutlich zu machen, um Grausamkeit zu unterbinden durch Selbsterkenntnis…‘ … Wenn dieses Genie die Welt verändern wollte, was war sein Ziel? Offensichtlich wollte er die Verbindung von Sex und Liebe durchtrennen. Liebe, behauptete er, ist ‚ein Betrug, begangen vom weiblichen Geschlecht‘ … Burroughs überlegte auch eine Lösung für das Problem, dass die Frauen seinem grossen Plan Widerstand leisten würden. Frauen würden ausgeschaltet werden müssen. Burroughs erläutert das Problem der Existenz von Frauen wie folgt:… ‚Frauen sind ein vollkommener Fluch.‘ Ich denke, sie sind der grundsätzliche Fehler, und das ganze dualistische Universum entwickelte sich aus diesem grundlegenden Fehler.“ (Jeffreys, Anticlimax, S. 54 f.)
Ich würde nur an einem Punkt widersprechen; natürlich gehört Burroughs in die Tradition der modernen Kunst. Ebenso gehört er in die Tradition dessen, was das zwanzigste Jahrhundert sich unter der „sexuellen Befreiung“ vorstellte. Um so schlimmer für beide!
Die Counter-Culture, die man für subversiv zu halten gewohnt waren, dient heute als Steinbruch für einen Haufen Bewegungen, die zum Einzugsbereich des heutigen Faschismus gehören; diese fühlen sich anscheinend sehr wohl in dieser Vorstellungswelt. Diejenigen, die wollen, dass es bleibt, wie es vorgestern war, okkupieren den Gestus der Rebellion; sind sie nicht dabei, die Techniken der Subversion selbst in Beschlag zu nehmen? Oder wie die Situationisten es nannten: zu rekuperieren… „Rekuperiert wird nur, wer sich rekuperieren lässt.“ In der Tat! Warum also lässt es sich rekuperieren?
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Oder wollen wir den erprobten Sophismus ausprobieren: wenn die Counter Culture rekuperiert werden kann, ist sie einfach nicht radikal genug gewesen… Nein. Man kann sich nicht herausreden. Oder vielleicht andersherum: die künstlerische Avatngarde ist überhaupt nie revolutionär gewesen… Aber sie ist doch wirklich aufs tiefste mit der Revolutionsgeschichte verflochten. Keine Ausflüchte mehr.
Das Problem liegt woanders, und es kommt darauf an, zu begreifen. Die moderne Kunst, das heisst die Kunst hat im Zeitalter der Revolution wirklich diejenige eigene Tendenz, sich in die Revolution des alltäglichen Lebens fortzusetzen. Die Situationisten haben es richtig beschrieben. Aber aus Gründen, die sie nur andeuten, bleibt sie dabei stecken. Sie verliert an irgendeinem Punkt anscheinend ihre verändernde Kraft; wenn man nur sagen könnte, an welchem!
Das muss als ein katastrophales Problem der Kunst begriffen werden. Der Übergang zur Revolution, das ist ihr eigenes Gesetz, das ist ihre Nötigung, der sie sich nicht entziehen kann. Huelsenbeck, Tzara, Breton hatten völlig Recht damit. Wenn sie es nicht tut, wird sie Müll. Sie kann nicht Kunst bleiben, ohne gleichzeitig zu beginnen, ihr eigenes abgesondertes Dasein als Kunst durchzustreichen, ihre Spezialisierung und Abtrennung. Es ist eine Frage von Leben und Tod für ihre eigene Wahrheit. Ihre eigene Tendenz zur Befreiung des Ausdrucks verurteilt sie dazu, entweder an der Verallgemeinerung der Mittel des Ausdrucks zu arbeiten, oder in Schande unterzugehen.
Aber aus der Notwendigkeit einer Tat ist noch nie die Tat selber schon gekommen. Die Avantgarden alle sind ja, man muss es sagen, gescheitert, alle ihre grössten Werke sind imposante Ruinen dieses Scheiterns. James Joyce’s Finnegan’s Wake, eine gigantische Arbeit, aber die Kunst verläuft weiter bloss als Kunst, man bestaunt es, und es hat kaum einen Nachfolger gefunden; ausser, und das ist noch schlimmer, dass niemand Ezra Pound gehindert hat, denselben Stil für seine Judenhetze nachzuäffen, und man wird raten dürfen, wo das heute seine Resonanz findet. Darüber wird nicht gern gesprochen unter den Freunden der modernen Kunst.
