Teil II der Artikelreihe (Teil I hier)
Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, Ffm. Suhrkamp 1976, insbes. III.3, S. 132 ff.
Erdmut Wizisla: »Krise und Kritik (1930/31). Walter Benjamin und das Zeitschriftenprojekt«, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin, Leipzig 1992, S. 270-302.
1. Es gibt derzeit keinen marxistischen Begriff von der Krise, es gibt stattdessen eine fast unüberschaubare Menge an Krisentheorien, für jede der marxistischen Schulen eine. Jede davon strebt danach, um der Unverwechselbarkeit willen, ihre Krisentheorie möglichst an einem leicht zu identifizierenden Umstand innerhalb der kapitalistischen Totalität festzumachen. Keine davon kann Anspruch erheben, die Totalität der kapitalistischen Krise darzustellen, auch nicht einen Aspekt davon, denn auch alle zusammen ergäben das noch nicht, abgesehen davon, dass sie sich nicht vertragen.
2. Die einzelnen Umstände der Ökonomie sind miteinander nicht fester verbunden als mit anderen Umständen, die wir nicht ökonomisch nennen würden. Anders gesagt, die Einheit dessen, was wir Ökonomie nennen, besteht nur im Begriff, nicht in der Sache. Keine marxistische Schule kann einen Begriff von der Krise der Totalität erreichen, d.h. einen materialistischen Begriff der Krise.
Anm.: Das ist keinerlei Rechtfertigung dafür, von der ökonomischen Krisentheorie die Hände zu lassen, insbesondere nicht dafür, so zu tun, als gäbe es „bei Marx“ oder in der Realität allerhand Krisen, die alle mehr oder weniger nichts zu sagen haben. Oder als hätten die Krisen „bei Marx“ und die in der Realität nichts miteinander zu tun. Die ökonomischen Begriffe von der Krise sind bei den Marxisten in grosse Unordnung geraten, weil ihr Verhältnis zu den wirklichen Krisen nicht verstanden wird. Man kann aber diesen Satz nur behaupten, wenn man dieses Verhältnis wirklich aufzeigen kann. Natürlich kann man zwar keine der marxschen Begriffe von der Krise idealtypisch rein in freier Wildbahn antreffen, aber wenn man sie in der wirklichen Welt gar nicht mehr wiedererkennen kann, kann mans mit Marx eigentlich ganz bleiben lassen. Man wird sich dann nur vielleicht ziemlich schnell schwer tun mit den allerhand anderen Ideen über die Krise.
3. Die konservative Kritik (z.B. Koselleck) arbeiten mit einem Begriff der Krise, der rein metaphyisch bleiben muss. Sie zeichnet ein Bild der Krise der alten Welt, das z.B. mit der Aufklärung beginnt, aber diese Krise bleibt in ihrem Verlauf entweder rätselhaft, oder bekommt erschlichene Evidenz durch gröbliche Verzeichnung. Sie ist nichtsdestoweniger, oder gerade deswegen, wirkungsmächtig. Und schlimmer, die marxistischen Schulen haben dem bisher nichts auf derselben Ebene entgegenzusetzen gewusst (nehmen wir die Frankfurter aus, deren orthodoxer Marxismus überall verkannt wird). Ihr eigener Begriff der Krise operiert unterhalb des Niveaus der konservativen Schulen. „Nous approchons de l’etat de crise et du siecle des revolutions“: die materialistische Kritik, wenn sie zu einem angemessenen Begriff der Revolutionsgeschichte kommt, würde es mit beiden leicht aufnehmen können.
