Dieser Text stammt aus dem Oktober 2015. Er wird nunmehr hier eingerückt, da das nächste Heft noch auf sich warten lässt.
von Vince O’Brien
Kannst du mir in wenigen Sätzen erklären, was gerade passiert? Das bin ich gefragt worden. Gemeint war die Situation der sog. Flüchtlingskrise. Nein, das kann ich nicht erklären. Ich meine sogar, dass der Versuch, solche Dinge zu erklären, d.h. aus einer überschaubaren Menge von Ursachen abzuleiten, in den sicheren Wahnsinn führt.
Die sog. Flüchtlingskrise ist viel zu eng, fast untrennbar verwoben mit der syrischen Krise, mit der institutionellen Krise der EU, mit der Krise der politischen Klasse in Deutschland; diese drei Krisen wiederum mit der griechischen, der ukrainischen und der Krise der amerikanischen Aussenpolitik. Von hieraus geht es noch weiter, kein Glied kann ohne jedes andere Glied der Kette beschrieben werden; die politische Krise nicht ohne die ökonomische Krise, die nach 2008 keineswegs zu Ende ist, sondern ihrem Maximum erst noch zustrebt; und die ökonomische nicht ohne die politische, kein Sektor ohne den anderen, keine Weltgegend und keine Klasse ohne die andere. Was wir vor uns haben, sind die Umrisse einer Weltkrise, die immer erst noch ihren Anfang nimmt.
Deren Verlauf können wir allerdings beschreiben, und Folgerungen aus dem Befund ziehen. Auch das ist aber nicht in wenigen Sätzen zu machen. Man muss sich wenigstens eine kleinere Reihe von Erscheinungen auf ihre Parellelen hin ansehen, um zu wissen, mit was für einer Zeit man es zu tun hat.
1. Nehmen wir Situationen wie Moabit oder die vielen hastig errichteten Zeltstädte und Notunterkünfte. Und es kommt in keiner Weise darauf an, ob der Staat in den heissesten Augusttagen wirklich nicht die Ressourcen verfügbar hatte, um den Menschen vor dem Langesgesundheitsamt von Berlin wenigestens Wasser auszuteilen. Der Staat mit seinen Nachrichtendiensten kann nicht tun, als hätte ihn der Andrang von Menschen überrascht, die ja schlecht aus der dünnen berliner Luft sich materialisiert haben können; gerade sowenig, wie er überrascht tun kann, dass es im August zweierlei Dinge gibt, Hitze und urlaubsbedingte Unterbesetzung. Derlei Dinge kommen genau so überraschend wie Geburtstage.
Es ist entscheidend, zu wissen, ob man es mit Unfähigkeit oder Kalkül zu tun hat. Aber gerade hier, fürchte ich, kommt man nicht ohne Schwierigkeiten weiter. Der Staat kann natürlich diese Situation provoziert haben, um seine restriktive Asylpolitik durch den manipulierten Eindruck einer überbordenden Flüchtlingsflut zu legitimieren. Das Kalkül wäre dann so, wie es vor Rostock 1992 gewesen sein mag: die absichtliche Verwahrlosung der Flüchtlinge, ihre augenfällige Aussonderung, gibt an die rassistischen Banden das Signal zum Losschlagen, zum wiederum staatlich geduldeten Pogrom
Aber gerade so ist es nicht gekommen. Nach Moabit kam Heidenau. Und in Heidenau ist das, was gerade noch die Ausmasse von Rostock 1992 anzunehmen schien, auf massiven Druck der Antifa abgebrochen worden. Wenn es gewollt gewesen wäre, hätte man die Antifa 2015 genauso aus der Stadt drängen können wie 1992; versucht hat man es. Aber offensichtlich ist dazwischen der Plan geändert worden.
