Dieser Artikel, und fast alle dort besprochenen Positionen, stehen unter einem sehr merkwürdigen Vorbehalt. Es könnte sich zeigen, dass der neuere Ansatz von Peter Gerwinski ihnen den Boden unter den Füssen wegzieht. In diesem Falle würde ich sehr lachen. Und vermutlich Sabine Hossenfelder auch.
Smolin, Three Roads to Quantum Gravity, 2001
Barbour, The End of Time, 2001
Zeh, The Physical Basis of the Direction of Time, 2007
Smolin, Time Reborn, 2013
Smolin u. Unger, The Singular Universe and the Reality of Time, 2014
Rovelli, The Order of Time, 2018
Hossenfelder, Lost in Math, 2018
Smolin, Einsteins Unfinished Revolution, 2019
Baggott, Quantum Space, 2019
Barbour, The Janus Point, 2020
Die Grundlagenkrise der Physik
Die genannten Bücher sind grösstenteils keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen im strengen Sinn. Sie sind aber auch keine populärwissenschaftlichen oder Pop-sci-Bücher. Sondern selbst die, die in essayistischem Plauderton gehalten sind, zitieren und paraphrasieren ausführlich allerhand bekanntere und auch entlegenere wissenschaftliche Arbeiten. Sie versuchen nicht nur um der breiteren Leserschaft oder der „Allgemeinverständlichkeit“ willen, auf die Sprache der Formeln zu verzichten; sie haben dafür einen eigenen methodischen Grund.
Nicht alles in der Physik steht in den Gleichungen; sondern was man unter diesen Gleichungen sich denken soll, das nennt man die Interpretation. Man braucht eine Interpretation nicht kennen, um eine Gleichung zu lösen; das heisst aber, die Gleichung selbst sagt einem recht wenig darüber, was bei dem Vorgang tatsächlich geschieht, den sie beschreibt. Auch Maschinen können aus den Daten, die man eingibt, Gleichungen finden; wenn man sie richtig programmiert, sind sie sogar richtig, d.h. zutreffend. Aber niemand kann einem sagen, warum sie richtig sind und was sie wirklich bedeuten, d.h. wie man aus ihnen sinnvolle und nichttriviale neue Gleichungen gewinnt.
Das Problem der gegenwärtigen Physik ist gerade dieses, dass solche neuen Gleichungen seit nunmehr 50 Jahren praktisch nicht mehr gefunden werden; seit 1973. So etwas ist in der neueren Geschichte der Wissenschaft fast ohne Beispiel; und es ist in der Tat erst in den letzten 10 Jahren, dass man sich über diese Einsicht nicht mehr hinwegtäuschen kann. In den 1980ern versprach die sogenannte erste String-Revolution eine tragfähige Grundlage der Physik zu finden; und nach deren schmählichem Scheitern in den 1990ern die sogenannte zweite String-Revolution genauso, und auch dieser ist es nicht besser gegangen, die experimentellen Ergebnisse am Tevatron und später LHC haben wenig von ihnen übriggelassen, und die Krise manifestierte sich ab 2000 in den sogenannten String-Kriegen in der Physik, von denen unsre Bücher hier spätere Ausläufer sind.
Es hatte sich bisher nie eine Idee abgezeichnet, wie die Krise ausgehen könnte; alle Versuche, sie zu überwinden, sind zu offensichtlich selbst Symptome der Krise gewesen. Es ist ja leicht, über die String-Theoretiker zu spotten, weil alle es tun und weil es solchen Spass macht. Sie sind in ihrer legendären sektenhaften Arroganz und Verstiegenheit gewissermassen die Postmodernisten der Physik. Aber das ganze Geschrei um die String-Theorie ist ja Folge, nicht Ursache der Krise; und selbst Smolin, ein Lieblingsfeind der String-Szene, gesteht ihren Mühen durchaus eine wenn auch untergeordnete Existenzberechtigung und einen Platz in seinem eignen Lösungsvorschlag zu, selbst der berühmten M-Theorie, obwohl niemand diese je zu Gesicht bekommen hat.
