Über den Nutzen des Staates

1. Der Staat als Befreier ist eine Illusion immer gewesen, die Befreiung in den Staat hinein ist bürgerliche Utopie. Die Notwendigkeit, über den Staat hinaus zu kommen, ist unter den Radikalen auch der Alten Revolution nie ganz vergessen worden. Es hat sich aber kein Weg gefunden, weil die Grundlagen der Gesellschaft nicht angetastet wurden, die des Staats bedarf: das Vaterrecht an der Familie, und das private Eigentum.

Anmerkung. „Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören“. Aus diesen Zeilen spricht ehrliche Naivetät. Der Staat behandelt die Menschen als sein Material. Die neueren Bürgerkriege geben einen Aufschluss darüber. Das Entsetzen darüber wird heute kaum angemessen zum Ausdruck gebracht, und wenn, dann in doktrinaler Verzerrung. Gelogen wird heute aber meistens durch Weglassen.

2. Die klassenlose Gesellschaft ist eigentlich im Staat unmöglich, der Staatskommunismus nichts als die vollendete Negation des einzelnen Menschen. Er ist selbst eine auf die Spitze getriebne Form der bürgerlichen Utopie, oder sogar einer älteren, die so alt sein mag wie der Staat selbst.

3. In der Arbeiterbewegung sind wirklich Formen gefunden worden, die über den Staat hinausweisen, und zwar von dem Flügel, der sein Heil nicht mehr vom Staat erwartet.

Anmerkung.
Für die Arbeiterbewegung vor der Sozialdemokratie ist der Schlachtruf der Lyoner Arbeiter von 1831: „Arbeitend leben oder kämpfend sterben!“ genauso relevant wie die Prinzipien der Pioniere von Rochdale 1842. Sie lebt und stirbt auf dem Grat zwischen Umsturz und Selbsthilfe. In dieser der offiziellen Linken völlig unleserlichen Geschichte ist ein genaueres Wissen davon zu finden, was die Gesellschaft ist und wie sie anders werden soll, als in allen theoretischen Arbeiten. Wiederentdeckt werden kann sie nur von ihresgleichen.

4. Die Revolutionen nach 1917 hatten als ihren unmittelbaren Gegenstand den Übergang zum modernen Staat. Dieser Satz bedeutet nichts anderes, als dass alle Revolutionen als Arbeiterrevolutionen gescheitert sind. In keinem Land, in dem dieser Übergang schon vollzogen war, hat es je eine erfolgreiche Revolution dieses Typs gegeben; aber genug Anläufe, dass man die Richtung kennen kann.

5. Spätestens seit 1968 ist die Idee der Befreiung in den Staat hinein bankrott. Keine revolutionäre Partei hat sie je wieder vermocht in den Dienst zu nehmen. Wo es versucht worden ist, ist es zu Zwecken der Konterrevolution versucht worden.

6. Die Frage, wie man über den Staat hinaus kommt, stellt sich heute unmittelbar; nicht wegen der Stärke der revolutionären Idee, sondern wegen ihrer Schwäche und wegen des Fehlens jeder anderen Perspektive.

7. Damit ist der Staat aber noch nicht am Ende. Im Gegenteil führt er ein anderes, zweites Leben. Die Staatenlosigkeit, die Schutzlosigkeit des nackten Lebens, tritt grell dort hervor, wo ein Staat nicht besteht.

8. Die gespaltene Weltgesellschaft hat keinen Platz für Menschen, sondern nur für Staaten. Ohne den Staat hat der Mensch nichts, was ihm einen Platz in der Welt vermittelt. Die von Staaten, dh. Monstern regierte Welt macht, wie es Feuerbach sagt, dass der einzelne Mensch eigentlich kein Mensch ist, sondern erst im Staat Mensch ist, ja eigentlich nur der Staat wirklich Mensch ist.

9. Der Kampf um Bürgerrechte ist deswegen noch lange nicht erledigt. Die kurdische, die palästinensische und die jüdische Frage stellen diese Realität, die einmal überholt schien, handgreiflich dar.

