(An dieser Stelle dokumentieren wir ein Flugblatt der Initiative gegen den sozialen Frieden aus Leipzig. – das GT)
Gegen die Politik der Sozialkürzungen. Gegen den Verzicht für den Standort.
Seit drei Monaten kämpfen in Frankreich Schülerinnen, Studierende und Arbeiterinnen gegen einen Gesetzesentwurf der regierenden Sozialdemokratie, der ihnen eine ganze Reihe von Verschlechterungen bescheren soll. Im wesentlichen zielt der Vorstoß der Regierung darauf, die Wochenarbeitszeit zu „flexibilisieren“, den Kündigungsschutz zu lockern, die Abfindungen im Kündigungsfall zu senken und den Flächentarifvertrag aufzulösen. Das alles sind Maßnahmen zur noch effektiveren Ausbeutung der Lohnabhängigen: sie sollen zu geringeren Löhnen arbeiten, und zwar genau dann wann, dort, wo und solange wie das Kapital sie braucht. Wenn ihre Arbeit nicht mehr benötigt wird, will das Kapital sie ohne Probleme auf die Straße schmeißen können. Das Gesetz ist ein Angriff, der die ganzen sogenannten „Reformen“ der letzten Jahrzehnte fortsetzt, die nichts anderes als großangelegte Raubzüge bei den Arbeiterinnen und Armen sind.
Hierzulande hört die letzte große Zumutung dieser Art auf den Namen Agenda 2010. Die rot-grüne Regierung hat sie in den Jahren von 2003 bis 2005 Hand in Hand mit der Opposition und in wunderbarer Eintracht mit Unternehmensverbänden und Gewerkschaften verabschiedet. Ihre famosen Erfolge umfassen: Reallohnsenkungen, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die Hartz4-Gängelungen, sowie die Einführung von Leih- und Kurzarbeit. Auch hierzulande haben die linken Parteien mit ihrer Agenda den Weg bereitet für die Schaffung eines Niedriglohnsektors, der sich sehen lassen kann. Fast jeder vierte Lohnabhängige in Deutschland kommt in den Genuss seiner Vorzüge! Immer wieder heißt es dabei, die Lohnabhängigen müssten diese Opfer bringen für die Gemeinschaft. Sie müssten Opfer bringen für ein höheres Wesen namens Deutschland. Doch im Namen der Gemeinschaft wird die Konkurrenz unter allen Lohnabhängigen verschärft. Im Namen des Standorts Deutschland retten Bosse und Arbeitgeber, Aktionäre und Anteilseigner ihre Profite – auf Kosten unserer Lebenszeit, unserer Gesundheit und unserer Bedürfnisse. Ja, es gibt sie noch, die Klassenspaltung zwischen Proletariern und Kapitalisten! Wir erleben sie tagein, tagaus, in unseren Arbeits- und Lebensbedingungen. Illusionär ist nicht die Klassenspaltung, illusionär ist der gerade wieder zu beobachtende Versuch, diese Klassenspaltung in den armseligen Feierabendritualen der Fußballreligion zu verdrängen! Illusionär ist die Nestwärme der nationalen Gemeinschaft: Du und dein Chef haben nichts gemeinsam, außer das Deutschlandtrikot. Auf diesem Wege wird sich niemals etwas daran ändern, dass wir unser Dasein als Lohnsklaven für die herrschende Klasse fristen, ob in der Produktion oder im Transport, im Krankenhaus, in der Pflege, in der Gastronomie oder den Kitas, auf dem Bau oder im Büro. Und von den heutigen Schülern und Studenten werden in ein paar Jahren einige als Führungskräfte die Menschenausbeutung managen, die meisten werden aber einfach lohnarbeiten gehen, wie alle anderen auch.
In Deutschland haben die Bosse, die Parteien und die etablierten Gewerkschaften gute Arbeit darin geleistet, jede Erinnerung an die Möglichkeit unversöhnlichen Widerstands der Arbeiterinnen gegen ihre Ausbeutung und Unterwerfung auszulöschen. In Schland fällt die Lüge davon, dass wir alle für eine fiktive Gemeinschaft „den Gürtel enger schnallen müssen“, auf fruchtbaren Boden. Wohl verstanden besagt sie, dass die Ausgebeuteten zugunsten des Unternehmens auf ein besseres Lebens verzichten sollen. Und leider verzichten hier viel zu viele und lassen sich jede neue Demütigung gefallen. Großmäulig in den Kommentarspalten und Kneipen gegen „die da oben“ schimpfen oder „Protestwählen“ gehen: das ist der Protest für diejenigen, die zu feige sind, sich gegen ihre wirklichen Herren zu wehren. Sie hoffen lieber, dass diese ihnen ein Gnadenbrot gewähren. Menschen mit dem „falschen“ Pass sollen derweil ruhig im Mittelmeer ertrinken oder hier schikaniert werden. Es ist das alte Schema: Die Schläge, die sie von oben bekommen, geben sie nach unten weiter. Ihre Unterwürfigkeit macht sie zu niederträchtigen Gestalten. Das hilft niemandem und schadet vielen.