Die Grundlagenkrise der neueren Physik kommt, wie allgemein bekannt sein dürfte, daher, dass sie zwar teilweise Beschreibungen für die Grundlagen der Naturwissenschaft erarbeitet hat, aber diese teilweisen Beschreibungen untereinander nicht zusammenpassen wollen; sie sind inkonsistent, sie lassen sich gegenseitig nicht auseinander ableiten, die ganze Wissenschaft ist daher unvollständig. Alle Naturwissenschaften ruhen auf der Physik, diese aber wiederum auf den beiden Relativitätstheorien und der Quantentheorie. Eine Beschreibung, die alle diese drei Theorien in sich enthält, das heisst eine wahre Grundlegung, ist nicht gefunden worden; das heisst, die Grundlagen der Physik sind ungenügend verstanden.
Die Lage ist vielleicht gut beschrieben mit der Wheeler-DeWitt-Gleichung. Das ist eigentlich eine nach der allgemeinen Relativitätstheorie umformulierte zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung, sie enthält also womöglich mindestens einen Teil der gesuchten grundlegenden Theorie, eine quantentheoretische Formulierung der Relativitätstheorie oder umgekehrt. Aber aus der Formel ist das kaum herauszubekommen, man kann sie auch nicht überprüfen, denn sie rechnet sich nicht, und es ist nur durch Zufall in den 1980ern dem Smolin und anderen eine Klasse von Lösungen zu finden gelungen, und auch mit diesen Lösungen ist nicht allzuviel anzufangen. Smolin und übrigens die meisten anderen, die wir hier besprechen, gehören zu der Schule der Schleifen-Quantengravitation, der grössten Oppositionsschule zur Stringtheorie; und, wie man sagen wird, auch der Schule, die bisher die schöpferischsten Köpfe hervorgebracht hat, und die unnachgiebigsten Kritiker des bestehenden Zustands.
Die theoretische Physik hat die letzten 50 Jahre keine Fortschritte bei ihren Grundlagen gemacht. Es gibt dafür eine Reihe von Gründen, und auch dafür, dass sie trotzdem anscheinend unbeirrt ihren Stiefel weitertreibt, statt ihren Ansatz zu kritisieren und dann anders anzufangen: die wissenschaftssoziologischen Gründe, dass z.B. die akademische Welt genauso organisiert ist wie ein die mittelalterlichen Klöster, nämlich um altes Wissen zu bewahren und neues Wissen zu unterdrücken (Smolin, Einsteins Unfinished Revolution); die Erosion der wissenschaftlichen Methode, die eintritt, wenn Symmetrie und Ästhetik des mathematischen Formalismus als Wahrheitskriterium behandelt werden (Hossenfelder); aber auch Gründe, die in der Sache selbst liegen, die auf abgeschlossne Systeme ausgerichtete Richtung der Untersuchung (Smolin, Barbour), das Desinteresse an allem, was nicht in den Formeln aufgeht, die Verachtung philosophischer Fragen, die allerdings in der Unfähigkeit der Gegenwartsphilosophie eine gewisse Rechtfertigung haben könnte (Barbour). Und die Tatsache, dass von Theorie zu Experiment heute 50 Jahre und mehr vergehen, und dazwischen die blanke Spekulation regiert, d.h. die Ansprüche der Theoretiker (Smolin, Hossenfelder); und natürlich aber auch der Unwille zur echten Revolution, der anerzogene Konformismus der Ehrgeizigen (ebd.), der die wenigen Leute, die neue Gedanken denken wollen, zu Sonderlingen macht. Das ist in vielen Feldern heute so: Emeriti, oder Privatgelehrte, der Rest hütet sich heute, den Mund nicht aufzutun.