Die moderne Kunst ist gefangen; sie ist unfähig, ihr Programm zu verwirklichen. Sie kann es aus eigenen Kräften gar nicht. Es wird nur gelingen durch einen viel gründlicheren Anschlag auf ihren Kerker, als selbst die Dadaisten sich zu träumen gewagt hätten.
Die Situationisten haben diese Lage zwar beschrieben, aber haben sie sie zu lösen vermocht? Sie haben ja immerhin, um 1968 herum, einen Versuch gemacht, den Boden der blossen Kunst zu verlassen, und ihre Mittel an der Gesellschaft selbst ausprobiert; und man kann nicht einmal sagen ohne Erfolg. Sie haben ihren Angriff geführt, wie die Avantgarde der Dadaisten seinerzeit: kräftig, aber rein negativ. Aber als der erste Aufstand gekommen war, 1968, fanden sie, dass sie handlungsunfähig geworden waren. „Unsere Ideen sind bereits in allen Köpfen, es handelt sich nur darum wann sie herauskommen“, ja, aber als das geschehen war, gerät die Avantgarde in Auflösung; in genau den Wochen, in der sich die Niederlage der Bewegung entschieden hat, war sie unfähig, der Bewegung noch etwas mitzuteilen.
Gerade was der Vorteil der organisierten Avantgarde sein sollte, ihre streng aufrechterhaltene Handlungsfähigkeit, löst sich genau dann auf, wenn es auf sie ankommt. Die Grundlage, auf der das alles aufgebaut war, ist von Anfang an die falsche gewesen.
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Machen wir jetzt einen anscheinend weiten Sprung zu einem völlig anderen Aspekt dessen, was man gewöhnlich subversiv nennt. In jeder linken Bewegung, die eine gewisse Anziehung nach aussen entfaltet, sammelt sich alsbald eine bestimmte Sort junger Männer, die wir sehr gut kennen, und die eine ganze Reihe Gemeinsamkeiten entfalten, durch die sie sich einem bestimmten Typus zuordnen lassen, den zornigen jungen Männern.
Es sind dies junge Leute, die einen Platz für sich in der Welt suchen, den sie, im Bewusstsein ihrer Fähigkeiten, natürlich recht hoch veranschlagen. In kuriosem Gegensatz steht dazu anscheinend ihre Strategie, diesen zu erreichen.
Sie zeichnen sich durch die besondere Unbedingtheit aus in jeder Sache, auf die sie sich werfen; durch eine Bereitschaft zu einer oft unnötigen Radikalität, die merkwürdig oft so aussieht, als wäre sie wichtiger als die Sache selbst, die dahinter nicht selten ganz verschwindet und die für sie in Wahrheit nur ein rein äusserliches Interesse hat.
In ihren Kreisen herrscht eine regelrechte Sucht nach den krassesten und abseitigsten Meinungen, die sie um die Wette vertreten; mit Vorliebe solche, die von anderen unmöglich oder zumindest sehr schwer akzeptiert werden können. Das ist kein Nachteil dieser Meinungen, sondern gerade ihr Vorteil, denn sie wären nicht zufrieden, auch wenn man sie mit vollster Zustimmung empfangen würde.
Es geht ihnen gar nicht um die Zustimmung, es geht ihnen um die Anstrengung, die sie anderen bereiten, wenn diese versuchen sollten, ihnen entgegenzukommen. Es geht ihnen nicht um den Inhalt von Zugeständnissen, sondern um die Anerkennung ihrer eigenen, radikal empfundenen Subjektivität.
Ihre Ansichten werden oft mit besonders radikaler und abstrakter Verneinung verwechselt, während sie in Wahrheit vor allem eine halb bewusste Strategie ist, sich selbst ihrer Mitwelt aufzuzwingen. Eine andere Sache als sich selbst haben sie nicht. Das erscheint ihnen nicht als Mangel. Denn es ist ihre eigene Existenz alleine, die ihnen als ungeheuer radikal erscheint, so dass für sie keine Anstrengung als zu gross veranschlagt werden kann. Es ist gar keine Verstellung im Spiel; sie wissen es einfach wirklich nicht besser.
