Akkumulation und Krise

als Vorbereitung zu einem neuen Anlauf

1. Die materialistische Beschreibung der kapitalistischen Akkumulation hat zu ihrem Kernstück die Lehre von der Profitrate im dritten Band des Kapitals. Diese Beschreibung ist von den Marxisten so gut wie nicht rezipiert worden, sondern nach Belieben ergänzt, ersetzt oder zur Unkenntlichkeit verdorben, unter dem Vorwand, sie wäre unvollständig. Dabei ist sie so vollständig, wie man es sich nur wünschen kann; sie eignet sich nur nicht zu einer Herrschaftswissenschaft. Sie hat Grundannahmen, die nicht zu Unrecht als metaphysisch kritisiert worden sind; das heisst, ist „wahr“ nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen.

2. Die Marxisten haben die Untersuchung der kapitalistischen Preisform völlig missverstanden. Zum Beweis bezeichnen sie sie als „Transformation der Werte in Preise“. Hier transformiert sich in Wahrheit gar nichts, und weil sie das bemerken, haben sie sich neue Rechenmethoden ausgedacht, wie man diese Transformation trotzdem zuwege bekommt. Aber hier soll gar nichts transformieren, sondern hier soll gezeigt werden, was die kapitalistische Preisbildung mit der Ausbeutungsbeziehnung macht. Man stelle sich mehrere Sektoren der Ökonomie vor, die ihre Produkte gegeneinander austauschen. Sie unterscheiden sich nach dem Grad, in dem sie menschliche Arbeit durch Maschine ersetzen. Zuletzt berechnen sie ihre Preise, nach ihren Kosten plus der allgemeinen Profitrate. Daraus folgt zwingend: der höher maschinisierte Sektor eignet sich unter der Form des gewöhnlichen Profits einen Teil des Mehrwerts an, der im geringer maschinisierten Sektor erzeugt worden ist.

Anmerkung: Hierin ist in perspektivischer Verkürzung alles enthalten, was diese Produktionsweise ausmacht. Alle Marxologie, die an diesem Punkt achtlos vorbeigeht, ist in Metaphysik zurückgefallen. Umgekehrt ist der Versuch, diesem Raisonnement die Metaphysik auszutreiben, zum Positivismus verurteilt (siehe später über Sraffa). Der Anschein der Metaphysik kommt daher, dass die Materie gesellschaftlicher Herrschaft in die Formen der Ökonomie eingewickelt ist. Sie dort herauszuwickeln, ist eine grundlegend anti-metaphysische, d.h. materialistische Arbeit, zu der man die Probleme der Metaphysik allerdings verstehen und als elementar gesellschaftliche Fragen benennen können muss.

3. Ob diese Sätze „richtig“ sein können, hängt allein davon ab, ob den Begriffen Mehrwert, Wertgrösse, Wertsubstanz irgendeine „gegenständliche Realität zukommt.“ Hier liegt der Angelpunkt an der marxischen Lehre. Diese Begriffe sind nur andere Namen für das Wesen des Reichtum aller bisherigen Gesellschaft: Herrschaft über das gesellschaftliche Arbeit, d.h. über gesellschaftliche Praxis. „Ausbeuten und Herrschen sind ein- und dasselbe“ (Bakunin), der Hauptsatz an der Kritik der politischen Ökonomie und ihre ganze Pointe. Diese Pointe ist diese, dass der Gegenstand der ökonomischen Betrachtung selbst keine bloss ökonomische Tatsache ist, sondern eine gesellschaftliche. Wenn das nicht verstanden ist, bleibt vom Marxismus nur eins von beidem: entweder ein umständlicherer Weg zur Neoklassik, wie ihn z.B: Sraffa gegangen ist. Oder die mystische Annahme, dass die Bewegung der Waren beherrscht wird nicht einfach von ihren Preisen, sondern von einem obskuren System von „Wertgrössen“, die hinter den Preisen einerseits komplett verborgen sind, andererseits aber selbstständig wirkend neben sie treten. Diese Mystik ist längst der neoklassischen Kritik verfallen (Samuelson), statt dass der Marxismus die Neoklassik in die Krise bringt. Und zwar völlig unnütz: denn niemand ausser der eigne Unverstand hat die Marxisten geheissen, solchen Blödsinn zu denken.