Geändert aber nicht so gründlich, dass man etwa sagen könnte, der Plan des Staates bestünde etwa darin, den gesellschaftlichen Widerstand gegen Einwanderung in den Arbeitsmarkt zu brechen. Solche Theorien gibt es nicht nur bei Elsässer, sondern auch in gewerkschaftlichen Kreisen. Dazu aber hat in Heidenau der Staat, vertreten durch den Innenminister von Sachsen, eine viel zu schlechte Figur gemacht. Um das „Gewaltmonopol des Staates“ zu sichern, fiel ihnen nichts besseres ein, als nach der ersten Pogromnacht einen, in Worten: einen Wasserwerfer hinzustellen, der in der zweiten Nacht nur symbolisch zum Einsatz kam, und zwar wie 1992 gegen die Antifa.4 Das ganze System der zentralen Unterbringung, der Aussonderung, der Schlechterstellung und Entwürdigung rückt die Geflüchteten direkt und fast unvermeidbar ins Visier faschistischer Gewalt; und nirgendwo ist es dem Staat gelungen, den Verdacht zu zerstreuen, er stecke mit den Nazis genauso unter derselben Decke wie zu Zeiten des NSU.
Beide Versionen von vermutetem Kalkül gehen an der entscheidenden Stelle nicht auf, wo sich schlichte Unfähigkeit dazwischenschiebt. Die Existenz dieser und zwar systemischen, allgegenwärtigen Unfähigkeit ist schlechterdings nicht zu leugnen. Es ist für den Staat schon auf kurze Frist verheerend, als unfähig auch nur wahrgenommen zu werden. Und sogar ein Kalkül, die freiwilligen Helfer zu ermüden, wird so nicht aufgehen: die karitative Mobilierung wird fast zwangsläufig sich radikalisieren, wenn sich überall zeigt, dass es ohne den Staat auch, mit ihm nicht besser geht. Diese Wochen zeigen, scheint mir, nirgendwo das Bild eines planenden, kalkulierenden Staates, sondern eines mühsam reagierenden, von den Umständen wie ein leckes Schiff auf den Wogen getriebenen, eines Gefangenen seiner widerstreitenden Tendenzen; eines Staates, der tun muss, was er nicht will, getriebener seiner gescheiterten Pläne.
2.
Hinter den ungeheuerlichen Vorgängen, die wir sehen, ist natürlich mühelos eine Inszenierung erkennbar, hinter dieser aber ein Kalkül, das dabei ist, zu scheitern an selbst wieder nur denselben ungeheuerlichen Vorgängen. Betrachten wir Ungarn. Die dort regierende Orban-Clique, die Ungarn zu einem Mafia-Staat (Karl Pfeiffer) heruntergebracht hat, stützt sich im Inneren auf eine Allianz aus faschistischen und europäisch-konservativen Tendenzen. Um die Opposition niederzuhalten und diese Allianz zusammen,zuhalten muss er die Gesellschaft immer tiefer in hysterischen Nationalismus hochschaukeln. Nach aussen stützt sich Orban auf die verschämte Partnerschaft derselben EU, die ihm die Zielscheibe seiner vaterländischen Volksreden abgibt. Orban schafft es mühelos, gleichzeitig Teil der EU zu sein und sich den Anschein zu geben, nur sein Regime beschütze das ungarische Volk vor den zerstörerischen Werken dieser dämonischen Maschine. Er hält hier so ziemlich die Mitte zwischen Chavez und Seehofer.
Innerhalb der EU-Immigrationspolitik spielt Ungarn so wie die Randstaaten insgesamt die Rolle eines Aussenpostens. Geflüchtete dürfen, nach den Grundregeln dieser Politik, wie sie zuletzt im Abkommen von Dublin III festgehalten sind, nur in dem EU-Land Asyl beantragen, über das sie in die EU eingereist sind. Die Einreise über die Flughäfen ist stark erschwert, so dass die meisten Geflüchteten in den Randstaaten an den Land- und Seerouten bleiben müssten. Wenn sie denn dahin überhaupt kommen, was Orbans Regierung keineswegs wollen kann.
