Ein Rückblick die 2 Jahre Corona-Pandemie
Von Jörg Finkenberger
Die letzten 2 Jahre haben diese Gesellschaft von einer Seite gezeigt, wie man sie vorher nicht sehen konnte oder nicht sehen wollte. Immerhin ist man gezwungen, sie jetzt zur Kenntnis zu nehmen. Es hat niemand eine gute Figur gemacht. Aber es ist mehr als eine ästhetische Frage, sondern nur ein Zerrspiegel dieser Gesellschaft. Es ist alles da, was man sonst auch sieht, aber einiges kurios übertrieben; deswegen kann man Dinge erkennen, die man sonst übersieht. Sehen wir hin: die Behörden sind im Kern unfähig, die politische Führung fühlt sich niemandem ernsthaft Rechenschaft schuldig, die Gesellschaft ist bis zur Hilflosigkeit atomisiert, und in diesem Zustand anfällig für die irrsinnigsten Ideen; die öffentliche Debatte wird von Leuten beherrscht, die unfähig sind, Naturtatsachen zu begreifen. Die Fäule ist nicht nur oberflächlich. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es aussieht, wenn einmal wirklich was ist; aber andererseits ist nichts von alledem neu und ungewöhnlich. Eine Gesellschaft, die so aussieht wie die unsere, kann nicht anders als disfunktional sein; sie ist es auch in ihren besten Zeiten. Dann tun alle so, als wäre nichts. Es werden andere Zeiten kommen; solche, in denen man nicht mehr so tun kann. Sehen wir uns den Gesamtschaden einmal an.
1. Man weiss jetzt ganz genau, was die Belange der Frauen und der Kinder in dieser Gesellschaft zählen. Im Grunde sind 50 Jahre Frauenbewegung für die Katz gewesen. Was ihnen zugestanden worden ist, ist entweder symbolisch oder jederzeit widerruflich. Will man sich noch Illusionen machen? Die Freiheit, die diese Gesellschaft verspricht, kann nicht anders sein. Im Notfall steht man doch alleine da, wieder am Herd; im Notfall sind alle die schönen Einrichtungen, die den Frauen die Teilnahme am Arbeitsmarkt erlauben, zu nichts zu gebrauchen; und dann zeigt sich sehr schnell, an wem was hängenbleibt. Denn es hat sich in Wirklichkeit nichts verändert.
Die sogenannten Bildungseinrichtungen für die Kinder waren immer vor allem Anstalten, um die Kinder aufzubewahren, während die Eltern arbeiten. Nie hat das jemand verschwiegen. Ansonsten dienten sie dazu, den Kindern einen verstümmelten Rest Sozialisation zu ermöglichen; notdürftig verbringt man seine Kindheit damit, der unsinnigen Reglementierung und den stumpfen sogenannten Unterrichtsinhalten aus dem Weg zu gehen und trotzdem so etwas wie Freundschaften zu finden und eine Art Leben. Die Schulzeit bleibt, wenn überhaupt, nur wegen dem in guter Erinnerung, was in Schulordnung und Lehrplan ausdrücklich nicht vorgesehen ist.
Was vorgesehen ist, ist dagegen die stumpfe Trennung von jedem gesellschaftlichen Leben. Die einzige stabile Bindung ist die Isolation in der Familie, auf diese wird man zurückgeworfen. Etwas drittes gibt es nicht, niemand wagt überhaupt daran zu denken; man müsste ja ganz anders leben. Der Lehrplan geht, so gut es eben geht, derweil weiter; mit Arbeitsblättern über Arbeitsblättern. Der digitale Fernunterricht ist Schule ohne alles, was sie erträglich macht. Ob er überhaupt funktioniert, ob zuhause überall die idyllischen Bedingungen herrschen, die so etwas möglich machen, interessiert niemanden.