Smolin, Time Reborn
Smolin hat die physikalischen Gründe des Stillstands zu der These ausgebaut, dass in der Physik ein „newtonsches Paradigma“ vorherrscht, das auch durch die Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts nicht überwunden ist: man betrachtet einen Naturvorgang als etwas sowohl dem Betrachter, als auch dem Naturzusammenhang äusseres, abgetrenntes. Das heisst, man betrachtet ihn so, als wäre die Existenz des Beobachters gewissermassen reiner Zufall; und als liesse sich die Welt ohne Schwierigkeiten in lauter voneinander getrennte Vorgänge aufgliedern. Denn in der Tat ist das Verfahren, das er kritisiert, ja völlig angemessen, wenn es um einen einzelnen Naturvorgang geht. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass die Physik nicht verstanden werden kann ohne die Kosmologie; dass die Kosmologie die wirkliche Grundlage der Physik ist.
Die Kosmologie ist nun zwar nicht eine völlig andere Wissenschaft als die Physik, sie ist ihr Teilgebiet und für Aussenstehende kaum unterscheidbar; aber sie hat doch eine völlig andere Blickrichtung. Die physikalischen Grundlagen, wie sie in der Hochenergie- und Teilchenphysik beschrieben werden, werden demgemäss neu aufgefasst werden müssen. Die Physik besitzt ja ein Standardmodell der Teilchenpyhsik; es ist, wie sich gezeigt hat, ziemlich vollständig und durchs Experiment bestätigt, und gerade das ist das Unglück, denn es passt wiederum nicht zu dem Standardmodell der Kosmologie, und die Lücke wäre nur zu schliessen gewesen, wenn es sich als unvollständig erwiesen hätte. Darauf hatten ganze mittlerweile untergegange Schulen der theoretischen Physik spekuliert, etwa die Supersymmetrie; auf neue, bisher nicht beschriebene Teilchen, die die Tür zu einer neuen Physik öffnen. Einige dieser neuen Physiken war schon fertig ausgearbeitet und sehr elegant, aber sie sind leider schon widerlegt; bestätigt ist an den neuen Beschleunigern dagegen das unübersichtliche Durcheinander, das man vorher schon kannte.
Die Schleifengravitationsschule hatte es anders angefangen, sie hatte nicht versucht, die Graviation quantisieren zu wollen, sondern den Raum, in dem sie stattfindet, anders zu beschreiben. Sie ist vielleicht damit auch gescheitert; aber sie war als einzige im Stande, aus diesem Scheitern neue Ideen zu entwickeln. Eines ihrer Resultate, nachdem die anderen unüberwindlichen Schwierigkeiten beseitigt waren, ist dies: der tiefere Grund, warum die Quantenphysik sich mit den Relativitätstheorien nicht vertragen will, ist die Verschiedenheit ihrer Zeitbegriffe. Die bisherige Beschreibung der Quantenvorgänge benötigt eine dem Vorgang äussere und absolute Zeit, aber die Relativitätstheorien haben dergleichen nicht und können es nicht haben. Die Zeit wird dort, und auch das ist der Interpretation bedürftig, einerseits als den Raumdimensionen gleichrangige vierte Dimension behandelt, andererseits ist sie Abhängig vom dynamischen Zustand des Systems: zusammengenommen ergibt sich das Bild einer vielfingrigen Zeit, für jedes bewegte System eine andere, aber innerhalb einer vierdimensionalen Raumzeit.
Wir haben also zwei bis drei verschiedene Bestimmungen der Zeit. Das ist ein grosses Problem, das sich in den 1950ern zuerst zeigte. Die erste und einfachsten Lösung schien zu sein, das Universum insgesamt in zeitunabhängigen Gleichungen zu beschreiben; als vierdimensionales Blockuniversum. Auch die Wheeler-DeWitt-Gleichung war so angelegt. Die Zeit, so fing man an zu denken, ist nicht fundamental, sondern wie man es nennt, emergent; das heisst der Anschein der Zeit kommt zu der an sich zeitlosen Welt irgendwie hinzu. Auch Schleifengravitation fand ihre Lösungen um den Preis, dass sie die Zeit völlig aus den Gleichungen verlor; aber damit radikalisierte sich nur ein Problem, das an den Rändern der Physik schon länger debattiert wird und nun nicht mehr ignoriert werden kann.
