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Der bei weitem direktere Modus des Bezugs dieser Schichten zum Land und zur Landwirtschaft ist natürlich der Konsum „biologischer“ Nahrunsgsmittel. Die individualpsychologischen Gründe dieses Konsumverhaltens sollen hier nicht untersucht werden. Seine soziale Funktion aber ist der eines Status-Markers der Mittelschichten, zur Abgrenzung nach unten; nach oben ist die Abgrenzung, so unglaublich es bei Körnerfressern klingt, durchlässig.
Man kann hier natürlich differenzieren und wird im Idealfall bei einer ähnlichen Unterteilung herauskommen wie oben: es gibt die exklusivere Kundschaft, die man an Meinungen erkennt wie, dass der Fleisch- und Wurstkonsum der unteren Schichten natürlich ungesund und insgesamt Zeichen eines schlechteren Menschen sei, nicht jedoch der Verzehr von handmassiertem Kobe-Rind. Dann gibt es das Milieu, das wir gestört bürgerlich nennen, man findet es z.B. in Vollkornbäckereien beim Kauf von Körnerbrötchen mit regionalem Bio-Kümmel. Die unteren Ränge, die gerne alternativ wären, aber sich vom Dünkel der Bourgeoisie abgestossen fühlen, weil sie ahnen, dass er sich auch gegen sie richtet, halten sich an „ihre Solawi“; während die Aufsteiger, die an Ökofrass ausdrücklich nur wegen des Prestiges interessiert sind, Discounter-Bio kaufen.
Man muss bei allen diesen Leuten mindestens aus methodischen Gründen Vorsatz unterstellen, das heisst einen Anflug von Bewusstsein über ihre Stellung in der internationalen „Arbeitsteilung“, d.h. ihres wirklichen Parasitismus. Dann kann man dieses Konsumverhalten entschlüsseln als eine halbbewusste Weise, dieses Bewusstsein zu kommunizieren. Die Ideologiekritik ist hier die Voraussetzung der Klassenanalyse.
„Bio“ ist eine Nische und wird es bleiben. Erstens: der Marktanteil kann sich nur ins untere Preissegment hinein vergrössern, das heisst um den Preis allgemein sinkender Erzeugerpreise. Zweitens: man geht als Erzeuger in „Bio“, wenn es sich rentiert. Wenn zuviele das tun, verfallen ebenfalls die Preise, und man geht wieder hinaus. Die Sache hat also einen distinkten Zyklus.
Drittens: das Wachstum des Segments Discount-Bio entspricht dem Markteintritt, grosser, stark mechanisierter Höfe. Die bewirtschaften eine gleich grosse Fläche und d.h. beschäftigen jahresdurchschnittlich ungefähr soviel Arbeitskraft wie 10 Höfe vor 50 Jahren, also sagen wir 50 bis 100. Möglich sind solche Verhältnisse nur, wenn es entweder osteuropäische Wanderarbeiter gibt, oder aber ein verfestigtes landwirtschaftliches Proletariat wie früher in Ostelbien.
Für das erste gibt es nicht die Unterkünfte. Gegen das zweite spricht, dass gerade diese Sorte Arbeitskraft historisch für den Verbrauch des städtischen Systems mobilisiert worden ist. Die Sache kann also gar nicht anders als auf dem jetzigen Fusse funktionieren: Produktion für eine gehobene Nische, ermöglicht durch Ausbeuterpraktiken von beinah systemwidriger Niedertracht.
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Schauen wir uns das Phänomen „Solawi“ einmal an. Es steht für „Solidarische Landwirtschaft“. In der Schweiz nennt man es regionale Vertragslandwirtschaft und kommt damit der Sache schon näher, ohne die Backen so aufzublasen. Dass die Backen aufgeblasen wird, ist immer ein schlechtes Zeichen. Man kennt heute wenig Wörter, die so deutlich dazu da sind, anästhesierend zu wirken, wie „solidarisch“. Wer ist denn da mit wem solidarisch?
Es handelt sich um eine Einrichtung, die das Marktrisiko anders aufteilt und damit Preisnachlass realisiert. „Solawi“ liefert Produkte meistens ein Stück billiger als im Bioladen, dafür wird das Vermarktungsrisiko auf die Abnehmer umgelegt. Es ist eigentlich ein Abo auf eine Gemüsekiste.
Sehen wir aber vom Marktrisiko ab, bleibt trotzdem beim Produzenten nicht viel mehr. Man schneidet teilweise die toten Kosten des Einzelhandels ab, wie man auch soll, aber faktisch wirkt es wie eine Lebensmittelsubvention für Leute, die „Bio“ und „regional“ essen wollen, aber dafür so wenig wie möglich zahlen. Das soll kein Vorwurf sein, aber es ist jedenfalls nicht eine Perspektive für eine andere Landwirtschaft, für eine Verbreiterung der biologischen Produktion, und kein Element einer Lebensgrundlage für Produzenten wie Konsumenten in ihrer Masse.