Das Bildungssystem wird die „Errungenschaften“ dieser Jahre sich übrigens nicht ohne weiteres entreissen lassen;. Aber selbst nach 2 Jahren ist es immer noch nicht möglich, Luftfilter in die Klassenräume zu bringen. Wozu auch, für nur eine Pandemie? Danach wird es wieder so egal sein wie vorher. Es ist offenbar allgemein akzeptiert, dass es immer so war und deswegen notwendig so bleiben muss, dass Schulen und Kindergärten Sammel- und Verteilstellen von ansteckenden Krankheiten sind. Es ist natürlich und gottgewollt, dass Kinder und junge Eltern jede zwei Wochen mit einer anderen Art von Infekt geschlagen sind. Es wäre regelrecht ein Verstoss gegen die Schöpfungsordnung, dagegen irgendetwas zu tun.
Man soll sich von der ganzen neuen Technik nicht täuschen lassen, unsere Schulen sind eine Schande gewesen und sind bis heute eine Schande, auch wo heute Beamer statt Kreide benutzt wird. Die Lehrmaterialien, die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte, die meistens nach einigen Jahren kapitulieren und danach als gebrochene Menschen durch die Flure schlurfen; die Klassengrössen, die soziale Dynamik, die aufs Mobbing hinausläuft; die Lehrpläne, das blinde Lernen von Unfug, der nur akzeptiert wird, weil man ihn auch wieder leicht vergessen kann; das ganze verdammte Konzept ist eine Schande, und jeder weiss das, aber wenigstend hält es die Kinder von zuhause fort. Was, wenn es das nicht mehr tut?
Diese Schulen und die Kindergärten sind im Kern alles, was diese Gesellschaft zu der Gleichberechtigung der Frauen beigetragen hat, und man setzt es leichtfertig aufs Spiel. Diese Glecihberechtigung ist noch nicht einmal der Anfang einer Befreiung; und sie besteht eigentlich nur in der Eingliederung in den Markt; etwas anderes ist gar nicht vorgesehen. Die Bedenkenlosigkeit, die völlige Gleichgültigkeit, mit der davon ausgegangen wird, dass das alles von heute auf morgen auch wieder den früheren Gang geht; dass die Frauen natürlich zu Hause bleiben werden, nicht nur einmal, sondern sooft es nötig ist; dass sie sich halt danach zu richten haben werden; das war auch etwas, was man gesehen haben musste.
Die Überarbeit der Frauen wird ganz selbstverständlich vorausgesetzt, sie wird ihnen auch nicht abgenommen, von ihren noch so wohlmeinenden Männern, und schon gar nicht von der noch so fortschrittlichen politischen Klasse. Die hat vor lauter Fortschrittlichkeit schon lange aufgehört, sich um solche banalen Dinge zu kümmern. Die Dinge sind im Kern heute nicht anders organisiert als zur Zeit unsrer Grossmütter, die ohne Erlaubnis ihrer Ehemänner keine Arbeit annehmen durften. Natürlich ist heute alles moderner und flexibler! Heute müssen die Frauen freiwillig entscheiden, zuhause zu bleiben, weil es andersherum keinen Sinn macht; weil die Männer mehr verdienen. Aber das Spiel ist gezinkt, und alle wissen es jetzt. Die Frauen werden als eine kostenlose Ressource behandelt; die Kinder als Material. Nichts neues, natürlich; aber in dieser Rohheit lange nicht gesehen. Man weiss jetzt wieder, wo der Hammer hängt.
Natürlich, wenn Kontakte reduziert werden müssen, will abgewogen sein, welche und wo; Industrie, Gastronomie, oder Schulen. Und es ist immer ganz klar gewesen, wohin die Waage ausschlägt. Nehmen wir das zur Kenntnis, wessen Belange zählen und wessen nicht! Und hoffen wir, dass es die Frauen auch nicht so schnell vergessen werden. Diese Gesellschaftsordnung, oder die Befreiung der Frauen: nur eines von beiden ist möglich.