Die Gleichungen der Physik lassen ja bekanntlich Umkehr der Zeitrichtung zu, auch wenn das real nicht geschieht; warum das so ist und ob das gut ist, ist natürlich umstritten. Es ist von einigen früher, Prigogine z.B., eine Physik des Zeitpfeils gefordert worden; eine Physik, die berücksichtigt, dass die Zeit nicht wie der Raum in beide Richtungen begangen werden kann. Aber die Gründe dafür waren nicht gut genug; Prigogine stützte seine Idee auf die thermodynamische Entropie, die ja nach Clausius nur zunehmen kann, aber er behandelt nur den thermodynamischen Aspekt der Entropie. Es ist zwar weitgehend anerkannt, dass die Entropielehre ein sehr fundamentales Prinzip zum Ausdruck bringt, aber es ist gar nicht klar, welches. Dieter Zeh hat gründlicher daran gearbeitet; er entdeckt die Grundlage der Entropie weit unterhalb der Wärmelehre in der Quantenwelt, in denjenigem Prozess, der aus Quantenvorgängen klassische Vorgänge macht, der Dekohärenz.
Die Erscheinungen der Quantenwelt sind an sich nur beschreibbar als Überlagerungen von Wahrscheinlichkeitswellen. Die beobachtbare Welt, mit der es die klassische Physik zu tun hat, kennt jedoch meistens bestimmte Zustände. Nur das Universum als ganzes hat einen beständig unbestimmten Quantenzustand, sagt Zeh, das heisst eine Wellenfunktion, die nicht zusammenbricht. Für die Quantentheorie war es von Anfang an ein Rätsel, wie es vom einen zum anderen kommt, das sogenannte Messproblem. Der Übergang scheint nicht vorherbestimmbar zu sein, aber auch nicht umkehrbar. Zeh schlägt nichts anderes vor, als dass dieses Rätsel die Lösung eines anderen, noch vertrackteren Rätsels ist, nämlich der Zeit: aus den bekannten Quantenerscheinungen der Verschränkung usw. konstituiert sich, je grössere Bereiche der Quantenwelt miteinander in Verschränkung treten, die beobachtbare klassische Welt und ihre Zeit.
Smolin nimmt den Gedanken auf, aber er radikalisiert ihn, in „Einstein’s Unfinished Revolution“, zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der älteren kopenhagener Deutung der Quantentheorie. Nicht, dass er sie völlig verwirft; es bleibt etwas sehr interessantes von ihren Grundeinsichten erhalten. Es ist jederzeit für einen Teil des Universums ein anderer Teil unbestimmt, ja unbestimmbar; und umgekehrt. Ein Teil des Universums ist für jeden Beobachter klassisch, ein anderer quantisch; und diese Einteilung kann auf unbestimmbar viele Arten getroffen sein. Der Beobachter, aus dem die Kopenhagener und später von Neumann soviel gemacht haben, ist gar nicht der isolierte menschliche Geist; es ist ein Ensemble des Universums selbst. Auch Dieter Zeh war ja von Everetts Viele-Welten-Theorie zu einer Viele-Beobachter-Theorie vorgedrungen. Es gibt aber immer noch eine Reihe Schwierigkeiten an dieser Theorie, die nur in Zusammenhang mit anderen Fragen gelöst werden können.
Der Grundgedanke ist aber plausibel und ungeheuer vielversprechend, er hat nur ein kleines Problem: die Quantenvorgänge selbst sind ja überwiegend in Abhängigkeit von einer äusseren, klassischen Zeit beschrieben, wenn aber die Zeit, sagt Zeh, selbst emergent ist, kann sie nicht in der klassischen Zeit emergieren.
Aber das umgekehrte gilt über den Raum; warum eigentlich sollte nicht dieser emergent sein? Dann wäre, wie sich zeigen lässt, umgekehrt ein zeitartiges Verhältnis fundamental. Die Schleifenquantengravitation kannte, in Nachfolge einiger früheren Ideen der 1950er, die sogenannte Foliation der Raumzeit, das heisst ihre Zerlegung in räumliche 3-Geometrien, die wie Blätter übereinandergelegt werden mussten; eigentlich verschwindet hier die geometrische Zeit. Aber verschwindet jedes zeitartige Verhältnis? Es liesse sich genausogut denken, dass ein zeitartiges Verhältnis fundamental ist, und der Raum daraus entsteht, dass dieses Verhältnis zur klassisch beobachtbaren Zeit wird. Dieses Verhältnis ist vielleicht die Kausalität oder Kausation.