Anm.: Koselleck ist seinerzeit bekannt geworden mit einer „Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“, immerhin unter dem Namen „Kritik und Krise“, die auch heute noch einen gewissen Einfluss ausübt. K. ist unehrlich genug, seinen eigenen Standpunkt gar nicht als „Kritik“ zu bezeichnen, anders als Bruno Bauer, von dessen Arbeiten nach 1848 er in vieler Hinsicht abhängig ist. Er schiebt den Begriff „Kritik“ der Gegenseite zu, dem Liberalismus und Radikalismus, und schreibt dieser den Untergang der so schönen absolutistischen Welt zu. Es lohnt sich, festzuhalten, dass es diese Welt nicht gab. Er arbeitet eigentlich Schmitts rechtshistorisches Konstrukt zu einer Kritik der Aufklärung aus. Nur im allerletzten Teil, III. 3., kommt er auf die Sache selbst zu sprechen, nämlich auf die reale Antinomie im Kern des Staats. Er nimmt sich dazu dieselben Stellen von Schmitt, wie es Bruhn getan hat. Es lohnt sich, diesen Teil einmal zu lesen. Die Marxisten arbeiten nach wie vor unterhalb dieses Niveaus. Die konservativen Ideologen sind bis heute keinen Schritt darüber hinausgekommen. Man hat heute die Mittel, sie aufzurollen.
4. Der materialistische Begriff der Krise ist nicht von einem einzelnen Umstand des Systems bestimmt, dem etwa abgeholfen werden könnte, sondern von dem Gesamten einer falsch zusammengesetzten Totalität. Sie hat aber weder aus den ökonomischen Krisen die Krisen irgendeines Teilbereichs abzuleiten, noch hat sie den ökonomischen Begriff der Krise durch einen anderen, vermeintlich weitergehenden metaphysischen zu ersetzen. Die Erscheinungen des „Überbaus“ lassen sich aus der Ökonomie nicht glatt ableiten, aber ebenso aus einander. Die bestehende Gesellschaft hat nicht ein vernünftiges beschreibbares inneres Prinzip. Der Begriff ihrer Gesamtheit selbst lässt sich nirgendwoher ableiten, es sei denn aus dem Gegenbild einer als „durchsichtig vernünftiges Verhältnis“ eingerichteten Gesellschaft.
5. „‚Kritik‘, indem sie dialektisch das ganze Stoffgebiet in eine permanente Krise umdenkt, … löst also fertige Werke in unfertige auf“ (Brecht). Der Materialismus kann die Dinge nicht als gesellschaftliche Züge einer bestehenden, konstiutierten Gesellschaft zu betrachten, sondern als ungesellschaftliche Züge einer noch nicht konstituierten. Er hat es nicht mit einer unwandelbaren, auf feste innere Prinzipe gegründeten Gesellschaft zu tun, sondern mit einer, deren Gründung fehlgeschlagen ist. Die abstrakte Alternative: Zerstörung oder Verbesserung der bestehenden Gesellschaft hat also keine Macht über ihn.
6. An dem Projekt „Krise und Kritik“ von Brecht und Benjamin lässt sich ein grundsätzliches Problem der materialistischen Kritik festmachen. Es hatte sich das stolze Ziel gesetzt, „die Krise auf allen Gebieten der Ideologie…festzustellen oder herbeizuführen.“ Es sollte aber „kein proletarisches Blatt, kein Organ des Proletariats“ sein, sondern eines, in dem „die bürgerliche Intelligenz sich Rechenschaft … gibt“ über ihre Lage in der „kritischen Grundsituation der heutigen Gesellschaft“. Brecht hat sich genauso wie Breton zu Recht dagegen gewehrt, dass die Intellektuellen so tun, als ordnen sie sich der Arbeiterklasse ein oder unter; sondern er forderte, dass sie das, was sie besitzen, eigenständig und aus eigener Nötigung in den Dienst der Revolution stellen. Aber die Nötigung, die aus der Lage der Intellektuellen kommt, ist die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Formen, die Intellektuelle benötigt. Kritik, die daran gebunden ist, wird niemals zur Krise sich radikalisieren.
Anm.: Sohn-Rethel z.B. war ja fasziniert davon, dass Ökonomen wie Schmalenbach die integrierten Stahlwerke für unverträglich mit dem Privatkapitalismus erkannten; was für Schlüsse haben die Ökonomen daraus gezogen? Die Organisation der Produktion, die die Schmalenbachs wünschten, war 1933 möglich geworden. Benjamins interessierte sich für Schmitt auch deswegen, weil dieser ja auch eine Krise aussprach. Da haben wir den Salat; es führt kein Weg dran vorbei, alles nochmal genauer anszuschauen.