Diesem inneren Gürtel vorgeschaltet ist oder vielmehr war ein äusserer Gürtel von Staaten wie etwa Qadhafis Libyen, das für die EU den Dienst übernahm, die unerwünschten Geflüchteten gleich abzufangen und in die Sahara zurückzuschaffen, wo sie zu hunderten verdursten konnten, ohne dass es die europäische Öffentlichkeit stören musste. Diese bequeme Lösung fiel mit den arabischen Revolutionen weg. Man verstehe von hier aus die abgrundtiefe Heuchelei der sogenannten Linkspartei, die heute der USA vorwirft, die Flüchtlingskrise durch ihre Militärinterventionen verschuldet zu haben. Die Flüchtlingskrise gab es schon immer, nur trat die Komplizenschaft dieses miesen Haufens nicht so deutlich hervor, solange die Flüchtlingskrise im lautlosen Tod der Geflüchteten in den arabischen Wüsten ihr Ende fand und das ohnehin ausserordentlich strapazierfähige Gewissen der Europäer nicht beunruhigte.
Dieselbe Logik der Abschottung und Abschreckung macht es der EU natürlich eine Zeitlang angenehm, auf der südöstlichen Landroute ein Regime wie das Orbans sitzen zu haben oder in Griechenland eines, das die Umtriebe der Chrysi Avgi duldete oder förderte. Umgekehrt beruhen deren Stellungen nach innen auf dem Bündnis mit den rassistischen Bünden. Wenn der Zuzug von Geflüchteten die Kapazitäten der Abschreckung übersteigt, konnte es passieren, dass Orban plötzlich beschloss, die Geflüchteten einfach nach Deutschland durchreisen zu lassen.
Er tat dies, in dem er auf ein symbolisches Machtmittel zurückgriff, das nach 1989 jedem, auch dem verkommensten Regime in Ungarn zu Gebote steht. Sein Minister erklärte zum Überfluss einer deutschen Zeitung im Interview, die Flüchtlingswelle sei durch ein Missverständnis entstanden wie seinerzeit die Maueröffnung 1989. Damals war bekanntlich eine Äusserung von Schabowski so verstanden worden, als seien die Grenzkontrollen und Ausreisehindernisse mit sofortiger Wirkung abgeschafft. Erst unter dem folgenden Massenandrang versagte dann die Grenzbefestigung.
Gerade das, so deutete Orban an, geschehen zu lassen, stünde auch in seiner Macht: nämlich das Ende der Abschottung Zentraleuropas, den Untergang des infamen europäischen Immigrationsregimes. Als Preis dafür, seine Rolle als Grenzwächter Deutschlands weiterzuspielen, verlangt er nicht mehr und nicht weniger als die Abschaffung dessen, was vom Asylrecht in Europa übrig ist, und die Neuinstallierung eines äusseren Gürtels, der die Syrienflüchtlinge in der Türkei, Jordanien oder im Libanon auffangen soll.
3.
Aber die Türkei und Libanon stehen selbst am Rande des Bürgerkrieges, und die Kapazitäten dieser Länder sind auf äusserste angespannt. Orbans Vorstellung läuft darauf hinaus, dass alles so bleiben soll, wie es letztes Jahr noch war. Die Syrienflüchtlinge, die jetzt nach Europa kommen, kommen gerade deswegen, weil die Flüchtlingslager um Syrien überquellen. Und die Syrienflüchtlinge sind es gerade, die das grösste Kontingent des denkwürdigen Marsches, auf dem die Geflüchteten, unter den Fahnen der westlichen Staaten und mit Bildern namentlich der deutschen Kanzlerin über die Autobahn von Ungarn Richtung Deutschland zogen.