2. Diese Gesellschaft ist in ihrer Struktur unhaltbar. Jede einzelne Verrichtung ist abhängig von Dingen, die schon in einer vergleichsweise harmlosen Epidemie nicht mehr gewährleistet werden können. Alles ist mit allem auf nutzlose und übertriebene Weise verflochten; und das liegt gar nicht an dem erreichten Stand der Produktivkräfte, sondern an der marktwirtschaftlichen Ordnung. Jedes Ding ist mit jedem Ding verbunden nicht über einen direkten Weg, sondern durch den gesamten Apparat der Gesellschaft. Das Virus tauchte in Bayern auf, weil irgendwelche Ingenieure in Wuhan auf Fortbildung waren; es stellt sich raus, die globalen Lieferketten ziehen sich praktisch durch jedes niederbayerische Nest. Es gibt im Prinzip keine lokalen Kreisläufe. In der Praxis gibt es die natürlich massenhaft, aber als untergeordnete Ausnahmen und Unvollkommenheiten. Die Familie ist selbst so eine untergeordnete Ausnahme. Die bürgerliche Gesellschaft ist ihrem Begriff nach eine gewalttätige Abstraktion; sie muss so tun, als gäbe es diese untergeordneten Strukturen nicht. Aber sie beruht darauf, dass es sie doch gibt. Sie macht sie nutzbar, unterwirft sie, aber beraubt sie aller Selbständigkeit.
Die Pest hat Jahrzehnte gebraucht, sich über die ganze alte Welt zu verbeiten, das neue Virus keine drei Wochen. Das sagt etwas über unsere heutige Welt. Die Einwohner unserer heutigen Gesellschaft stehen wirklich, wie es die bürgerlichen Ideologen sich wünschten, in direktem und unmittelbaren Verhältnis zum Ganzen, zum Markt und zum Staat. Sie haben auch nichts, wohin sich zurückziehen; sie haben keine eignen und auch keine gemeinschaftlichen Lebensgrundlagen. Alles, Lebensunterhalt, Familie, hängt an denselben grossen Kreisläufen, und in denen ist selbstverständlich auch keinerlei Redundanz. Eine solche Gesellschaftsordnung ist, neben vielen anderen Sachen, unvermeidlich eine Brutstätte für Seuchen. Es ist übrigens seit 30 Jahren so; alle zehn Jahre beinahe hatte man ja seitdem solche Epidemien. Man hat sie zweimal aufgehalten bekommen, so gründlich, dass es vollkommen vergessen worden ist; das dritte Mal dann nicht mehr. Es gibt einen Grund, anzunehmen, dass es in zehn Jahren nicht wieder passiert, ja dass es das nächste Mal nicht noch schlimmer kommt.
Und dabei ist diese faktische Weltgesellschaft noch in Staaten zerspalten, die, was die Handelsbilanz betrifft, sich gegenseitig nicht das Schwarze unter den Nägeln gönnen dürfen; die harten Massnahmen, mit denen überall auf die Seuche reagiert wurde, war eingestandenermassen der Preis dafür, die exportierende Industrie offenzuhalten. Das gesamte gesellschaftliche Leben ist beschreibbar als eine Lieferkette für diese, für die Zitadellen dieser Herrschaftsordnung. Es zeigt sich übrigens wie in der Krise von 2008, was das Gerede von der postindustriellen oder Dienstleistungsgesellschaft wert ist. An welche Branchen ist diese Gesellschaftsordnung unauflöslich gekettet, und welche sind bloss optional? Die Antwort auf diese Frage ist die Antwort darauf, was die Abstraktion „gesellschaftlicher Reichtum“ wirklich bedeutet, was noch kein Wirtschaftswissenschaftler erklären wollte. Der produktive Apparat ist ein Herrschaftsmittel. Und das wird in jeder Gesellschaft so sein, die die Grundfehler der bürgerlichen Gesellschaft teilt. Auch das, was die meisten unter dem Sozialismus verstehen wollen, wäre nicht anders. Jede Alternative, wenn sie von oben nach unten gedacht werden kann, wird keine Alternative. Sie hätte dieselben Fehler und womöglich schlimmere dazu.