Der Trick bei allen genossenschaftlichen Strukturen ist die Skalierbarkeit. Sie müssen auf grösserer Skala besser funktionieren statt schlechter. Ich wage die Prognose, dass jede heutige Solawi auf grösserer Skala immer instabiler laufen würde statt stabiler, und zwar aus inneren kaufmännischen Gründen; während gleichzeitig das Modell, von seiner stofflichen Seite, die grösstmögliche Skala erfordern würde, um Nahrungsmittelsicherheit usw. zu gewährleisten. Diese Skala wird es aufgrund seiner inneren Begrenzung nicht erreichen.
Die beiden Seiten, die an solchen Experimenten teilnehmen, sind für uns trotzdem von Interesse. Man darf unter diesen Leuten zumindest den ernsthaften Wunsch nach etwas Besserem vermuten, wenn auch verdeckt durch eine allzubegierige Bereitschaft, sich mit etwas schlechterem zufriedenzugeben und sich freiwillig zu belügen.
Sehen wir uns die Produzentenseite an. Das sind oft tapfere und aufrechte Leute mit praktischem Sinn und klarem Verstand. Sie sind aber gewöhnt, als ihre Verbündeten nicht ihre Mitbauern anzusehen, sondern ihre Abnehmer, das heisst eigentlich ihre Klassengegner. Das ist ein absonderliches Verhalten, das sich nur zu einem Teil erklärt durch den allgemein bekannten Umstand, dass Bauern nie zusammenhalten. Den Rest der Erklärung muss man in der grünen Ideologie suchen.
Ein guter Proxy für dieses Spektrum ist z.B. der sehr kleine Verband AbL, Aktionsbündnis bäuerliche Landwirtschaft. Beim AbL konnte man bei den Bauernprotesten vor einigen Jahren folgende Auskunft hören: also Strassenblockaden, Demos mit Traktoren in den Städten usw., das sei doch viel zu krass. Man sei doch gerade in Verhandlungen mit der Regierung, man könne doch nicht protestieren, während man verhandelt.
Diesen Ton kennt man als Gewerkschafter, aber die Wendung: man vertraue ganz auf diese oder jene kompetente Personen im Ministerium, das wären Leute mit einem offenen Ohr usw., das markiert jedenfalls ein Mass an politischer Verdorbenheit, das man selten zu hören bekommt. Gut, das ist ein paar Jahre her, und an den neuesten Protesten hat sich das AbL immerhin zähneknirschend beteiligt. Es hat aber dabei die Gelegenheit genutzt, den Schwerpunkt ihrer Beteiigung auf die alljährliche Demo der Bio-Lobby („Wir haben es satt“-Bündnis) zu legen, die zufällig währenddessen stattfand; eine völlig sterile Übung.
Das AbL ist die bloss idealistische Interessenvertretung des äussersten linken Rands der Bauernschaft, es ist deshalb verdientermassen ohne jeden Einfluss und faktisch bloss ein Rad im Getriebe der grünen Politikmaschine. Um eine materielle Vertretung dieser Interessen zu werden, müsste sie mit dieser Maschine vollkommen brechen.
Die Aufgabe war, den Völkischen die Bauern auszuspannen, und nicht die, sich dafür zu entschuldigen, dass man sich an der Bewegung überhaupt beteiligt. Die Aufgabe war, die Führung zu übernehmen. Dieses Ziel klingt natürlich vollkommen lächerlich, wenn man es an den wirklichen Verhältnissen und vor allem am Stand des Bewusstseins der Akteure misst. Dass es real erreichbar ist, wird sich spätestens dann zeigen, wenn sich seine völlige Verfehlung bitter rächt. Die, die im Moment den Schlüssel besitzen, wissen ihn nicht zu benutzen, oder wissen nicht, dass es ein Schlüssel ist oder dass es ein Schloss gibt. Sie hoffen darauf, dass eine aufgeklärte Obrigkeit es einigermassen richten wird, und sie haben keinerlei Lust darauf, das unterste zu oberst zu kehren.