Sie glauben fest an ihre eigene radikale Freiheit, weil sie auf das Trugbild ihrer Ungebundenheit hereinfallen. Sie bemerken nicht, dass diese nur als Illusion oder als Privileg möglich ist; sie nehmen sie vielmehr als das Mass dessen, was sie anstreben. So streben sie nach einer Stellung in der Welt, die nur als eine Usurpation möglich ist.
In allen diesen radikalen Welten halten sich zeitweise auch Frauen auf; aber innerlich sind die jungen Männer voll Unverständnis und Zorn über diese, weil sie das Gefühl haben, dass diese immer mit einem Bein in der „alten Welt“ stehen bleiben, sich niemals so rückhaltlos auf diese „radikale Existenz“ einlassen; sie träumen vielleicht davon; aber sie wissen insgeheim, dass es leicht reden ist für die, die im Notfall sich um Konsequenzen einfach herumstehlen werden.
Menschen in der Revolte, in der Tat, aber wogegen? Gegen die gesellschaftlichen Formen, ja, meinetwegen. Aber haben diese nicht mehrere Gesichter, je nachdem, wem sie sich zuwenden? Die monogame Ehe z.B. ist ein Vertrag, das heisst sie bindet zwei sehr verschieden unglückliche Parteien, und es gibt zwangsläufig zwei sehr verschiedne Möglichkeiten einer Kritik der Mongamie! Es gibt durchaus eine männliche und eine weibliche Kritik der Familie. Welche von beiden wird wohl lauter gehört werden, in der Gesellschaft, und in der Avantgardekunst, wenn wir schon bei dem Thema sind?
Es ist nicht leicht zuzugeben, aber das Leben der jungen Frauen enthält alles, was auch im Leben der jungen Männer vorkommt; aber nicht umgekehrt. Der Führungsanspruch der zornigen jungen Männer ist Usurpation, aber überall erhalten sie die Führung, zumindest zum Schein, wirklich zugestanden.
Das ausweglose ihrer Lage ist aber dieses, dass ihr Zorn für eine verbrauchte Sache eintritt. Die zornigen jungen Männer sind selbst eine verbrauchte Kraft, auch wenn sie immer frisch nachzuwachsen scheinen. Diejenige Radikalität, die sie selbst hervorbringen können, ist leere Negation. Die Avantgarde der modernen Kunst gleicht diesen zornigen jungen Männern.
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Der Unentschiedenheit, ob die Kunst eher aufzuheben oder eher zu verwirklichen ist, entspricht in der Revolution die Unentschiedenheit, ob die Arbeit in der Negation des bestehenden oder in dem Aufbau neuer Formen liegt. Und auch hier ist beides nicht ohne einander zu haben, und auch hier ist dieser Zwiespalt von der bestehenden Position aus nicht zu überbrücken.
Das Problem der Revolte, das Camus beschreibt, hat im Grunde diese Ursache. Camus hat formale Kriterien gegeben, aber keine materialen. Wäre es jetzt nicht genauer zu sagen? Er untersucht die Revolutionsgeschichte nach der Keimanlage des Terrors, und nicht überraschend findet er sie auch, aber er fasst sie anscheinend nicht gründlich; so dass nur eine im Grunde äusserliche Moral, oder Mässigung als Heilmittel in Frage kommen. Äusserlich heisst, der Revolutionsgeschichte äusserlich; Camus‘ Ideen sind also hilflos, weil sie in der Revolutionsgeschichte, und im Objektiven eine Stütze nicht haben. Auch Orwell hat ja doch nicht ganz durchschaut, was es mit der Ambivalenz der modernen Kunst auf sich hat. Wie wenn etwas ihn daran hindert, aus seiner ganzen Kritik des Dali usw. die sich aufdrängende Folge zu ziehen.
Der Gegensatz ist aber ein scheinbarer, er besteht überhaupt nur von der Position der künstlichen Verantwortungslosigkeit aus, sozusagen von der Position der zornigen jungen Männer aus. Er nimmt sogleich eine ganz andere Form an, wenn das Problem in die Hände solcher gerät, die nicht für ein Privileg zu kämpfen haben.