3. Alle Entscheidungsgewalt ist in diesen Gesellschaften in den Händen der zuständigen Behörden konzentriert. Die Behörden sind wiederum daran gewöhnt, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Das ist der reine Hohn auf die sogenannte Demokratie und gleichzeitig ihre genaue Realität: dem Staat gegenüber ist die Gesellschaft auf Dauer passiv, nicht sie handelt, sondern des Staat; und solange sie sich in dieser Rolle halten lässt, hat sie in der Tat ihre Hoheit ganz und gar abgetreten und kann sich darüber noch nicht einmal klar werden. Ihre Repräsentanten handeln für sie, wie für einen auf Dauer Unmündigen. Das ist nicht erst seit neulich so; aber bis neulich konnte man noch sagen: es funktioniert wenigstens.
Das Organisationsversagen der Behörden war auf allen Ebenen zu sehen, von den Gemeinden bis zur überstaatlichen Ebene. Es hat ja Pläne für einen solchen Fall gegeben; sie sind seit 2003 nach der ersten SARS-Epidemie entwickelt worden. Es stellt sich heraus, dass sie wertlos waren; sie hingen an den internationalen gemeinsamen Behörden der Staaten. Und es zeigt sich, dass diese internationalen Behörden heute kaum mehr handlungsfähig sind, weil die Grossmächte heute nicht mehr zusammenarbeiten.
Aber das Versagen geht noch tiefer. Sogar ein Land wie Deutschland, das ziemlich an der Spitze der globalen Nahrungskette steht, war nicht in der Lage, angemessen früh zu reagieren. Als hier die ersten Infektionen auftraten, Anfang 2020 in Bayern, durfte vor den Kommunalwahlen nichts geschehen; es hätte den ordnungsgemässen Wahlausgang gestört. So ähnlich dürfte es überall ausgesehen haben. Und natürlich feiern sich solche Leute wie Markus Söder heute für ihr entschiedenes und erfolgreiches Handeln.
Warum wird hier keine Rechenschaft verlangt? Warum ist das so gründlich vergessen? Weil alle froh sind, dass Söder später überhaupt etwas unternommen hat. Jeder, der ihn auch nur flüchtig kennt, hat damit gerechnet, dass er ohne zu Zögern auch zu einer Tour nach Art des Bolsonaro in der Lage gewesen wäre. Das bestehende politische System selektiert positiv auf Psychopathie.
Man kann den ganzen Unsinn, der von den Behörden und der gewählten Führung getrieben worden ist, gar nicht mehr aufzählen, es ist sogar schwer, ihn in Erinnerung zu behalten. Fahrlässige Unterlassungen auf der einen Seite, zähes Festhalten an einigen unsinnigen und belastenden Massnahmen auf der anderen; fortgesetzte Unfähigkeit, aus einer bald zwei Jahre dauernden Sache irgendetwas zu lernen; der allzeit völlig überraschende Herbst; die nach zwei Jahren immer noch unerklärbar fehlenden Kapazitäten in den Krankenhäusern; dafür Methoden wie unterschiedslose Ausgangssperren am Abend. Was ein normaler Mensch in diesem so gut funktionierenden Land erlebt hat, spottet jeder Beschreibung. Genau deswegen wird öffentlich nicht viel darüber geredet.
4. Ein guter Teil der Gesellschaft war im März 2020 willens, das nötige gegen die Ausbreitung des Virus zu tun; nicht nur bereit, sondern begann sich selbst angemessen zu verhalten, ohne auf Anweisung zu warten. Es war sogar erst die öffentliche Meinung, die die gewählten Anführer gezwungen hat, sich der Sache anzunehmen. Leute wie Markus Söder haben natürlich die Umfragen angesehen, ehe sie entschieden haben, ob sie es wie Bolsonaro machen oder eher nicht. Aber von Beginn an hat das ungeschickte und im Grunde gleichgültige Vorgehen des Staats diese Bereitschaft Stück für Stück zerstört. Brasilien hat eine höhere Impfquote hinbekommen als das so gut organisierte Deutschland! Wie kann so etwas passieren?