Der Anstoss zu diesen Ideen kam von Fotini Markopoulou, auch sie eine Physikerin der Schleifenschule. Beschreibbar sind sie unter zwei Voraussetzungen: erstens muss das, was man Lokalität nennt, als emergent behandelt werden können, das heisst sie muss auf ein tiefer liegendes Verhältnis zurückgeführt werden können. Lokalität ist als ein vertracktes Problem der Quantentheorie ein Begriff; und die Schleifenquantengravitation und andere haben tatsächlich Idee entwickelt, wie sich aus einer Art der Kausation die Lokalität ergibt; oder wie die Geomtrie selbst emergiert. Die räumlichen Dimensionen entstehen sich dann anscheinend aus der Art und der Wahrscheinlichkeit der möglichen Verknüpfungen von Quantenereignissen. Die zweite Voraussetzung ist aber kosmologischer Art: jedes Inertialsystem hat seine Eigenzeit, aber lässt sich so etwas auch für das Universum als Ganzes bestimmen? Anders ausgedrückt, wie verhält sich das Universum als Ganzes in der Zeit, oder in dem tieferliegenden zeitartigen Verhältnis?
Smolin meint, über die Dualität von Grösse und Zeit auf so etwas gestossen zu sein. Diese Dualität ergibt sich, sagt er, wenn man die allgemeine Relativitätstheorie gestaltdynamisch neu formuliert. Der Punkt ist schwierig zu verstehen und hat etwas damit zu tun, dass Smolin selbst zehn Jahre unter die Stringtheoretiker gegangen war. Die Möglichkeit einer universellen Zeit, sagt er, ergibt sich dann aus denselben Gleichungen, die anscheinend diese Möglichkeit ausschliessen. Aber eine solche universelle Zeit ist nicht einfach die Restauration des absoluten Zeitbegriffs vor Einstein, sie ist für keinen Beobachter innerhalb des Universums bestimmbar, sondern sie ist eine kosmologische Zeit. Es müssen ja auch die Naturgesetze, statt dass sie zeitlos sind, selbst vorgestellt werden als in etwas zeitartigem sich entwickelnd; andere Naturgesetze gelten, wie man heute vermutet, für den Beginn des Universums als in seinen späteren Entwicklungen, aber sie gehen auseinander hervor; das Naturgesetz ist nicht etwas, das dem Universum fremd gegenübersteht, man weiss nicht wie und wo; sondern sie erzeugen sich gegenseitig. Diese Gedanken sind für das Standardmodell der Kosmologie keineswegs neu, nur ihre Verbindung mit dem Zeitproblem.
Barbour, Janus Point
Barbour, ein regelmässiger Diskussionspartner Smolins, kommt auch aus der Schleifengravitation. Barbour vertritt immer noch ein zeitloses Universum, so wie auch die Idee einer völligen Realität der mathematischen Begriffe, und Smolin argumentiert viel gegen diese Ideen, von einem quasi nominalistischen Standpunkt. In diesem Buch hier beginnt sich etwas Neues zu zeigen. Er bleibt zwar auf seiner universalienrealistischen Position, aber er beginnt das Problem aufzunehmen.
Er nimmt auch die Kritik des „newtonschen Paradigmas“ auf, er fasst sie auf eine wieder eigene Weise, und wendet sie zunächst direkt auf den Entropiebegriff an. Sein Buch ist hier eine direkte Antwort auf Smolins. Entropie ist wie alles andere immer nur betrachtet worden im abgeschlossnen System. Die Entropie des Universums, sagt des Clausius berühmter zweiter Hauptsatz der Wärmelehre, strebt einem Maximum zu; aber das Universum ist kein abgeschlossnes System und kann keines sein, sagt Barbour, die Entropie auf dieser Ebene muss einen ganz anderen Charakter haben, und er gibt ihr sogar einen anderen Namen, nämlich Entaxie.
