Lesenswertes Papier auf anarchismus.de:
Zum Verständnis des gesellschaftlichen Kontexts, in dem die gegenwärtigen Aufbaubemühungen eines klassenkämpferischen Anarchismus stattfinden, ist der von der US-amerikanischen Feministin Nancy Fraser geprägte Begriff des „progressiven Neoliberalismus“ gut geeignet. Fraser versteht darunter eine Politik, die einerseits das klassische neoliberale Programm der Privatisierung öffentlichen Eigentums, der Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und der Umverteilung von unten nach oben vorantreibt, es andererseits aber versteht, sich ein „progressives“, auf „Diversität“ und „Gleichberechtigung“ bedachtes Image zu geben. …
In Deutschland wurde der progressive Neoliberalismus zum ersten Mal mit der rotgrünen Schröder- Regierung hegemonial, die Hartz-4 einführte und einen der ausgeprägtesten Billiglohnsektoren Europas schuf, zugleich aber zum „Aufstand der Anständigen“ gegen rechts aufrief, sich zum Multikulturalismus bekannte und sich die Gleichberechtigung der Geschlechter auf die Fahnen schrieb….
Auf der anderen Seite wurde in Teilen der linksradikalen Szene materialistische Kritik immer mehr durch moralistische Kritik ersetzt, wodurch sie sich dem Diskurs des progressiven Neoliberalismus von Rotgrün angenähert haben. Sie sind letztlich zu wenig mehr als Anhängseln der ideologischen Staatsapparate geworden, die viele Projekte der Herrschenden der letzten Jahre faktisch unterstützt und sich dabei nur ein wenig radikaler gebärdet haben….
Eine verrückte Situation – aber wahrscheinlich ist es gerade diese Konstellation, die den jüngsten Aufschwung des klassenkämpferischen Anarchismus begünstigt hat. Im Zuge der Pandemie und des Ukraine-Kriegs hat sich allgemein das Gefühl verbreitet, dass die Welt, wie wir sie kennen, äußerst zerbrechlich geworden ist und mit jeder neuen Krise näher an den Abgrund rückt. Die derzeitige Teuerung stellt den größten Angriff auf unsere Lebensbedingungen seit Jahren dar und könnte dabei nur ein Vorgeschmack auf künftige Verarmung sein. Breiter Widerstand von unten wäre da notwendiger denn ja, aber zugleich haben wir eine vom Liberalismus durchdrungene radikale Linke, die weniger denn je in der Lage scheint, dafür Impulse zu geben. …
Die Freiheit der Rede ist keine Szeneangelegenheit. Sie ist eine Grundvoraussetzung jedes Kampfes um Befreiung. Soziale Bewegungen der unterdrückten Klasse brauchen unbedingt Orte, an denen es möglich ist, sich ungehindert über politische Interessen und Perspektiven zu verständigen, wo Widersprüche produktiv ausgetragen und auch einmal scheinbar „dumme Fragen“ gestellt werden dürfen, wo Leute nicht verurteilt werden, weil sie ein ungeschliffenes Vokabular verwenden. Wo all dies nicht möglich ist, entsteht ein Klima der Einschüchterung und des Konformismus und das ist Gift für jede emanzipatorische Bewegung.