4. Die Marxisten haben früh aufgehört, diese Dinge zu verstehen. Manche sagen, sie haben sie nie verstanden. Sie haben stattdessen angefangen, die Kritik der politischen Ökonomie zu verhunzen. Sie haben Ende des 19. Jahrhunderts einen anscheinend neuen Zustand vorgefunden, den sie in der so beschriebenen Gesellschaft nicht mehr erkennen mochten. Wenn sie Recht hatten, war die marx’sche Lehre widerlegt und musste aufgegeben werden. Sie haben das aber nicht offen ausgesprochen. Stattdessen haben sie neue Elemente eingefügt („Monopole“), die das „Wertgesetz“ wiederum auf eine andere Weise „modifizieren“, so dass sich die vorgefundene Realität beschreiben liess. Es liesse sich damit aber jede andere Realität beschreiben, ohne sie zu begreifen; und vor allem ist damit das „Wertgesetz“ eigentlich beseitigt, es verliert jede Erklärungskraft und wird nicht mehr benötigt. Von der Lehre Hilferdings und Lenins an haben alle diese Marx-Verbesserungen die Sache immer schlimmer gemacht. Sie haben erstens den Nachteil, dass sie viel mehr zusätzliche Annahmen (bewegliche Teile) erfordern; diese Annahmen können und müssen bei Bedarf jederzeit modifiziert werden. Sie haben zweitens den Nachteil, dass sie dazu neigen, den ursprünglichen Ansatz der Kritik der politischen Ökonomie durchzustreichen oder auszuhöhlen.

5. Rosa Luxemburg hat es als einzige unternommen, den neuen Zustand, den Imperialismus, als den Marx’schen Begriffen selbst zu beschreiben. Das Unverständnis, auf das ihre Arbeit gestossen ist, gibt genau das Mass ab, in dem die Marxisten Marx nicht mehr verstanden haben. Dass Rosa Luxemburg Recht hatte, heisst also nicht, dass Marx „modifiziert“ werden müsste. Im Gegenteil haben ihn die modifizieren müssen, die mit Rosa Luxemburg nicht einverstanden waren. Das „Geheimnis der Akkumulation“ hat Rosa Luxemburg nicht entdeckt, es ist wahr; sie hat es nur als letzte beschrieben. Dieses Geheimnis hatten die „Marxisten“ die ganze Zeit unter der Nase und haben es nicht erkannt.

Anmerkung: Das zwanzigste Jahrhundert hat die marxistischen Begriffe derart auf den Hund kommen lassen, dass auf den Namen „Luxemburg“ reflexhaft von „Unterkonsumtionstheorie“ gefaselt wird. Dieser stehen säuberlich sortiert die „Überproduktionstheorien“ und die „Überakkumulationstheorien“ gegenüber. Man sieht es der säuberlichen Sortierung an, dass sie auswendig gelernt ist, und zwar aus einer Literatur, die für Leute geschrieben ist, die nicht begreifen, sondern auswendig lernen wollen. 95% der marxistischen Literatur sind verdummender Müll.

6. Die kapitalistische Produktionsweise ist nicht alt, sie hat keine tiefen historischen Wurzeln, keine „kulturell“ bestimmte Vorgeschichte. Sie kommt nicht aus der britischen Landwirtschaft (trotz Smith und der Brenner-Debatte), ihre Entstehung beruht nicht auf der Dampfmaschine, und sie ist nicht aus Freihandel und Marktwirtschaft entstanden und erst später zu Schutzzoll und Imperialismus entartet. „Warum“ sie an einem bestimmten Ort entstanden ist und nicht an einem anderen, ist banal. Sie ist in den 1780ern in England entstanden, weil sie wegen einer politischen und weltwirtschaftlichen Anomalie sich auf einmal lohnte, und vorher nicht. Diese Konstellation hätte genausogut auch bloss voräbergehend sein können. Ob so etwas vorher schon ausprobiert worden ist, wissen wir nicht; wenn ja, hat es keine identifzierbaren Spuren hinterlassen. Die ersten kapitalistischen Fabrikanten haben mit billiger Arbeit, mit billigen Maschinen auf billigem Boden Textil hergestellt, das schlechter, aber billiger war als jedes andere. Die britische Macht in Indien hat durch ihre Zollpolitik einen Markt dafür geschaffen. Die Ware war nur dadurch so billig, dass sie die eingesessene indische Weberei vernichtet hat. Erst ein halbes Jahrhundert später haben diese Fabrikanten angefangen, moderne Maschinen anzuschaffen, darunter den Watt-Motor. Damit erst dehnt sich die kapitalistische Produktionsweise auf eine andere Branche aus, nämlich den Maschinenbau. Gleichzeitig drückte sie das ruinierte Bengalen zum Agrarland und Exporteur billigen Rohstoffs herab. Damit erst beginnt sie, ihre eigenen Voraussetzungen zu produzieren, und zeigt an, dass sie nicht nur vorübergehend da ist. Das ist der historische Hintergrund, ohne den kein Wort des „Kapital“ verstanden werden kann, und der vollkommen vergessen worden ist.