Unter den französischen Lohnabhängigen und Jugendlichen ist das Bewusstsein vom Gegensatz, in dem sie sich zu „ihrem“ Unternehmen und zu „ihrer“ Regierung befinden, noch lebendig. Mit brennenden Reifen blockieren sie Autobahnen und Zufahrtsstraßen zu einigen wichtigen Häfen. Ölraffinerien, Züge und Kraftwerke werden von den ArbeiterInnen bestreikt. SchülerInnen verbarrikadieren ihre Schulen und wehren sich gegen die Angriffe der Polizei auf ihre Demonstrationen. Zuletzt haben die ArbeiterInnen der Pariser Müllentsorgung beschlossen die Arbeit einzustellen, um pünktlich zum Start der Europameisterschaft zu zeigen, was sie davon halten, für die „nationale Sache“ zurückzustecken: unser Leben ist wichtiger als dieses Hochglanzspektakel, soll es doch im Müll versinken! Die EM ist ein Sinnbild dafür, dass wir in dieser Gesellschaft immer nur Zuschauer sein sollen. Wir verfolgen die Politik wie das Turnier (nur mit weniger Interesse). Die Chefs und Regierungen machen die Regeln, wir folgen. Die französischen Lohnabhängigen haben beschlossen, ihre Zuschauerrolle zu verweigern und den Herrschenden selbst als Spieler gegenüberzutreten. Neben dem Interesse an einem einigermaßen guten Leben, das sich die Arbeiterinnen schon immer erkämpfen mussten, stehen sie auch für ihre Würde ein, sich nicht bloß herumkommandieren zu lassen.
Derweil steht der nächste Kriseneinbruch vor der Tür. Wie sehr es auch gelingen mag, die Kosten dieser Gesellschaftsordnung weiter auf diejenigen abzuwälzen, die sie am laufen halten – es wird nicht reichen, um die Krise zu bannen. Überall schrumpfen die Wachstumsraten, während die Spekulationsblasen wachsen, weil das Kapital an seiner eigenen Produktivität erstickt. Mit immer weniger Arbeit können heute immer mehr Waren produziert werden. Die kapitalistische Ökonomie steuert jedoch regelmäßig auf den Punkt zu, an dem diese Waren im Überfluss vorhanden sind. Die Märkte sind überfüllt, die Waren können nicht mehr mit Gewinn verkauft werden – also werden sie unverkäuflich. Es ist der fundamentale Widerspruch dieser Gesellschaft des kapitalistischen Privateigentums, der hier zum Vorschein kommt: gerade weil zu viele Lebensmittel, Häuser, Kleidung produziert werden, müssen die Lohnabhängigen ihre Bedürfnisse beschränken. Diejenigen, die ihre Arbeit verlieren, haben nicht mehr genug zu essen oder um ihre Miete zu bezahlen. Das alles geschieht nicht, weil nicht genug da wäre, sondern weil das Kapital niemals genug bekommen kann!
Anstatt dem Kapital bei seinem aussichtslosen Rettungsversuch durch weiteren Verzicht zu helfen, sagen wir: unsere einzige Rettung ist es, seinen Untergang zu beschleunigen. Wehren wir uns gegen die Kürzungs- und Sparpolitik, gegen Privatisisierungen, gegen sinkende Löhne, gegen den Zwang zu Überstunden. Fordern wir die Abschaffung des Hartz4-Systems zugunsten einer solidarischen Arbeitslosenversicherung. Fordern wir die flächendeckende Erhöhung des Mindestlohns. Kämpfen wir überhaupt für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Für die Beschränkung der Nacht- und Schichtarbeit und der Wochenendarbeit. Fordern wir die Rente mit 60 zurück. Und machen wir uns keine Illusionen: um auch nur Teile hiervon durchzusetzen, bedürfte es einer Anstrengung, die noch über den mutigen Widerstand der französischen Lohnabhängigen hinausgeht. Gegen die ständigen und noch kommenden Zumutungen wäre es aber an der Zeit, eine solche Anstrengung einmal abzuwägen.
Am besten wäre es, dies vor Ort mit den KollegInnen, den anderen Arbeitslosen, den anderen Studierenden, den NachbarInnen zu diskutieren. Nichts zu erwarten haben wir in jedem Fall von den verschiedenen Parteien und wenig von den Gewerkschaften. Wenn, dann werden wir sie zwingen müssen, in unserem Sinne zu handeln. Dazu müssen wir uns aber erstmal auf eigener Grundlage zusammenfinden und die Trennungen voneinander überwinden. Wenn uns das gelingt, können wir anfangen, in das Spiel aktiv einzugreifen. Wir werden schnell merken, dass die Regeln des Spiels vom Eigentum geschrieben werden. Die Eigentumsordnung bestimmt, wer über die Produktion verfügt (das Kapital), die Politik macht (die wechselnden Regierungen des Kapitals) und wieviel wir zum Leben bekommen (den Lohn). Wir werden also sehen, dass unser Spiel erst wirklich beginnen kann, wenn wir ihre Regeln nicht mehr akzeptieren und unsere eigenen Regeln entwickeln.
Initiative gegen den sozialen Frieden