Alle haben die Syrer unterschätzt. Aber die Syrer haben sich nicht von Orbans Polizei in Lager pferchen lassen, sondern sie sind daraus ausgebrochen. Die Syrer haben vier Jahre hinter sich, in denen ihr Land systematisch zerstört worden ist, vom herrschenden Regime ebenso wie von den verschiedenen anderen faschistischen Banden, die sich anheischig machen, sein Erbe anzutreten. Hier ist seit 4 Jahren ein Krieg geführt worden im vollen Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit, nicht nur mit Kriegshelikoptern und Panzern, sondern mit Fassbomben und Giftgas, gegen eine Revolution,die von aller Welt verraten worden ist. Und jetzt, im fünften Jahr, marschiert die zerschlagene und verratene syrische Revolution auf Deutschland.
Dieser Zug der Syrer über die Autobahn ist es, was beweist, dass die massenhafte Flucht kein Naturereignis ist, sondern eine soziale Bewegung; eine Fortsetzung zerschlagener Bewegungen, eine Fortsetzung der Revolutionen von 2011. Wenn die Linkspartei die Schuld daran dem Sturz Saddam Husseins 2003 geben möchte, sagt sie etwas, das sie sicher eigentlich nicht sagen möchte. Und wenn sie die Rechnung an die USA schicken möchte, könnte sie sich genauso gut an das Proletariat von Ägypten von 2011 halten. Die Linkspartei erklärt mit diesen Worten ihre ganze Aussen- wie Innenpolitik: sie ist Komplizin der Regime, Feindin der Revolution.
4
Im Moment ist Dublin III in Europa auf undurchführbar. Deutschland hat das Abkommen ausgesetzt, um sein Gesicht zu wahren; weniger aus Humanität, als weil das System zusammengebrochen ist. Die Mauer ist, ob Orban wollte oder nicht, wirklich am Fallen. Und mit dem Zusammenbruch von Dublin III schreitet die institutionelle Krise der EU fort.
Die griechische Krise, ausgelöst durch die europäische Bankenrettung auf Staatskosten, hatte die EU schon an den Rand des Auseinanderbrechens gebracht. Und bereits jetzt steht fest erstens, dass das Gefüge eine zweite Bankenkrise wie 2008 nicht aushalten wird und zweitens, dass genau eine solche Krise unmittelbar bevorsteht. Dahin hat es namentlich die deutsche Politik, unterstützt durch die Staaten des Ostens, gebracht. Dort hatten sich Regime etabliert, die es geschafft hatten, die neidische Verteidigung des eigenen Wohlstands gegen die kollabierten Nachbarn hinüberzuretten in den eigenen Kollaps; in enger Anbindung an Deutschland und in Nachfolge des ungarischen Modells. Jetzt gerät diese Achse auch noch in die Krise.
Die neuen autoritären Tendenzen in Osteuropa finden einen etwas ungewöhnlichen Bundesgenossen an Putins Russland. Wie gut Finnland oder Polen nachmachen können, was Orban schon vormacht, ist eine interessante Nebenfrage; aber ein Ergebnis des ukrainischen Kriegs ist das gewesen, dass die NATO unfähig sein wird, im europäischen Osten den russischen Enfluss im Zaum zu halten. Wie gut die Faschisten aller Länder zuletzt über alle Grenzen hinweg in der Lage sind, die Ihrigen zu erkennen, konnte man vor kurzer Zeit jeden Montag auf allen Strassen sehen, als eine kleine, aber gar nicht so zufällige Koalition wütend gegen einen Weltkrieg demonstrierte, der gar nicht geführt werden würde.
Die ukrainische Krise hat als erste die Logik des syrischen Krieges aufs europäische Festland gebracht, und die damit etablierten Fronten beherrschen die Auseinandersetzung bis hinein in das deutsche Parteiensystem: die Friedensmahnwachen für Putins Krieg, das sind dieselben, die heute die Grenzen für Syrienflüchtlinge dicht halten wollen. Die Annektion der Krim mit der Luftbasis in Sewastopol hat Putin auch ein Sprugbrett verschafft, ohne das die russische Intervention in Syrien vielleicht nicht möglich gewesen wäre. Beide Kriege sind eigentlich Schauplätze eines und desselben Krieges.
