Es waren die sog. roten Grüppchen, die am Ende der von uns allen kläglich verlorenen „Corona-Zeit“ und nach der Eskalation des Krieges der Russländischen Föderation gegen die Ukraine (nein, das ist nicht der „ukrainische Krieg“) versuchten, Proteste gegen die Lebensmittelpreiserhöhungen und Inflation zu inszenieren. Nachdem sie festgestellt haben, es sei deutlich schwieriger als angenommen, haben sie dieses Unterfangen kommentarlos fallen lassen. Kein Vorwurf an dieser Stelle: es ist tatsächlich nicht einfach, die Empörung wie das sprichwörtliche richtige Klassenbewusstsein „von außen“ in die Klasse hineinzutragen. Sagen wir mal: es ist genau so unmöglich, wie es unmöglich ist, den Führern der Arbeiterklasse in Wartestellung diesen Sachverhalt zu begreifen. Besonders in Sachen Ernährung / Versorgung, denn sie lässt sich nur schwer boykottieren. Andere Lösungen sind für Leute mit patentierten Führungsansprüchen erstmal nicht sichtbar.
Verebbt sind die Diskussionen über „systemrelevante“ Berufe, obwohl wir klar mit unseren eigenen Augen gesehen haben, welche das sind sind und welche eher nicht so. Es wird bis zur nächsten Krisenzuspitzung weiter so gehen. Wer ist hier noch mal „relevant“? Der Brauer, der Wirt? Der Biertrinker? Die Wahl des Getränks ist eine Klassenfrage, das wissen sogar die studierten KämpferInnen gegen den „Klassismus“.
Am 1. April 1910 trat in Bayern das Malzaufschlaggesetz in Kraft, wonach ab 15. Mai das Braumalz höher besteuert werden sollte. Die Brauereien erhöhten mit Bezug auf diese Steuererhöhung den Bierpreis ab 1. Mail. Am 26. April schrieb das Schweinfurter Tagblatt: „Wir leben in einer Zeit der Aufregung über die von den Bierbrauern für notwendig erklärte, vielen Biertrinkern verhasste Bierpreiserhöhung“.
Der Gesetzgeber, der Bayerische Landtag, beabsichtigte mir dieser Steuererhöhung die Konsumenten zu belasten, an die die Brauer über die Flaschenbierhandlungen und Gaststätten die Kostenerhöhung durchreichen sollten.
Die Aufregung der Biertrinker war nicht verwunderlich, angesichts der Bedeutung der Bier- und Gaststättenkultur für die unteren Klassen der Bevölkerung und der organisierten Arbeiter des Kaiserreichs.
Alkohol und insbesondere Bier waren Grundnahrungsmittel für männliche Arbeiter, aber auch für Frauen und heranwachsende Jugendliche, somit wesentlicher Bestandteil der oft kargen Nahrungsmittelversorgung. Bier mit seinem hohen Brennwert und seinem günstigen Preis, gemessen an den niedrigen Einkommen der Familien, bildete eine erschwingliche und bitter notwendige Ergänzung der Ernährung. (…) Die Gaststätte als Treffpunkt im Dorf fand ihre Entsprechung in der vom schwierigen sozialen Umfeld geprägten Industriestadt. (…) Ohne Bier, ohne Arbeiterkneipen wäre der Erfolg der Arbeiterbewegung in der Gestaltung sozialstaatlicher Politik und in der Durchsetzung demokratischer Verhältnisse in Deutschland nicht denkbar gewesen.
Um die Preiserhöhungen durchzusetzen, war am 31. März die Gründung eines Verbandes der Brauer aus Schweinfurt und Umgebung vorausgegangen, dem alle Brauereien beigetreten waren. Am 13. April tagte in der Gaststätte „Bötsch“ in Werneck eine Versammlung der Gastwirtsinnung mir Abordnungen aus Schweinfurt, Würzburg und Arnstein. Die anwesenden Brauer wiesen Vorschläge der Gastwirte zur Abwendung der Preissteigerung zurück und zeigten kein Entgegenkommen.
Mit einer Zeitungsanzeige setzte sich eine Boykottkommission , bestehend aus Gastwirten und Vertretern der organisierten Arbeiterschaft, an die Spitze des Bierkriegs. (…) Sie erklärten: „Die organisierte Arbeiterschaft hat ab 1. Mai jeden Biergenuss zu meiden und soll das übrige Publikum durch Inserate, Flugblätter und durch eine am Montag 25. April abends 8 Uhr im Saalbau stattfindende Volksversammlung aufgefordert werden, das Gleiche zu tun“. Der Hauptredner jener Versammlung, Gewerkschaftssekretär H. Gasteiger, verwies aus das katholische Zentrum und die konservativen Abgeordneten im Bayerischen Landtag, die die Getränke der unteren Klassen verteuern wollen. Er argumentierte mit den Dividenden der Aktienbrauereien, deren Höhe eine Kompensation des Malzaufschlages in den Kosten der Brauereien zulasse. Weil das Brauhaus Schweinfurt pro Hektoliter eine Mehrbelastung von 1,56 Mark zu tragen habe, fehle der Preiserhöhung von 2 Mark eine ausreichende Begründung.
Zur Durchsetzung des Boykotts forderte die Boykottkommission alle Flaschenbierhandlungen und Gaststätten auf, den Verkauf von Bier vollständig einzustellen oder den erhöhten Preis von 30 Pfennigen pro Liter zu verlangen. Bei Zuwiderhandlung wurde ein Besuchsboykott angedroht. (…)
Die Auseinandersetzung hatte sich derart zugespitzt, dass Wilhelm Söldner, Bürgermeister von 1897 bis 1919, als Schlichter angerufen wurde. Am 21. Mai 1910 veröffentlichte das Schweinfurter Tagblatt das Ergebnis einer Verhandlung unter Vorsitz des Hofrates: „Brauer und Wirte einigten sich über die von den Wirten zu zahlenden Bierpreise. Angesichts der Höhe der Steuern kam man zu der erkenntnis, dass in den Wirtschaften das Bier nicht unter 26 Pfg. pro Liter verzapft werden könne. Bei dieser Sachlage erfolge die Aufhebung des Bierboykotts und soll eine auf Montag anberaumte Versammlung dies beschließen“. (…)
Die Vereinigung der Brauer hatte sich mit ihrem Preisdiktat durchgesetzt. Wie die Bierkonsumenten, insbesondere die organisierte Arbeiterschaft, das Ergebnis bewertete, bleibt unbekannt. Aus den unzähligen Auseinandersetzungen und Streiks in der Zeit bis 1914 wissen wir, dass die meisten Kämpfe verloren gingen. Insofern dürfte sich die Enttäuschung in Grenzen gehalten haben.
In Oberbayern hat es indes beim sog. Dorfener Bierkrieg ordentlich gescheppert – mit Ausschreitungen und Brandstiftungen.
Die Schweinfurter Historikerin Gisela Notz resümiert lakonisch:
Heute ist der Bierpreis Privatsache.
Aus: „Wilhelm Wehner. Anarchist, Syndikalist, Antimilitarist, Freigeist und Naturfreund“, Hrg. Initiative gegen das Vergessen Schweinfurt, 2025