7.
Schlechtes britisches Tuch, weil es billiger war, verdrängte besseres indisches Tuch vom Markt. Nicht nur das, es warf auch höhere Profite ab, obwohl es billiger war. Dabei war weniger menschliche Arbeit darin vergegenständlicht. Die Fabrikanten realisierten also einen weit höheren Profit, als sie an Mehrwert hatten produzieren lassen. Im Vergleich tauscht sich also eine Stunde menschlicher Arbeit in dem einen Gewerbe (und dem einen Land) gegen mehr als eine Stunde menschlicher Arbeit in einem anderen Gewerbe (und einem anderen Land) aus. (Man könnte auch sagen: kommandiert mehr als eine etc.) Von diesem Sachverhalt gehen alle logischen und philosophischen Spitzfindigkeiten des „Kapital“ aus, und ebenso alle Widerlegung der klassischen Ökonomie, die sich keinen Reim darauf machen konnte. Die so erzielten Profite ermöglichte eine Gesellschaft, wie es sie nie vorher gegeben hatte: die ökonomischen Träume des Aufklärungszeitalter gingen auf eine Art in Erfüllung, in der es sie selbst nicht wiedererkannt hätte. Es hatte zwar eine allgemeine Profitrate postuliert, das Band, das das Gemeinwesen der freien und gleichen Besitzenden zusammenhält, aber es hatte selbst gar keine gekannt, und wusste auch nicht, wie es dazu kommen sollte.

Anmerkung: Der Gegensatz zwischen der historischen und der logischen Lesart des „Kapital“ gehört der metaphysischen Wiederaneignung des Marxismus an. Sie ist ein Axiom des neueren Hegel-Marxismus der „Neuen Marx-Lektüre“. Diese Schule ist so gut wie jede andere marxistische Schule, d.h. weit unterhalb des Niveaus ihres Gegenstands. Jede dieser Schulen wird so lange bestehen wie das gesellschaftliche Bedürfnis, das sie erfüllt.

8.
Zwischen den kapitalistisch und den vorkapitalistisch produzierenden Branchen findet das selbe Verhältnis statt wie zwischen einem kapitalistisch und einem vorkapitalistisch produzierendem Land, nur dass im letzteren Fall eine Aussenhandelsbilanz dazwischentritt. Die Ausgleichung der Profitraten, die unter der Gewerbefreiheit notwendig eintritt, umfasst nur jeweils dasselbe Land. Eine internationale Profitrate bildet sich nicht. Die Aussaugung des arbeitsintensiveren Sektors, der Grundstoff- und Agrarproduktion, durch den höher technisierten verstetigt sich deshalb. Innerhalb der herrschenden Ökonomie zerstört die steigende Profitrate die Betriebe und Sektoren, die diese Profitrate nicht tragen können. In der beherrschten stösst die niedrigere Profitrate Investitionen ab. Der Wechselkurs und die Kaufkraftdifferenzen ergeben sich aus diesem Verhältnis und verstetigen es. Die Profitraten der einzelnen Nationen zeigen an, an welcher Stelle sie im internationalen Ausbeutungszusammenhang stehen. Seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters zeigt sich eine vollständige Revolution der Preise, zu Lasten der grundstoffproduzierenden Sektoren und zu Gunsten der Fertigwaren. Diese Verschiebung zeigt das Mass der Unterwerfung des einen Sektors unter den anderen, Voraussetzung und gleichzeitig Folge des spezifisch kapitalistischen Ausbeutungssystems. Die Mehrwerte des unterworfnen Sektors werden realisiert als Profite in dem herrschenden. Diese Gedanken sind ebenso einfach wie marxisch; die gegenwärtige Realität lässt sich mit ihnen vollständig abbilden. Voraussetzung ist allerdings, dass man den Inhalt dieser Begriffe vom Reichtum nicht vergisst: wir reden von Herrschaft, sie ist der Inhalt der ökonomischen Formen.