Die Frage, wie radikale Kunst zu treiben wäre, löst sich auf vor der Frage, von wem radikale Kunst getrieben werden kann. Das Schicksal des Hugo Ball ist vielleicht lehrreich. Er war unter den Dadaisten einer der ersten, und einer der Männer der radikalsten Verneinung, aber was hatte er davon? Was wusste er mit der schwindelnden Höhe der Verneinung anzufangen, zu der er sich verstiegen hatte? Er musste erkennen, dass er lediglich einen Abgrund aufgerissen hatte, der bereits da war; und dass die Negativität, die er als einzige Waffe führen konnte, die des objektiven Prozesses selbst gewesen war. Er suchte dann seine Zuflucht im Positiven, in seinem Fall im Katholizismus, aber ich bezweifle, dass er sie gefunden hat.
Eine Verneinung aber ist nur so abstrakt und ausweglos wie diejenige Subjektivität, das sie äussert; und sie teilt deren Schicksal. Diese Auswegslosigkeit ist aber nicht unabänderlich, sondern Schein. Die Verneinung führt nicht von sich aus schon eine getrennte radikale Existenz selbst, die sich in der Verneinung gewissermassen erschöpft. Das ist niemals der Fall, wenn man es sich nicht eigens einbildet. Aber diese Einbildung, wir haben es angedeutet, hat eine gesellschaftliche Grundlage.
Wird die Grundlage, oder präziöser ausgedrückt die Subjektivität, der Verneinung anders bestimmt, nämlich geeignet und sinnvoll bestimmt, dann sollte der Gegensatz verschwinden. Wie muss man sich das denken? Es müsste sich dann zeigen, dass eine Praxis der Kunst möglich ist, die gerade darin besteht, das getrennte Dasein der Kunst aufzuheben. Von diesem Punkt aus, wenn er gefunden werden kann, wäre die richtige Grundlage zu bestimmen.
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Der Drehpunkt an der Kritik der bestehenden Gesellschaft, sagen die Situationisten, ist die Kritik des alltäglichen Lebens. Die Gesellschaft macht ihre Geschichte so, als ob diese weit entfertn von ihr auf den grossen Höhen stattfände. Und weil die Gesellschaft so tut, also ist es auch beinahe so. Das wirkliche, tägliche Leben ist unwichtig; wichtig sind dagegen die unsinnigen Illusionen, zu denen sie aufblicken. Diese Illusionen sind einzelne spezialisierte Funktionen: „die Politik“, „die Wirtschaft“, in denen sie glaubt, als einziges ihre eigene Geschichte erblicken zu können; aber sie sind von ihrem wirklichen Leben getrennt.
„Woher aber, wird man fragen, kommt es, dass die Wichtigkeit dieses alltäglichen Lebens, das meines Erachtens das einzige wirkliche Leben ist, so vollständig und unmittelbar … herabgesetzt wird… ? Das rührt meiner Meinung nach daher, dass das alltägliche Leben innerhalb der Grenzen einer skandalösen Armut organisiert wird, und hauptsächlich, weil diese Armut des alltäglichen Lebens nichts zufälliges an sich hat: sie wird ihm stets durch den Zwang und die Gewalt einer Klassengesellschaft aufgezwungen – es handelt sich also um eine den Notwendigkeiten der Geschichte der Ausbeutung gemäß historisch organisierte Armut“ (Debord, Perspektiven einer bewussten Änderung des alltäglichen Lebens, Vortrag 1961).
Die Abtrennung des alltäglichen Lebens als eines Bereichs, dem man keine Wichtigkeit beimisst, ist seine wirkliche Unterwerfung. Aber diese Abtrennung wird von den Formen, in denen die Menschen denken und leben, selbst produziert. „Wir müssen also annehmen, dass die von den Leuten über die Frage ihres eigenen alltäglichen Lebens ausgeübte Zensur dadurch zu erklären ist, dass sie sich seines unerträglichen Elends bewusst sind und gleichzeitig vielleicht uneingestandenermaßen, aber unvermeidlich irgendwann empfinden müssen, dass alle echten Möglichkeiten und alle Bedürfnisse, die durch das Funktionieren des sozialen Lebens zunichte gemacht werden sind, dort und keineswegs in den spezialisierten Tätigkeiten… enthalten waren“, ibd.
