I.
Eine weitere spektakuläre Krise sucht unseren alten Kontinent heim, eine Volksabstimmung in Großbritannien hat sich nicht an den Fahrplan gehalten und eine knappe Mehrheit für den Austritt dieses Mutterlandes der EU gestimmt. Und das gegen jede Vernunft!: „Das Volk gegen die Wirtschaftsexperten. Das ökonomische Risiko taugte nicht zur Abschreckung.“ Dumm gelaufen, jetzt droht die Apokalypse: „Chaos an den Börsen“ – „Schockwellen erfassen Europas Hauptstädte“ – „Der britische Sprung ins Ungewisse“ – „Dublin im Brexit-Schock“ – „S & P entzieht Großbritannien das AAA“ – „Britisches Pfund setzt historische Talfahrt fort“ – „Brexit ist nur die Spitze des Eisbergs“ – „Brüssel drängt auf rasche Scheidung. EU unter dem Schock des britischen Referendums“ – „Zerissenes Großbritannien“ – „Ein Köpferolle kündigt sich an, Tabula rasa bei den Tories, Kritik an der Labourführung“ – „Folgt der schottische Exit dem Brexit“ – „Die Labourpartei in Aufruhr“ – „Schottland will sich Brexit widersetzen“ – „Die EU sucht nach Orientierung“ – „Frustration, leiser Triumph und Konsternation“ – „Die Londoner City muss sich neu erfinden“ – „Die Briten brauchen Zeit“. Soweit einige Überschriften aus zwei Tagen Neue Zürcher Zeitung direkt nach Veröffentlichung des Ergebnisses.
II.
Der Witz des aktuellen europäischen Brexitspektakels ist dabei, daß es keinen Brexit geben wird. Das ist schon jetzt klar. Die Kampagne für den Brexit hat bekanntlich kein einheitliches Zentrum, welches den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union tatsächlich politisch bewerkstelligen könnte. Cameron ist Gegner der Abspaltung und folgerichtig zurückgetreten. Er und alle seine potentiellen Nachfolger aus der konservativen Partei erklären dabei unisono, sie hätten es nicht so eilig, erst müsse die Frage nach der Nachfolge Camerons geklärt werden, so im Oktober, wenn die Partei traditionell tagt. Die dann bestimmte Folgeregierung solle den Volksentscheid umsetzen. Derweil fällt der Pfund, derweil leidet die Kreditfähigkeit, derweil jammert der Finanzstandort. Die schottische Nationalbewegung droht mit einem Ausstieg Schottlands aus Großbritanniens im Falle eines Ausstiegs von Großbritannien aus dem europäischen Imperium. In jedem Falle wolle man die Verhandlungen um einen Brexit sabotieren. Die nordirische Nationalbewegung moniert, daß es keine innerirische Grenze mehr geben darf. Der liberale Teil der Jugend demonstriert, fühlt sich verlassen. Es wird jedenfalls eine Menge Gründe geben, das Votum des Volksentscheids zu ignorieren, welches im übrigen die Regierung nicht bindet. Wahrscheinlich wird die neue von den Konservativen gestellte Regierung sich durch vorgezogene Wahlen legitimieren lassen wollen und gut möglich, daß schlicht eine Kandidatin gewinnen wird, die niemals für den Brexit war. Im günstigsten Fall wäre das für die Konservativen Theresa May. Der populäre Brexitbefürworter der Tories, Boris Johnson, wurde indessen bereits seiner Kandidatur enthoben. Sollte umgekehrt die Labourpartei das Rennen machen, wäre es noch einfacher, den Brexit abzuwenden, da Labour unter Jeremy Corbyn den Austritt ablehnt. Allerdings ist Corbyn kein geeigneter Kandidat für die Mehrheit und so bemühen sich einige Kreise, diesen Vertreter der gewerkschaftlichen Parteilinken durch einen sogenannten Coup abzusetzen und durch einen Blairiten zu ersetzen. Das könnte mit einigen Tricks auch gelingen, obwohl die seit Corbyns Übernahme des Parteivorsitzes sogar noch angeschwollene Parteibasis diesen klar stützt. Wie auch immer genau, könnte diese vorgezogene Wahl jedenfalls schlicht dazu führen, daß die britische Politik alles für einen üblen Scherz erklären wird. Sollte hingegen tatsächlich die Kündigung bei der EU eingereicht werden, gibt es immer noch zwei Jahre Zeit, die Sache zu verschleppen – und dann reguläre Wahlen und eine erneute Gelegenheit.