Der Staat ersetzt die Einsicht in die Lage durch den Befehl einer Vorschrift. Im Verhältnis zur Gesellschaft erscheint als wirkende Ursache der Staat, nicht die objektive Lage. Je tiefer der Staat im Bewusstsein der Gesellschafsglieder eingewurzelt ist, desto unfähiger werden sie, ihre Lage selbst zu erkennen. Die Gesellschaft, in ihrem passiven Zustand, erzeugt dadurch selbst dauernd eine eigene Psychopathie. Was der Staat befiehlt, ist je nachdem wie man zu ihm stehen will, entweder unbestreitbar richtig oder unbestreitbar falsch; die Wurzel des Urteils liegt im Verhältnis zum Staat, nicht zur Realität, das ist das wichtigste und das alles überragende Kriterium. Unsre Ideologen klagen über den Verlust der Wahrheit; aber sie tun so, als käme das von irgendeiner metyphysischen Sonnenfinsternis her. Die Pathologie des Staatsbürgers, das ist der Grund für den Verlust der Realität.
Wer jemals mit einem dieser Massnahmengegner gesprochen hat, wird die unsichtbare Sperre nicht vergessen, an der man nicht vorbeikam; der Punkt, wo die gewöhnliche Dummheit in eine gewollte Dummheit übergeht, der mit Gründen nicht beizukommen ist; die sich stattdessen beliebig eigene Gründe einfallen lässt. Dasselbe Erlebnis konnte man mit einer anderen Sorte haben: denjenigen Massnahmenbefürwortern, die selbst im März 2020 noch von Panikmache geredet haben, aber ihre Meinung mit den ersten Regierungserlassen geändert haben. Auch mit diesen war kein vernünftiges Wort zu reden. Wenn es im Gesetz steht, muss es richtig sein; wer das nicht glaubt, ist ein Feind. Diese gibt es meistens unter den Anhängern des heutigen Linksliberalismus, und es wurde über sie diesmal weniger geredet als über die anderen, weil sie diesesmal weniger störend auffielen; das wird sich ändern, denn diese Sorte ist unglaublich dreist geworden, und sie sind nicht mehr gewohnt, dass ihnen widersprochen wird. In der nächsten Periode wird man auch mit denen zusammenrucken müssen, sonst wird man sich ihrer nicht mehr erwehrt bekommen.
Die offenkundig irrsinnige Strategie unsrer gewählten Häupter war auch deswegen jeder wirksamen Kritik entzogen, weil diese beiden Gruppen von Staatsbürgern sich so hervorragend ergänzen. Die einen konnten immer, bei jedem Einwand, auf die anderen Bekloppten zeigen. Miteinander gemeinsam haben sie aber die Staatsbürgerbrille, durch die sie alles betrachten; die Unfähigkeit, Naturtatsachen von gesellschaftlichen Tatsachen zu unterscheiden; das völlige Desinteresse an den gemeinsamen Angelegenheiten, eine Art moralischer Farbenblindheit, und als Folge die Unfähigkeit, gesellschaftlich zu handeln. Und sie sind selbstverständlich zusammen in der Lage, die Debatte zu bestimmen; aber auch nur zusammen, denn sie sind aufeinander angewiesen, die Dummheit der einen deckt die Dummheit der anderen. Und die Grundlage der Debatte ist die gemeinsame Handlungsunfähigkeit.
Das ist die Psychopathie, die eine unmündig gehaltene Gesellschaft aus sich heraus hervorbringt. Und solange sie vorherrscht, wird die Gesellschaft auch immer unmündig bleiben. Das heisst, dauerhaft unfähig, ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Dazu, heisst es, haben wir ja den Staat! Der aber ebenso unfähig ist; und, weil er notwendig die Beute der einen oder der anderen Deppen sein muss, wird er immer nur unfähiger.
Das ganze wäre ein geschlossenes System, sauber und logisch konstruiert, in dem nichts möglich ist und nichts jemals anders wird. Aber es ist nicht so, es könnte gar nicht bestehen. Es scheint noch eine dritte Art zu geben, wie sich Menschen in dieser Gesellschaft verhalten. Sie tritt nicht laut in Erscheinung, und sie ist undankbar und mühsam. Sie besteht aus der alltäglichen Improvisation, dem alltäglichen eigenen Urteil darüber, was angemessen ist und was nicht. Die Leute von dieser Sorte dominieren selbstverständlich nicht die Debatte. Sie werden überhaupt nicht gefragt, ja gar nicht zur Kenntnis genommen. Aber sie sind diejenigen, welche beweisen, dass etwas wie Gesellschaft überhaupt möglich ist.
