Über „Identitätspolitik“

1. Wir benutzen das Wort „Identitätspolitik“ nicht gerne, weil wir nicht genau wissen, was es bedeutet. Das liegt nur zur Hälfte an unserem erschreckenden Mangel an Bildung. Zur anderen Hälfte liegt es daran, dass es niemandem gelungen ist, amtlich zu erklären, was es bedeuten soll; namentlich unter denjenigen, die sich für Identitätspolitik erklären.

„Identitätspolitik“ gehört zu den vielen Wörtern, die im politischen Denken der heutigen Gesellschaft herumflattern, die keine vernünftige Definition kennen, die alles bedeuten können und auch das Gegenteil, und die insgesamt eher zur Verwirrung beitragen als zur Klärung. Es ist vermutlich kein Zufall. Jeder Begriff, den diese Gesellschaft oder ihre Bestandteile zur Selbstbeschreibung verwendet, teilt diese Unklarheit.

Deswegen benutzen wir solche Begriffe nach Möglichkeit nicht. Das materialistische Wörterbuch hat bisher noch jedesmal genauere Begriffe angeboten, für deren Inhalt man sich nicht auf die Ehrlichkeit der Leute verlassen muss, die man mit ihnen bezeichnet. Ob diese materialistischen Begriffe richtig verwendet werden, erkennt man daran, dass sie Wirkung haben, d.h. Klarheit erzeugen, wo vorher keine war; und einen gegebenen Zustand als unhaltbar offenlegen, der vorher ertragen worden ist.

Falls dem Materialismus einmal solche Begriffe ausgehen, und erst dann, wird man ihn als widerlegt ansehen dürfen.

2. Was auch immer „Identitätspolitik“ einmal geheissen hat, in den letzten 10 bis 15 Jahren ist das Wort zu einem Anzeiger für das Denken einer verwalteten Welt geworden. Sie ist heute nirgendwo mehr eine Waffe in den Händen der Unterdrückten, sondern in den Händen derjenigen, die das Recht beanspruchen, zu entscheiden, wer reden darf und wer schweigen muss.

Niemand unter den Unterdrückten hat diese Macht. Wer ist denn unter den Unterdrückten ihre authentische Stimme? Sie werden ja nicht alle zufällig genau das gleiche denken. Es werden aber nicht alle gleichermassen gehört, sondern nur diejenigen, deren Stimmen Gehör verschafft wird. Von wem? Von denen, die diese Macht haben.

Nehmen wir die Palästinenser. Spricht die PFLP und ihr Umfeld, Samidoun usw., ingesamt der völkische Flügel der palästinensischen Linken für diese? Oder sind es eher Leute wie z.B. Hamza Howeidy? Diese Frage ist für einen Materialisten absurd, weil er nie auf den Gedanken käme, ihnen eine und nur eine Stimme zuzurechnen. Selbstverständlich gibt es verschiedene politische Linien in der palästinensischen Politik, und sie sind auf den Tod verfeindet wie überall sonst.

Für wen also ist dieser Gedanke nicht absurd, sondern sogar selbstverständlich? Für diejenigen, die beanspruchen, in ihrem Namen zu handeln, und die sich deshalb eine Vollmacht ausstellen lassen müssen. Sie müssen sich natürlich diejenigen heraussuchen, die bereit sind, ihnen diese Vollmacht zu erteilen. Die anderen sind natürlich Verrätesr, „tokens“, keine „echten“ Palästinenser, weil sie nicht denken und reden wie „echte“ Palästinenser.

Und das heisst nichts anderes als: man gesteht den Unterdrückten eine und genau eine Weise zu, was sie zu denken und wovon sie zu reden haben. Halten sie sich daran, werden sie immerhin gehört. Halten sie sich nicht daran, werden sie ignoriert. Es bedarf dazu gar keiner ausdrücklichen Entscheidung oder überhaupt einer aktiven Handlung, sie existieren einfach nicht, und was sie sagen, kommt nicht in Betracht.

Im Grunde geschieht hier, wenn auch nur auf der Ebene der Illusion, dasselbe, was imperiale Politik tut: für ein unterworfenes Gemeinwesen wird eine genehme Führung eingesetzt.

3. Tut „Identitätspolitik“ heute irgendwo etwas anderes? Gelegentlich müssen „Identitätsgruppen“ erst definiert werden, aber welche anerkannt werden, der Grad ihrer relativen Unterdrückung im Vergleich untereinander, und wer für sie spricht, das alles wird nicht von Unterdrückten entschieden, sondern von denen, die die Macht dazu haben. (1) Die Ausübung dieser Macht ist nichts anderes ist als eine Einmischung in die Willensbildung der Unterdrückten, und ihr Ziel ist jedesmal das gleiche, nämlich eine genehme Führung zu installieren.

Der Nutzen für die interpretierende und verwaltende Klasse ist gross. Er sichert ihnen ihre Legitimation, nämlich die Fortdauer ihres Anspruchs, jedes Übel der Gesellschaft und die Weise seiner Abhilfe bestimmen zu können.

Für die Gesellschaft insgesamt und für die gesellschaftliche Bewegung läuft die Fortdauer dieses Zustands darauf hinaus, den unterdrückten Klassen jede Möglichkeit der Selbstbestimmung zu nehmen. Alle ihre Belange werden bisher von den interpretierenden Klassen verwaltet, d.h, bewirtschaftet. Die interpretierende Klasse hat an einer Veränderung nicht das geringste Interesse. Je weniger sie in der Lage ist, die Probleme auch nur zu verwalten, desto aggressiver muss sie reagieren auch nur auf den Versuch, sie ihnen aus den Händen zu nehmen.

Was also in jedem Falle in Grund und Boden verwaltet werden muss, ist jede Art des nicht vorschriftsmässigen Denkens unter den Unterdrückten.

„Identitätspolitik“ ist heute die Form, in der die verwaltete Welt gegen unvorhergesehene Gedanken vorgeht. Sie ist daher beliebt bei den verwaltenden Klassen und denen, die es gerne wären, bis hinunter zu den Bewegungsbürokraten und den Ein-Mann-Zentralkomittees, d.h. den „linken“ Intellektuellen.

Sie haben die Welt gern übersichtlich. Was wahr und was falsch ist, ist ihnen im Kern egal, so wie es dem Verwaltungsvollzug von je her gleichgültig gewesen ist.

Alle zusammen wachen sie über die am weitesten vorgeschobene Befestigung des Feinds, das vorschriftsmässige Denken. Diese Befestigung muss und wird umgangen werden, erst dann werden andere Dinge möglich sein.

Anmerkungen

1
Sie streiten es natürlich ab. Sie werden sagen: nein, im Gegenteil jede unterdrückte Gruppe entscheidet über die Umstände ihres Kampfes selbst, und was eine unterdrückte Gruppe ist, weiss nur die unterdrückte Gruppe selbst. Diese Sätze sind völlig zutreffend, indem sie den historischen Prozess, beschreiben, der bekanntlich in Abwesenheit eines Schiedsrichters abläuft. Dass sie es aber nicht so meinen, zeigt sich, wenn man sie bittet, diese Sätze auf den Zionismus anzuwenden.

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