Anmerkung: Engels hat irgendwo bemerkt, dass keine marxistische Partei ein vernünftiges Agrarprogramm zustandegebracht hat, mit Ausnahme einer kleinen französischen. Die landwirtschaftliche Ahnungslosigkeit der Marxisten ist ihnen als einziges dauerhaft geblieben. Sie sind nie zu einer Idee vorgedrungen, was die kapitalistische Produktionsweise für die vorkapitalistischen Branchen bedeutet. Der heutige Seminarmarxismus bildet sich ein, mit dem Bd. I und dem Mehrwert schon das Ausbeutungsverhältnis in der Tasche zu haben; alles andere ist Geschwätz über eine „Totalität“, von der sie nicht wissen können, womit sie sie füllen sollen. Sie sind schlechte Operaisten: ihre Gedankenwelt besteht nur aus der Fabrik, aber selbst die kennen sie nur aus der Theorie. Die Gesellschaft ist ihnen mit dem Kapital deswegen fugenlos identisch, so dass es ihnen gar kein Rätsel mehr aufgibt, was es wohl heissen soll, dass die kapitalistische Produktionweise in einer Gesellschaft „vorherrscht“. Sie wissen mithin alles und wundern sich über gar nichts.

9.
Das kapitalistische Verhältnis hat zuerst von der Textilindustrie auf die Maschinenbau-Industrie übergegriffen, an der wiederum andere Zweige hingen, z.B. Kohle und Stahl. Später kamen Chemie und Elektor dazu und in den 1950ern Auto, Petroleum und Mikroelektronik. Das ist, was unter Langen Wellen oder Kondratieff-Zyklen gemeint ist. Ein solches Übergreifen ist nicht selbstverständlich. Es setzt voraus erstens grosse Profitmassen, die zweitens im bisherigen Sektor nicht gewinnbringend angelegt werden können; es setzt weiter voraus technische Möglichkeiten, die bestehen, aber bisher nicht produktiv genutzt werden. Vor allem aber setzt es voraus, dass das ganze System der gesellschaftlichen Bedürfnisse neu konfiguriert werden kann. Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise z.B. zerstört ganze Branchen, ganze Teile der Gesellschaft, wie die indische Weberei; sie kann aber nur expandieren, wenn es gelingt, die Trümmer sich wieder zu assimilieren, z.B. die Nachkommen der Weber zu Baumwollanbauern herabzudrücken und ihnen fertige Textilien für ihren Rohstoff zu verkaufen. Der Übergang zum Auto zeigt sehr deutlich, dass die Voraussetzung für einen neuen, profitablen Zyklus die vollständige Umkonfiguration der Gesellschaft ist, allein damit sie das neue Produkt aufnehmen kann. Gelingt das nicht, dann reicht auch die schönste neue Technik nicht aus, um das Sinken der Profitraten in den bestehenden Sektoren auszugleichen. Und nichts garantiert, dass es gelingt.

10.
Es hat seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters keine „Systemalternative“ gegeben. Namentlich der sowjetische Sozialismus zeigt sich bei näherem Hinsehn als rein kapitalistisches System, mit dem Staat als Kapitalisten. Unter Lenin ist dies auch zugegeben worden. Der „sozialistische Aufbau“ unter Stalin folgt der Maxime Preobrazhenskys, dass die sozialistische Akkumulation mit den Bauern genauso umzuspringen habe wie die Briten mit Indien. Das sowjetische System, und alle, die ihm folgten, haben gezielt und gesteuert nachvollzogen, was den Briten schon ebenso gezielt und gesteuert das Kaiserreich Japan nachgemacht hatte. Das sowjetische Modell fällt unter den kapitalistischen System nicht weiter auf; es gibt nichts darüber zu sagen, was nicht für den Kapitalismus insgesamt gilt. Von den einfachen marxischen Begriffen aus gibt es hier gar kein Vertun. Und genau deshalb, weil sie das auf gar keinen Fall verstehen wollen, haben die heutigen Marxisten keine Chance mehr, diese einfachen Begriffe noch zu verstehen oder je wieder zu lernen. Oder aber man fängt von vorne an.

Anmerkung: Die „marxistische“ Literatur über die Sowjetunion besteht zur Hälfte aus absichtlichen Mystifikationen, und zur anderen Hälfte aus Unwissen. Diese beiden Elemente sind ein fast untrennbares Amalgam eingegangen. Das schönste Anschauungsbeispiel ist die Literatur über Trotzki. Man kann Jahrzehnte mit dieser Literatur verbringen, ohne jemals zu erfahren, warum die Anhänger Trotzkis nach 1929 scharenweise „kapitulierten“: weil Stalin angefangen hatte, ihre Politik umzusetzen. Rein der idealistischen Mondkalbs-Phantasie der Gymnasiasten entstiegen sind auch die Dinge, die man über den „Sozialismus in einem Land“ erfährt; hier wird getan, als hätte man es um einen Konflikt zwischen trauriger Realität und erhabenen Idealen zu tun statt ganz ordinär um eine Fortsetzung der Luxemburg-Debatte, die bekanntlich um die Frage ging, ob ein Land wie Russland Industrieland werden könne, ohne Kolonien zu haben.

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