Was hier verdrängt wird, und zwar ins sogenannte Privatleben, ist gerade das, was die wirkliche Gesellschaftlichkeit zustandebringt; was als „Öffentlichkeit“ zurückbleibt, ist nur ein nutzloser Rest. „Man hat sich gefragt: ‘Wessen ist eigentlich das Privatleben beraubt worden? (privare, lat.: berauben)’. Ganz einfach des Lebens, das grausam von ihm abwesend ist. Die Leute sind der Kommunikation und der Selbstverwirklichung so weit beraubt worden, wie es nur möglich ist. Man sollte sagen: der Möglichkeit, persönlich ihre eigene Geschichte zu machen“, ibd.
„Bevor die Kritik und die ständige Neuschaffung der Totalität des alltäglichen Lebens von allen Menschen natürlicherweise ausgeübt werden kann, sollten sie unter den Bedingungen der gegenwärtigen Unterdrückung unternommen werden und zwar, um diese Bedingungen zu zerstören. Keine kulturelle Avantgardebewegung – sogar eine mit revolutionären Sympathien – kann das zustandebringen,“ ibd. Das ist alles gut und richtig. Aber an dieser Stelle endet, was uns die Situationisten über dieses „private Leben“ und seine Umwälzung mitzuteilen haben. Wissen sie nicht mehr davon? Genau in dem Jahr, in dem sie verstummen, beginnt die zweite Welle des Feminismus.
Die Kritik des alltäglichen Lebens, von der die Situationisten so viel geredet haben, ist erst begonnen worden von der Women’s Liberation Front und von Frauen wie Shulamith Firestone und Katie Sarachild. Und soweit sie überhaupt geleistet worden ist, ist sie von ihnen und ihren Nachfolgerinnen geleistet worden. Die Nachfolger der Situationisten haben sich nicht die Mühe gemacht, sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Sie sind zur Strafe irrelevant geworden.
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„Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann“; so bezeichnet Walter Benjamin den gesellschaftlichen Ort der Kunst, wo sie als fertiges Werk zum Ausstellungsstück tauglich wird (Thesen über die Geschichte, VII). Die Bestimmung ist für unsere Zwecke sehr einschlägig; denn es war genau diese Musealisierung, Reduktion der Kunst zu Beute der Herrschenden, zur Zierde ihrer Gesellschaft, die den Anschlag auf diese Art Kunst antrieb.
Die Befreiung der gewesenen Kunst aus diesem Schaukerker ist nicht in einem Akt getan. Sie ist ja nicht nur Beute, sondern sie ist selbst Produkt der Herrschaft; ihre Züge selbst sind die der Ausbeutung. Ihre Erlösung setzt ihre Kritik voraus; dass man sich ihren Erschaffern auf gleicher Ebene nähert und ihnen auf die Finger schaut; indem man ihnen unehrerbietige Fragen stellt, und nach ihren Motiven forscht. Die befreite Menschheit, wenn sie Siegerin sein wird, kann es nicht halten wie alle vorherigen Sieger; sie kann das gewesene nicht einfach als Trophäe ausstellen, denn es ist aus ihrem eigenen Leiden geschaffen, und sie wird sich selbst in diesen erkennen und erlösen müssen. Aus demselben Grund kann sie es nicht austilgen und vergessen machen. Das Erbe, das sie anzutreten hat, muss, um angetreten zu werden, völlig umgebildet werden.
Es ist auch gesagt worden: „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist,…. hat gar kein Bürgerrecht im Reich der Kunst. … “ (Friedrich Schlegel, Lyceum-Fragment 117); „Eine … Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen… Das Schauspiel [ist] ein angewandter Roman“ (ders., Brief über den Roman). Das ist nicht falsch; der Roman aber ist eine individuelle Form, das Schauspiel dagegen eine öffentlich gesellschaftliche. Diejenige umbildende Kritik, an die wir denken, hätte zur Voraussetzung, dass die Trennung zwischen Urheber und Werk, zwischen Werk und Publikum aufhört; dass diese Trennung im fortschreitenden Prozess umbildender Kritik sich auflöst. Dann, aber nur dann kann Kunst sich selbst als gesellschaftliches Denken über die Gesellschaft wissen. Erst dann ist sie legitim.
Die Gleichungen der Theorie dafür, wir habens gesehen, bestehen alle schon; sie ergeben sogar Sinn nur für eine Kunst als lebendig öffentliche umschaffende Kritik; sie werden falsch, wo die Kunst als bloss individuelle Anstrengung, ihr Erzeugnis als fertig abgeschlossenes unzugängliches Werk erscheinen soll. Das Schauspiel, von dem wir reden, hätte keine Autoren oder Regisseure; kein passives Publikum und keine spezialisierten Schauspieler. Es wäre Organ der gemeinsamen Verständigung für die, die an ihm teilnehmen; seine eigene Bewegung wäre die Eroberung der Mittel des Ausdrucks.
