Aus Landauers „Revolution“ (1907)

Unsere den Durchschnitt übersteigende Landauer-Expertise gebietet uns vorauszuschicken, dass es sich beim „Essay“ um „Discours de la servitude volontaire(1574) von Étienne de la Boétie handelt.

Schließlich aber ist zu sagen: sind die Revolutionen zusammenfassende und vorausgehende, auch immer wiederkehrende Mikrokosmen, so ist dieser Essay der Mikrokosmos der Revolution. Er repräsentiert den Geist, von dem wir sagen, dass er Geist ist nur in der Negation, da er aber in der Negation Geist ist: die Ahnung und der noch nicht auszusprechende Ausdruck des Positiven, das heraufkommt. Dieser Essay verkündigt, was in andern Sprachen später Godwin und Stirner und Proudhon und Bakunin und Tolstoj sagen werden: In euch sitzt es, es ist nicht draußen; ihr selbst seid es; die Menschen sollten nicht durch Herrschaft gebunden sein, sondern als Brüder verbunden. Ohne Herrschaft; An-archie. Aber das Bewusstsein fehlt oder ist kümmerlich entwickelt, dass es heißen muss: Nicht durch Herrschaft, sondern –. Wohl ist die Negation dieser empörten Naturen erfüllt von Liebe, die Kraft ist, aber doch nur in dem Sinne, wie Bakunin es prachtvoll gesagt hat: Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Lust. Wohl wissen sie, dass die Menschen Brüder sind; aber sie glauben, sie seien es schon wieder, wenn die Hemmnisse und Gewalten entfernt sind. In Wahrheit sind sie es nur während der Zeit, in der sie die Hemmnisse und Gewalten bekämpfen und heben. In Wahrheit lebt der Geist nur in der Revolution; aber er kommt nicht zum Leben durch die Revolution, er lebt nach ihr schon wieder nicht mehr. Sie werden sagen wollen: ja, wenn die Revolution einmal ganz siegreich sein wird; wenn nicht mehr das Alte, eben Bekämpfte sich wieder aufrichtet. Das ist so, wie wenn einer klagen wollte: wenn ich meine Träume festhalten und in Erinnerung und bewusstem Schaffen starr machen und gestalten könnte, wäre ich der größte Dichter. Es liegt in der Tatsächlichkeit und so im Begriff der Revolution, dass sie wie ein Gesundfieber zwischen zwei Siechtümern ist; ginge nicht die Mattigkeit voraus und folgte nicht die Ermattung, so wäre sie gar nicht. Ganz etwas anderes, oder: noch etwas anderes dazu als Revolution ist nötig, damit ein Bleiben und ein ganzes, bleibendes Weitergehen über die Gestaltungen der Menschen kommt. Denn wir wissen jetzt, wie das Wort weiter zu sprechen ist: Nicht durch Herrschaft, sondern durch Geist; aber es ist noch nicht viel damit getan, dass wir den Geist rufen; er muss über uns kommen. Und er muss ein Gewand und eine Gestalt haben; er hört nicht auf den bloßen Namen Geist; und niemand lebt, der sagen kann, wie er heißt und was er ist. Diese Erwartung ist es, die uns ausharren lässt in unserm Übergang und Weitergang; dieses Nichtwissen ist es, das uns der Idee folgen heißt.

Und was folgt ist, wenn nicht der vernünftigste, dann auf jeden Fall einer der vernünftigsten Sätze, die unsere Literatur überhaupt vorzuweisen hat:

Denn was wären uns Ideen, wenn wir ein Leben hätten?

Auch nur ein Satz und bloß ein Gedanke,  der Adorniten wie uns selbst unglücklich stimmen kann. Doch alles andere, zumindest das meiste, ist nur Geröll und nichts als Geröll. Und nein, mit diesem Satz wird nicht ein angeblich gedankenfreies, dumpf-biologisches Leben angepriesen.

– spf

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