Sie versuchen ihre Nische zu schützen, sie unternehmen kaum einen Versuch, etwas gegen die Misere zu tun, die diese Nische nötig macht. Sie hätten sich mit den Aktivsten in der Bauernbewegung zusammenzutun und sie zu übertreffen; sie hätten aus ihrer eigenen Praxis Forderungen in die Bewegung zu tragen wie:
– Wiederbelebung, wenn nötig Neugründung der bestehenden landwirtschaftlichen Genossenschaften; gemeinsame Organisation des Absatzes, Umgehung des Einzelhandels, genossenschaftliche Zusammenfassung der Kundschaft; Orientierung auf die Kundschaft, die auf den Preis schauen muss, statt auf die Besserverdienenden;
– Organisation und Verteidigung der Autonomie des ländlichen Raums, ausgehend von dem Grundsatz, dass das Land dem gehören soll, der es bestellt; Gründung von Bodengenossenschaften, um agrarisches Land der Spekulation und Zweckentfremdung zu entziehen;
– Ende der verzerrenden Subventionen, die Grossbetriebe begünstigen, die die Preise für alle drücken; nach Möglichkeit Ende der Subventionen überhaupt;
– Ersetzung aller Vermarktungslabels (Bio etc.) durch von der Bauernschaft selbst nach Sachgesichtspunkten aufgestellten Kriterien des Pflanzenschutzes. Einführung bzw. gemeinschaftliche Erprobung neuer Anbaumethoden, neuer Feldfrüchte und Sorten; Überprüfung der Ergebnisse der letzten Flurbereinigung nach Gesichtspunkten wie Erosion, gegebenenfalls Neuanlage von Terrassierung, Gehölzen, Gewässern usw.
– Genossenschaftliche Unterstützung der Eigenproduktion und Subsistenzproduktion, Erhaltung von Fähigkeiten und Anlagen, Weitergabe und Neuerwerb von Kenntnissen.
Das wäre etwa der Spirit, den es bräuchte. Eher friert natürlich die Hölle zu.
8.
Solange die grosse ökonomische Konstellation bleibt, wie sie die letzten Jahrzehnte war, werden solche Massnahmen nur agitatorischen Wert haben. Aber die Konstellation ändert sich bereits.
Die Industrieausfuhren machen Agrar- und Halbfertigimporte billig. Das ist der Deal, und das ist, was den ganzen Laden scheinbar selbsttragend macht. Das heisst übrigens, dass der Grundkonflikt einer solchen Gesellschaft nicht einfach der zwischen Kapitalbesitzern und Lohnabhängigen ist, wie sich das die sozialdemokratisierte Linke vorgestellt hat, sondern auch einer zwischen den Sektoren. Und in diesem Konflikt stehen die agrarischen Klassen teilweise auf derselben Seite der Gleichung wie die Agrarländer des Südens. Genau deswegen stehen sie zu ihnen meistens in einem Verhältnis giftiger Konkurrenz, weil sie natürlich versuchen müssen, Teil der nationalen Beutegemeinschaft zu bleiben.
Man kann ohne dieses seltsame Verhältnis nichts von der Klassengesellschaft und dem Welthandel verstehen, nichts von der kapitalistischen Produktionsweise und rein gar nichts davon, wie man sie aus der Welt schafft.
Die inländischen Bauern sind früher vom Protektionismus der EG einigermassen geschützt, und ihre Landwirtschaft ist kontrolliert abgeschafft worden, man hat ihnen den Ausstieg vergütet durch die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs ihrer Kinder. Was man nicht geschafft hat, ist eine dauerhafte Grundlage für den übrigbleibenden Rest der Landwirtschaft zu schaffen. Die Betriebe, die für die bisherige Konstellation gerade gross genug sind, sind meistens derart fremdkapitalisiert, dass sie, sobald die Konstellation sich ändert, auf einmal kopflastig, sogar unrentabel werden können.
Geraten die Industrieausfuhren in die Krise, kann das zwei wahrscheinliche Folgen haben, nämlich leichte Erhöhung der agrarischen Erzeugerpreise und Erhöhung der Kapitalkosten. Je nach dem Verhältnis dieser Erhöhungen kann das die heutige, durch jahrzehntelange bewusste Politik herangezüchtete Landwirtschaft unrentabler machen als die bisher unrentablen Kleinbetriebe. Auf diesen Aufruhr ist im Moment niemand vorbereitet.
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Wir sind gar nicht für die „sozial-ökologische Transformation“. Wir sind für die Herrschaft der arbeitenden Klasse.
Die Politik, die vom linken Flügel des Establishments getrieben wird, ist nicht ein kleiner, unvollkommener Schritt in eine generell richtige Richtung. Sie ist die Fortsetzung des Ausbeutungssystems, ergänzt um nackte Klientelpolitik für diejenigen Klassen, die es sich leisten können, vor ihren Folgen behütet zu sein.
Die diese Politik treiben, sind keine Verbündeten, auch nicht gegen den anderen Flügel des Establishments. Sie werden im Gegenteil, wenn man sie lässt, sich in jede Auseinandersetzung hineindrängen, um ihre eigenen Interessen unterzubringen. Diese Interessen sind von der Art, dass sie alle anderen Interessen ausschliessen. Sie haben niemanden im Unklaren gelassen, dass es nach ihnen zu gehen hat und nach niemandem anders. Sie werden, wenn der Tag gekommen ist, finden, dass sie stattdessen vollkommen alleine dastehen.