Wir haben vor zwei Jahren die Frage gestellt, wer die Befähigung hat, die Geschäfte der Gesellschaft zu leiten. Diese letztere Sorte Menschen sind es. Zum guten Glück sind sie unter den arbeitenden Klassen nicht ganz so selten, wie man fürchten musste. Es ist also immer möglich, dass ihnen einmal etwas Entscheidungsgewalt in die Hände fällt; das ist auch gar nicht selten so gewesen, sie haben sie nur selten lange behalten. Aber keine Veränderung ist möglich, ohne dass diese dabie die Führung übernehmen, wenigstens für eine Zeit. Und keine dauerhafte Verbesserung, ohne dass sie sie behalten. So etwas ist aber bekanntlich noch nie gelungen.
5. Eine Gesellschaft wie die unsre hat keine Zukunft. Ein Zeichen dafür ist, dass so etwas heute nicht mehr die üblichen Verdächtigen sagen, sondern ganz andere Leute. Die üblichen Verdächtigen dagegen scheinen in den streitenden Fraktionen der fanatisiertenStaatsbürger aufgegangen zu sein. Diese Fraktionen halten sich beide für oppositionell, aber sie sind es, die das unerträglich gewordene Gefüge aufrechterhalten.
Heute obenauf ist der linke Flügel des Systems, eine Art durchgedrehter Liberalismus. Er ist die Partei des modernen Kapitals und der akademisch gebildeten Mittelschichten, und er hat auch nur deren Ideen anzubieten. Er feiert sich selbst dafür, die sogenannte Ära der Populisten überwunden zu haben, und glaubt ernsthaft, das aus eigener Kraft geschafft zu haben. Das ist keineswegs der Fall. Aber der Sieg hat ihn übermütig gemacht, und die Auseinandersetzung hat ihn deformiert. Er hat sich zu einem engen und autoritären Konformismus verändert, er weist jeden Einspruch gegen sein neues Evangelium zurück, aber er hat als Deckung für seinen absurden Anspruch nichts vorzuzeigen. Er verspricht auch nichts anderes, als das es weiter so geht.
Sein Sieg ist erpresst. Und er hat sich zu sehr daran gewöhnt, dass sein zuverlässiger Gegner da ist; die sogenannte populistische Rechte, die Partei der veralteten Industrien und ihres Anhangs in dem absteigenden Teil der Mittelschicht. Er profitiert davon, dass er als einzige glaubwürdige andere Option dasteht; und er muss wütend jede Konkurrenz bekämpfen, vor allem von links. Umgekehrt ist er selbst derart verhasst, dass er der Rechten immer genug Unterstützung zutreiben wird. Das Spiel kann lange so weitergehen, bis die Tatsachen sich verschieben, die es möglich machen. Diese zwei grossen Übel brauchen einander; und sie werden bestehen, bis die heutige Ordnung, ihr gemeinsames Werk, scheitert.
Wir haben einen ersten Eindruck bekommen, wie dieses Scheitern aussieht, wir werden bald noch genauere bekommen. Denn es werden neue Konflikte auftreten; alles entscheidet sich daran, dass sie auch neue Kräfte hervorbringen. Die Keime sind zu sehen; dass sie gedeihen, ist sehr unsicher. Und noch ist es ruhig; die am meisten zu leiden hatten, sind die, deren Belange ohnehin nicht zählen. Man kam, mit Anstrengung, durch diese Sache durch, so wie man immer durchkam mit Anstrengung. Deswegen werden die nächsten Schwierigkeiten genauso bewältigt werden wie diese letzten. Die zynische und selbstzufriedene Art, wie hier gewirtschaftet wurde, wird aber unter anderen Umständen vielleicht einmal ganz anders aufgenommen werden. Es waren nicht unsere Anführer, die uns durch diese Geschichte gebracht haben, es war die Energie und Erfindungsgabe derer, auf die niemand hört. Man sollte sich niemals mit denen anlegen, die alles zusammenhalten. Aber natürlich wird das unweigerlich geschehen.