Denn was und wie gross ist das Universum? Diese Frage kann nicht unabhängig von dem Universum selbst beantwortet werden, es hat kein äusseres Mass des Raums, sowenig es ein äusseres Mass der Zeit hat. Das ist kein erfahrbarer Satz, sondern folgt aus dem Begriff. Es ist deswegen nicht ohne weiteres klar, ob es einen sinnvollen Begriff des Universums gibt. Aber noch weniger lassen sich Aussagen wie die des Clausius treffen! Das ist ein völlig unerwartetes Argument. Wie kommt er dahin?
Barbour stützt sich auf etwas, das er die relationale Beschreibung nennt. Das Mass des Universums kann nur aus der gegenseitigen Lagerung der Dinge darin bestimmt werden, die es enthält. Er nennt das relational. Dieser Gedanke ist von Leibniz gegen Newton, und später von Mach und Einstein geäussert worden, aber er ist nie vollständig zur Grundlage genommen worden; d.h. die Kosmologie ist nie selbständig als physikalische Grundtatsache in Betracht gezogen worden.
Eine Geometrie, die dem Rechnung trägt, sagt Barbour, kann nur als Gestaltdynamik angelegt werden, d.h. als eine, in der Längen und Dauer sekundär sind gegenüber den eigentlich geometrischen Verhältnissen, Winkeln usw. Eine solche gestalt-dynamische Beschreibung der Raumzeit wäre die einzige tragfähige Formulierung. Barbour nimmt dann, man weiss nicht ob nur als Bild oder doch als eine tiefere Beschreibung, das n-Körper-Problem her und untersucht es gestaltdynamisch.
Das n- oder Mehrkörperproblem ist seit Newton wiederholt versucht worden zu lösen, es sind von Euler und Lagrange wenige Lösungen für das Drei-Körper-Problem gefunden worden; später ganze Klassen von Lösungen, die aber in der Realität nie beobachtet werden. Es zeigt sich, dass ein n-Körper-System sich mit den grössten Wahrscheinlichkeiten zerlegen wird in mehrere Einzelkörper und in Zwei-Körper-Paare, deren Bewegung erst chaotisch ist, aber sich dann einem Attraktor annähert, nämlich der klassisch newtonschen Bewegungsweise. Ein Drei-Körper-System wird also einen der drei Körper ausstossen, der dann beginnt, eine gerade Linie zu beschreiben, und das verbleibende Zwei-Körper-System wird beginnen, eine regelmässige zeitliche Periode zu beschreiben. Auf diese Weise wird das System erst auf die Weise raumzeitlich, wie wir gewohnt sind Dinge zu beschreiben.
Rechnet man von diesem Zustand auf die von Barbour gegebene Weise zurück, kommt man auf einen Punkt, den Barbour Explosionspunkt nennt; die drei Körper müssen aus demselben Punkt hervorgegangen sein, und hinter diesem kann nicht zurückgerechnet werden. Man findet für den Zustand des Systems vor diesem Punkt keine rechnerische Lösung, sondern unendlich viele davon, obwohl die Bewegung insgesamt völlig deterministisch ist. In Wirklichkeit ist das System irgendwann vor diesem Punkt durch Annäherung der Körper entstanden; aber in der Rechnung ist das nicht sichtbar.
Ja noch mehr, gerade weil die Gleichungen auch Zeitumkehr erlauben, kann der ganze Prozess auch umgekehrt ablaufen, es kann also (und hier, meine Gutsten, wirds abstrakt) der Zustand vor dem Explosionspunkt genauso als ein von diesem Punkt sich wegbewegendes System verstanden werden; der Zeitpfeil kommt in das System hinein, gerade indem es sich von dem Punkt entfernt und Ordnung gewinnt. Ja, Ordnung gewinnt, so wie ein System Entropie gewinnt; das gilt gewöhnlich für das Gegenteil, aber Barbour unternimmt gerade zu zeigen, dass das für ein nichtabgeschlossnes System dasselbe ist. Und man kann nicht sagen, dass es ihm nicht gelingt.