III.
Das alle unterdessen eine Weile lang so tun, als wäre mit der unverbindlichen Volksabstimmung der Austritts Großbritanniens beschlossen worden, ist Taktik und public relations. Einerseits muß man den Leuten aus dem Leave-Lager die Sache verkaufen und andererseits darf Großbritannien sich nicht zu schnell vom Austritt verabschieden, da die EU das nutzen könnte, die Insel im Gegenteil geradezu stärker in die EU einzubinden. Überhaupt sind diese inszenierten Krisen bislang ein gutes Mittel gewesen, die europäische Reichseinigung zu forcieren. Und diese Reichseinigung ist absolutes Ziel, da nur die politische Einheit den Euro aufrechterhalten kann. Mit der gemeinsamen Währung hat der europäische Imperialismus die Grundlage dafür gelegt, daß Europa längerfristig im multipolaren Spiel der Mächte mitmischen kann und seine privilegierte wirtschaftliche Lage behalten, die politische Einheit folgt daraus. Wenn sich die führenden EU-Politiker nun beeilen, Großbritannien zu einer sofortigen Kündigung ihrer Mitgliedschaft zu drängen, soll dies die britische Politik nur dazu zwingen, den Unfug ihres Referendums sofort einzugestehen. Dieses Manöver macht klar, daß Großbritannien zwar Teil der EU bleiben soll, aber dafür keinerlei Konzessionen bekommt. Selbst das was Cameron bereits ausgehandelt hat, steht wieder zur Disposition. Man behandelt die Briten ein wenig wie die Griechen. Natürlich denkt niemand daran, daß Großbritannien die Kündigung sofort einreicht. Europas Ausgleichskanzlerin Merkel gibt sich denn auch gelassen und erklärt, daß man den Briten mehr Zeit eingestehen müsse, damit sie den oben skizzierten Fahrplan eines Rücktritts vom Brexit einhalten könne. Das war eigentlich alles. Der Rest wird wohl einige Zeit brauchen.
IV.
In den Worten eines deutschsprachigen Leitmediums liest sich diese Entwicklung dann so: „In europäischen Hauptstädten werden Forderungen erhoben, ein Exempel an den Briten zu statuieren, um andere zaudernde Mitglieder vor ähnlichen Gedankenspielen abzuschrecken. Ein barscher Ausschluß von den bisher mit dem Binnenmarkt verbundenen wirtschaftlichen Vorteilen wäre ein Mittel zur Züchtigung der Abtrünnigen. Damit einher geht der Plan durch forsche Integrationsschritte der Welt und sich zu beweisen, dass die Union lebendig und handlungsfähig ist. Doch das wäre töricht.“ (NZZ, Samstag, 25./26. Juni) – „Premierminister Cameron hat am Freitag den Rücktritt angekündigt, aber erst für Oktober – wenn die Konservativen üblicherweise ihren Parteitag abhalten. Das empfinden kontinentaleuropäische Politiker als Zumutung. Kommissionspräsident Junker, EU-Parlaments-Präsident Schulz wie auch die Außenminister der sechs EU-Gründungsmitglieder haben zur raschen Einreichung des Austrittsgesuchs aufgefordert. Die Ungeduld ist verständlich. Von den britischen Extrawürsten haben EU-Politiker nun wirklich die Nase voll. Allerdings sollten sie bedenken, dass Großbritannien selbst noch nicht weiß, was das Land im Post-Brexit-Zeitalter will. Eine überstürzte Wahl eines neuen Premierministers käme deshalb zu früh. Zunächst einmal müsste sich das heterogene Brexit-Lager inhaltlich und