Anmerkung.
Dem jüdischen Staat ist über Jahrzehnte die Normalität verweigert worden. Die Staatenlosigkeit der Palästinenser ist eine direkte Folge davon. Die Zustände im ehemaligen Mandatsgebiet Palästina sind ein genaues Abbild des Zustands der Weltgesellschaft. Über Ausrottung, Vertreibung etc. wird keinen geraden Satz sagen können, wer die Lage Israels nicht als Ergebnis der Ausrottung und Vertreibung der Juden aus Europa und dem Mittleren Osten begreifen will.

Der naive Antizionimus träumt in einer Welt nach Auschwitz von einer Welt vor Auschwitz, als die Sonne der allgemeinen Befreiung noch unaufhaltsam am Horizont aufzusteigen schien. Er hat heute seinen Schwerpunkt in der angelsächsischen Welt und in der Linken, wo man sich am gründlichsten darüber täuscht, wie sehr dieser Universalismus gescheitert ist, nur ist die rote Sonnenaufgang des Ostens übergegangen in den ewigen Mittag einer bürgerlichen Welt ohne Geschichte.

Der gewaltsam im Zustand der Nicht-Normalität gehaltene Staat dient als Blitzableiter für alle die Greuel, die einem bei den anderen Staaten nicht mehr auffallen wollen; und deshalb haben alle bestehenden Staaten und ihre frommen Untertanen ein Interesse an diesem Zustand. Denn das Reden über diesen Staat schliesst das Schweigen über die Greuel der anderen ein. Die jüdische Frage und in der Folge die palästinensische wird offengehalten von allen bestehenden Mächten und von einer Weltgesellschaft, die unwillens und unfähig ist, ihre Geschäfte selbst zu ordnen. Der Schatten des Dritten Reichs liegt nach wie vor über dieser Welt. Die Revolution wird und muss eine sein gegen die ebenso rassistische wie antisemitische Ordnung der Welt und gegen die selbstzufriedne Gewissheit ihrer Bürger.

10. Es gibt heute lediglich reformistische Versuche, das Dilemma aufzulösen, dass eine Befreiung in den Staat hinein undenkbar, aber das Bürgerrecht an einem Staat unabdingbar ist.

Anmerkung.
Soweit z.B. der „demokratische Konföderalismus“ erfolgreich ist, ist er nicht revolutionär; er ist aber wertvoll als Einspruch gegen die verdinglichte Auffassung von Nation und Staat. Die Probe auf seinen Nutzen wäre die Anwendung auf den Palästina-Konflikt. Lässt sich eine Palästina-Solidarität denken, die für Bürgerrechte der Palästinenser in jedem Staat, unter dessen Gewalt sie leben, eintritt? Kann die regionale Berufung, die die PKK den Kurden zuschreibt, auch für die palästinensische Nation gedacht werden: nämlich in allen Staaten, in denen sie lebt, für Demokratisierung, Dezentralisierung und regionale Zusammenarbeit einzutreten? Kann sie sich also, mit einem Wort, den Platz in der Freiheitsgeschichte des Mittleren Ostens wieder erobern, den sie nach dem Verrat an der ersten Intifada verloren hat? Sie müsste dazu allerdings die Erbschaft derer liquidieren, die diesen Verrat begangen haben, allen voran die Fatah und die Hamas.

11. Gemeinsam ist allen ernstzunehmenden Versuchen, dass sie den Staat nicht als ein Versprechen betrachten, sondern ein Übel; dass sie jede Organisation nur als Verteidigungsmassregel gegen die wirklich politischen Mächte betrachten, zu denen die scheinrevolutionären gehören. Voraussetzung jedes neuen Anlaufs ist vollkommene Illusionslosigkeit in jedes Versprechen von oben und Vertrauen einzig in die gegenseitige Selbsthilfe in direkter Aktion.

12. Zuletzt aber bleibt alles halb, ehe nicht die Stunde schlägt, „wo die Räte auftreten und befehlen“ (Situationistische Internationale).

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