Nur dass nicht, wie man glauben könnte, auf der anderen Seite dieses Krieges etwa der sogenannte Westen stünde. Die USA haben Syrien und die Krim faktisch an Russland und Iran ausgeliefert. Die EU läuft Gefahr, zu zerfallen. Es ist weniger ein Krieg zwischen bereits konstituierten Blöcken als ein Auseinanderfallen der bisherigen Ordnung, in welches einzelne Mächte planlos intervenieren. Keine Macht, die Herrin ihrer eigenen Entschlüsse wäre, die nicht selbst getriebene ihrer Krise wäre. Wer hätte 2011 auf Putin viel Geld gesetzt? Ich würde das sogar heute nicht raten.
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Die gegenwärtige Weltkrise nimmt noch nicht die Form eines Weltkrieges an. Es ist die Frage, ob sie das überhaupt tun wird. Es sieht so aus, als gruppierten sich die Mächte um. Die neueren Krisen seit 2008 haben überdeutlich bewiesen, dass die bisherige Weltordnung nicht mehr gehalten werden kann. Die Waren- und Kapitalströme ändern ihre Richtung, die Interessen der Mächte machen etwas wie einen Polsprung durch. Das Gelände, das der sogenannte Westen aufgibt, muss unter anderen Mächten neu verteilt werden. Das ist kein Nullsummenspiel und noch weniger eine Befreiung von einem Imperialismus, sondern läuft in Wirklichkeit unvermeidlich so ab wie das, was im Mittleren Osten oder etwa im Südsudan gerade vor sich geht.
Hier finden wir etwa eine Obama-Regierung, die unter dem Beifall des angeblich aufgeklärten Publikums auf ein Abkommen mit dem Iran hinarbeitet, das diesen zur regionalen Ordnungsmacht erhebt; ein Vorgang, der sich seit Jahren hinzieht und sämtliche Bündnisachsen umkehren und schliesslich das Arrangement zwischen den USA und China in die Luft sprengen wird. Die unmittelbare Folge des iranischen Abkommens aber ist ein regionaler Krieg im Iraq, Yemen und Syrien. Je mehr die USA sich mit ihren bisherigen Gegnern verständigen, um ihren Abzug aus dem Mittleren Osten zu decken, desto mehr gerät die ganze Weltgegend in Brand. Keine Macht kann diese Dynamik heute noch aufhalten, kaum noch überblicken.
Sie scheinen noch zu planen, zu handeln, aber ihre Pläne brechen zusammen. In der Griechenlandkrise hatten sowohl die EU als auch Griechenland eingestanden, dass es einen Plan B nicht gibt. Es zeigte sich, dass es schon an einem Plan A fehlte. In Syrien ist niemandem irgendeine Rechnung aufgegangen, selbst die vom Iran angekündigten Überraschungen lassen auf sich warten. Putin hat soeben den Rosthaufen des Donbass erobert und schickt sich an, sein Militär im syrischen quagmire untergehen zu lassen. Erdoğan hat eine Wahl verloren, als er sein Land letztes Jahr an den Rand des Bürgerkriegs gebracht hat, und er bringt es dieses Jahr vielleicht über diesen Rand beim Versuch, die nächste zu gewinnen.
Die USA haben für 500 Millionen Dollar eine Streitmacht ausgebildet, von welcher nur 5 nicht desertiert sind, während die USA ihrem Versprechen treu bleiben, den sog. Islamischen Staat nur durch fast unmerkliche Massnahmen zu bekämpfen. Die nordiraqische Regierung hat es geschafft, Sinjar zweimal zu verlieren, während die gesamtiraqische zweimal ihre halbe Armeeausrüstung verloren hat, in Mossul und in Ramadi, beide Male bestehend aus amerikanischen Maschinen des neuesten Modells. Und während ein Auto der neuesten Generation eines ist, das ohne Originalersatzteile nicht zu reparieren ist, zeigt sich, dass solche Panzer einfach so in Betrieb genommen und über ein Jahr benutzt werden können, ohne dass passende Munition knapp wird.