personell formieren, um Regierungsverantwortung zu übernehmen. Davon ist noch nichts zu sehen. Johnson lavierte am Freitag ungewohnt kleinlaut und meinte, mit dem EU-Austritt habe es gar keine Eile … Die Brexit-Beführworter behaupteten lange, Großbritannien werde nach dem Austritt schon irgendwie mit Europa weiter wirtschaften können. Doch wie das gehen soll, ohne auch die verhassten EU-Regeln und die Arbeitnehmer-Mobilität übernehmen zu müssen bleibt schleierhaft. Es gibt kein Konzept für den Brexit. … Daher wäre es nicht falsch, dem Land ein wenig Zeit einzuräumen, damit es zuerst einmal mit sich selbst ein bisschen mehr ins Reine kommt. Bis Oktober könnte sich vielleicht noch eine solidere Alternative für die Führung der Konservativen und der Regierung aufbauen, etwa die zähe, kühle, sich während der Brexit-Kampagne taktisch still verhaltende Innenministerin May.“ (NZZ, Montag, 27. Juni)
V.
Das alles heißt nicht, daß es nicht zu weiteren Unfällen kommen kann. Das britische Volk kann verschärft störrisch werden, die europäische Wirtschaft kann ungeahnte Schläge erleiden. Trump wird die Wahl in den USA voraussichtlich gewinnen, was etwa dem Front National einen Auftrieb geben könnte, zumal sich Frankreich schwer mit den gebotenen Reformen tut und es gelegentlich sogar Streiks und Krawalle gibt. Spanien sucht schon seit einem halben Jahr eine neue Regierung, in Rom wurde eine Vertreterin der Partei des Clowns Beppo Grillo an die Macht gewählt und selbst in Deutschland bemüht sich die AfD ein wenig um Renationalisierung. Derlei Friktionen könnte im Prinzip in ihrer Summe tatsächlich zum Austritts Großbritanniens führen bzw. zum Zerfall der Europäischen Union selbst; die Einsätze im Spiel um die europäische Einigung werden höher. Aber bislang dient der Zerfall der Union wesentlich als spektakuläre Drohkulisse, damit diejenigen sich öffentlich zur Europäische Union bekennen, die sich positiv niemals für dieses Projekt erwärmen würden und um die Linke auf die gegenwärtige Herrschaft einzuschwören und sei es als kleineres Übel gegen das drohende Übel. Und insbesondere wird klarer, daß die europäische Reichseinigung unter deutsche Führung stattfindet und Europa inkl. Deutschland das wird akzeptieren lernen müssen, wenn das Unterfangen gelingen soll. Daher nochmal die Zeitung unter der Überschrift „Widerwilliges Zugpferd“: „Überhaupt gehört zum deutschen Dilemma die Frage, ob Großbritanniens Austritt nun auch über die Finanz- und Wirtschaftspolitik hinaus nach stärkerer deutscher Führung ruft.“ (NZZ, Montag, 27. Juni) Tatsächlich zeigt ja die Geschichte der Staatsgründungen, dass es ohne Hegemon dabei nicht abgeht.
Ich habe in den letzten Wochen wenig Zeitung gelesen, nur einmal zufällig einen Artikel in der „Welt“, in dem stand, dass das Referendum für das britische Parlament gar nicht bindend sei. Daher wunderte ich mich, als dann nach der Abstimmung alle Medien so ein Tamtam machten. Aber der Text oben bietet dafür eine plausible Erklärung. Nur glaube ich persönlich nicht, dass Trump die Wahlen in den USA gewinnen wird. Ich tippe eher auf eine Mehrheit für Hilary als „kleineres Übel“.