Vor allem aber hätte es über die Dinge zu reden, über die allgemein geschwiegen wird. Die Grundlage des öffentlichen Gesprächs in unseren Gesellschaften ist das Schweigen über die nächsten und wichtigsten Dinge. Jeder weiss das, aber jeder weiss auch gleichzeitig, dass diese Dinge nicht „wichtig“ sind. Begänne man sie als wichtig anzusehen, hätte man den Anfang des Fadens in der Hand. Auch das es diesen Faden und Anfang gibt, ahnen alle, aber sie tun, als könnten sie ihn nicht finden. So helfen sie alle mit, es allen zu verheimlichen. Ein Schauspiel wie das, von dem wir reden, könnte nur dann bestehen, wenn es Teil einer wirklichen Bewegung wäre, die darauf geht, diesen Zustand umzustürzen; ansonsten hätte es keine Aussicht; aber umgekehrt wäre eine solche Bewegung auch ohne ein solches Schauspiel nicht zu denken.
Eine solche Bewegung selbst ist mit den Mitteln des Schauspiels nicht zu erzeugen; aber sie ist ohne diese nicht aufrechtzuerhalten. Die umbildende Kritik eröffnet ihr den Zugang zur eigenen Geschichte der Gesellschaft. Dieses Schauspiel würde nicht fragen müssen, ob es die Kunst sich anzueignen oder sie zu zerstören hat. Beides wäre ohne weiteres das selbe. Die Kunst der Vergangenheit wäre in seine Gewalt gegeben. Kein Kulturgut wäre vor ihm sicher, denn keines könnte seiner auflösenden Kraft standhalten. Was würde aus Strindbergs Stücken in solchem Theater? Es würde überall leicht die sorgsam versteckte Lüge herausfinden, die jedes Werk der bisherigen Literatur plausibel hat machen helfen; und damit die Einrichtung der dazugehörenden Welt. Ob ein solches Theater bereits besteht, oder wie es zu betreiben wäre, ist hier nicht unsere Frage. Hier genügt es, festzustellen, dass eine solche Einrichtung der Attraktor einer Kunst sein müsste, die sich in der Sackgasse der Subversion nicht verfangen sollte.
Aber es war genau dieser einzige denkbare Attraktor, den die Avantgardebewegungen der modernen Kunst so zielsicher verfehlten. Und das ist kein Zufall, denn ihr ganzer gesellschaftlicher Charakter war darauf ausgerichtet, das um jeden Preis zu erhalten, was als erstes fallen muss: den Autor, oder die Avantgardebewegung selbst, die feststehende Existenz des Künstlers, der vom Publikum getrennt sein musste. Die Surrealisten konnten noch so laut erklären, den Surrealismus in den Dienst der Revolution zu stellen: den Preis dafür zu zahlen, waren sie nicht bereit: die Auflösung der eigenen Schule, die Preisgabe ihrer usurpierten Autorität, den gesellschaftlichen Charakter, den sie verkörperten.
Es werden noch viele wie sie kommen und gehen; aber immerhin, das Spiel ist fade und uninteressant geworden. Alle Kunst, die in gar keiner Beziehung auf die Revolution steht, ist ohnehin von der Quelle ihrer Kraft abgeschnitten; sie wird nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen werden. Schon stellt sich die Frage, ob Kunst überhaupt noch möglich ist. Es ist die falsche Frage. Sie ist ohne Zweifel möglich und nötig. Nur nicht auf derselben Grundlage.
Die alten Prophezeiungen sind nicht plötzlich unwahr geworden. Alle Kunst ist in der Tat unmöglich, die nicht der Eroberung der Mittel des Ausdrucks dient, und der Revolution des alltäglichen Lebens; wenn auch ganz anders als wir es uns träumen liessen, als wir noch selbst zornige junge Männer waren; sollen wir vielleicht direkt sagen: allle Kunst ist unmöglich, die nicht feministisch ist? Denn nur auf diese Weise können die alten Prophezeiungen wahr werden.
Von Jörg Finkenberger
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