Der scheinbare Urknall wäre also nichts weiter als ein Indifferenzpunkt eines Systems, das wir den Kosmos nennen, auch das ist ja ein Ergebnis der Schleifengravitationsschule; sie kennt auch keine Singularitäten. Und auf der Skala des Kosmos entsteht die Zeitrichtung dann durch die Zunahme von Komplexität. Diese Komplexität ist gestaltdynamisch gedeutet nichts anderes als das Eigenmass der flachen Raumzeit selbst. Diese Überlegung bietet auch die einfachste Erklärung der merkwürdigen Tatsache, wie flach, d.h. euklidisch, die Raumzeit anscheinend wirklich ist.
Das Ganze ist fürchterlich unvollständig und in keiner Weise ausgearbeitet, es ist nicht einmal eine Theorie, sondern es ist eine Intuition; aber es ist vielleicht eine mächtige Intuition, von der Sorte, wie sie in der Lage ist, der Physik eine neue Richtung zu geben. Aber es ist bei Barbour natürlich überhaupt nicht klar, was sich da bewegt; und in welcher Dimension. Es ist nur klar, welche Form diese Bewegung haben soll. Die physikalischen Eigenschaften der Raumzeit werden durch die Gesamtbewegung des Universums erst hervorgebracht, d.h. die Naturgesetze; und es gibt keinen Gegensatz zwischen den Zuständen und den Naturgesetzen, die auf diese Zustände wirken, und auch nicht zwischen den Anfangsbedingungen, von denen sie ausgehen.
Viertens
Das sind alles zunächst nur interessante Spekulationen, nichts davon enthält die Lösung selbst. Barbours Ideen berühren sich mit denen Smolins auf jeder Ebene sozusagen an einem Punkt; an allen anderen Punkten sind sie gegensätzlich, und sie sind auch aus gegensätzlichen Richtungen entwickelt, aber erkennbar entlang derselben Probleme. Die Debatte selbst hat auch erst angefangen. Sie wird sich notwendig in solch gegensätzlichen Formen bewegen. Aber es ist anscheinend etwas in Bewegung geraten, und es können heute andere Fragen gestellt werden, die vorher nicht gestellt wurden; ja, sie müssen, denn es zeigt sich, das es keinen anderen Weg mehr gibt. Diese sind welche davon. Es ist vielversprechend, aber es ist mit dieser Art Fragen nicht erschöpfbar.
Beide, Smolin und Barbour, haben hier wie anderswo auf die Rolle des nicht-formalisierbaren, der Interpretation aufmerksam gemacht; dessen, was die Gleichungen selbst nicht enthalten. Aus dieses, man kann es Prinzipien nennen oder Intuitionen, kann etwas formalisierbares gewonnen werden, das durch Experiment überprüfbar ist; aber es ist dann nicht mehr nur Interpretation, sondern eine neue Gleichung. Das ist die Art, wie neue Gleichungen gewonnen werden, aus dem, was in die Mathematik selbst gar nicht eingeht.
Für diese Art von Gedanken gibt es keine spezialisierte Wissenschaft. Man würde normalerweise an die Philosophie denken, und beide berufen sich auf diese. Die Philosophie ist heute nicht in einem Zustand, dass ihr so etwas zugetraut werden könnte. Noch mehr, über die Philosophie wissen wir etwas genaueres, was wir über die Naturwissenschaften nie genau wussten und immer nur ahnen; dass ihre Begriffe von gesellschaftlichen Begriffen abgezogen sind. Smolin und Barbour vollführen ja eine Debatte um die Realität von Begriffen; eigentlich einen eigenen kleinen Universalien-Streit, was der älteste und erfolgloseste Streit in aller Geschichte der Philosophien ist.