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Ein aufmerksamer Zeitungsleser wird an dergleichen Beispielen keinen Mangel finden. Es ist, um den Verstand zu verlieren, wo die Aufgabe doch darin bestünde, einen zu gewinnen. Alle scheinen sich zu benehmen, als hätten sie völlig den Verstand verloren. Selbstverständlich haben sie alle ihr Kalkül dabei, und es gibt nicht den mindesten Grund, anzunehmen, dass es nicht wohlüberlegt ist, vielleicht sogar zu wohlüberlegt.
Ich will ein anscheinend fernliegendes Beispiel geben. Vor einigen Wochen überraschte ein Politiker der allgemein beliebten SPD die Öffentlichkeit mit einer Bemerkung, wonach die Kanzlerin dermassen beliebt sei, und dermassen wenig falsch mache, dass sich die Frage stelle, ob man als SPD denn überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstellen müsse. Näher ist die deutsche Sozialdemokratie wohl nie zum Bewusstsein ihrer Lage vorgedrungen, aber für einen Kanzlerwahlverein ist eine derartige Aussage wohl suizidal. Sie kostet die Stimmen derjenigen Wähler, die nicht begreifen, warum sie eine Partei wählen sollen, die dermassen öffentlich verspricht, gar nicht regieren zu wollen.
Wie es zu einer derart unbegreiflichen Aussage kommen kann, lässt sich verstehen, wenn man weiss, dass der betreffende Politiker einer parteiinternen Intrige angehört, die den Vorsitzenden gerne durch einen identischen anderen Vorsitzenden ersetzt hätte, dem er näher steht; verwickelte Geschichte. Ein vollkommen einsichtiger Grund, der darauf hinausläuft, einen Laden kaputtzuschlagen, um ihn billiger zu bekommen. Ob man so etwas für eine Erklärung des übrigens ansonsten völlig gleichgültigen Vorgangs halten soll, kann ich nicht entscheiden. Es lohnt sich nur, zu wissen, was alles als völlig rational, sogar schlau gilt in einer derjenigen Anstalten, in denen sie die Leute ausbilden, die politische Entscheidungen treffen. Vielleicht begreift man jetzt manche dieser Entscheidungen besser.
Hiess es nicht einmal, dass die revolutionäre Situation da sei, wenn die oberen nicht mehr können und die unteren nicht mehr wollen? Die Revolution hat allerdings in den letzten Jahren gezeigt, dass sie selbst noch katastrophal unentwickelt ist. Sie hat nirgendwo geschafft, eine neue Gesellschaft zu beginnen, nicht einmal die bestehende zu erhalten; ja, nicht einmal die Hindernisse zu überwinden. Sie ist selbst immer noch der nur halb bewusste Ausdruck der Krise, des allgemein verbreiteten Bewusstseins, dass es so unter keinen Umständen weiter geht. Nach 10 Jahren ist das entsetzlich wenig.
Aber nirgendwo steht, dass man sich historische Lagen aussuchen kann. Und die Oberen können tatsächlich nicht mehr weiter. Was die Unteren wollen werden, das ist als einziges noch ungewiss. Alles kommt darauf an, wie sich die Lage in diesem Land entwickelt, wenn die Autokrise beginnt; ob sie sich in den landlos gemachten, überflüssig gemachten, preisgegebenen wiedererkennen; ob die vertriebenen, geflohenen ihrerseits der Mittel, die ihre Lage ihnen aufzwingt, zu bedienen verstehen. Erfahrungen sind seit 2012 genug gemacht, es muss nichts davon vergebens gewesen sein. Sie könnten den Gedanken naheliegen, dass alles plötzlich völlig anders debattiert werden wird, sobald die Dinge nicht geräuschlos schlechter werden, sondern ernsthafte Gegenwehr stattfindet. Die Tage von Heidenau haben auch das gezeigt. Vielleicht, frage ich mich, haben sich die Regeln des Spiels geändert? Vielleicht ist die Niederlage gar nicht mehr ganz und gar unvermeidbar?