Smolin vertritt z.B. in der Frage der Quantenmechanik einen Universalienrealismus gegen den Nominalismus des Rovelli oder Barbour, wie früher Einstein und Schrödinger gegen die Bohr und Heisenberg; aber die umgekehrten Positionen beziehen die Beteiligten bei der Realität der mathematischen Begriffe: Barbour hält die mathematischen Gebilde für die realen Urbilder der Natur, Smolin für Figuren des Denkens, und dieser Gegensatz ist das notwendige Gegenstück zu dem ersten. Es ist ganz gewöhnlich in einem solchen Streit, dass keine der beiden extremen Positionen je rein vertreten werden kann. Aber keine Position kann die andre überwinden; die gegenseitigen Positionen bewegen sich in dieser Debatte auch nicht aufeinander zu sondern auf eine neue Lagerung des Gegensatzes, auf ein neues Modell zu, das wie es sein muss ein gemeinsame Produkt der sich ausschliessenden Ideen wäre. Diese verändern sich zu neuen Ideen; sie geben sich dabei nicht auf, der nicht hintergehbare Gegensatz bleibt erhalten.
Es ist ihnen auch vollkommen klar, dass das, was sie treiben, eigentlich experimentelle Metaphysik ist, sie sprechen es auch, soweit ich weiss als erste, aus. Man freut sich daran, aber was sie nicht ahnen, ist die gesellschaftliche Grundlage der Metaphysik.
Wenn man z.B. über die Eigenzeit des Universums als Ganzem redet, oder wie die oxforder Schule über eine Wellenfunktion des Universums als ganzem redet, worüber redet man dann? Welcher Beobachter könnte denn das eine oder das andere berechnen oder messen? Keiner, natürlich, aber wozu sind sie dann gut? Sie sind denknotwendig, wenn man Quantentheorie und Relativitätstheorie zusammenbringen will. Ist, oder ist nicht, diese Frage vorgeformt von der Frage, ob die Gesellschaft eine von den Einzelwesen gesonderte Existenz hat, und welche? Oder man sage Gott statt Gesellschaft, es ist das gleiche, und man findet die historischen Vorgänger besser. Diese Frage beherrscht das menschliche Denken seit tausenden Jahren und formt alle seine Begriffe. Wie ist diese Frage denn beantwortbar, solange die Gesellschaft eine solche gesonderte Existenz wirklich hat und keine andere?
Es wird in der Physik endlich wieder zugegeben, dass sie eine metaphysische Grundlage hat. Aber es wird in der Philosophie noch nicht begriffen, dass die Metaphysik eine gesellschaftliche Grundlage hat. Ohne Gesellschaftserkenntnis wird kein gerader metaphysischer Satz formuliert werden können, und ohne das wird die Physik ein Rätsel bleiben. Eine Kritik von der Art, wie Sohn-Rethel sie begonnen hat, könnte hier weiterhelfen; aber sie müste selbst wieder in Stand gesetzt werden. Castoriadis hat eine Ahnung entwickelt, wie die begriffliche Trennung von Raum und Zeit mit dem Zustand der Gesellschaft zusammenhängt; mit ihrer Unfähigkeit, sich selbst als Urheberin ihrer eignen Geschichte zu begreifen, so dass ihr ihr realer Zustand und ihre ständige Veränderung zu getrennten Dingen auseinanderfallen.
Die Wissenschaft redet zwar unter Raum und Zeit von exakten und äusseren Realitäten; aber sie tut es unter dem Nebel von Begriffen, deren Grundlegung sie nicht kennt und nie untersucht hat. Es fehlen ihr dazu auch noch die Voraussetzungen. Ist von einem neuen Anlauf in der Physik Besserung zu erwarten? Immerhin ist zu sehen, es ist manchmal fast mit Händen zu greifen, dass Smolin und vor allem Barbour auf Intuitionen zurückgreifen, die von der Physik hundert Jahre lang vernachlässigt worden sind. Ein Fortschritt ist immerhin möglich. Aber eine gründliche Lösung wird nicht von zwei oder drei kleineren Schritten erhofft werden können. Die Schwierigkeiten des physikalischen Denkens sind nicht einfach technische Fragen, sie sind keine anderen Schwierigkeiten als die des gesellschaftlich menschlichen Denkens auch. Was diesem antinomisch ist, ist es auch jenem. Und in dem alten Gang geht es nicht weiter, soviel zeigt sich.
jfi