Ein Widerspruch gegen Michael Wendl: „Kapitalismus in der Klasse?“, Sozialismus -Website
Vince O’Brian
Michael Wendls Analyse des Streiks der GDL und der Diskussion um das Tarifeinheitsgesetz hat unbestreitbar den Vorzug, daß sie der erste lesenswerte Kommentar aus dem DGB-gewerkschaftslinken Spektrum ist; sie ist aber auch offenkundig allzu schnell hingeworfen. Sie hält sich oft sehr an der Oberfläche auf. Anzumerken ist ihr die Rücksicht auf DGB-Organisationsinteresse; aber auch dieses ist vielleicht auf die Dauer kurzsichtig. Dagegen werden eine Reihe gesamtgesellschaftlicher Fragen nicht in Rechnung gestellt, die seit 2008 immer nur drängender geworden sind. Es lohnt sich deshalb, darauf noch einmal näher einzugehen. Auch KollegInnen wie Wendl wird vielleicht einiges, was ich hier darlegen möchte, nicht egal sein können.
1. Greifen wir vorerst etwas aus. Wendl schreibt zu Recht über Vereinigungen wie die GDL: „Im Kern markiert der tarifpolitische Aufstieg dieser Berufs- und Spartengewerkschaften die tiefe Krise einer Tarifpolitik der Lohnzurückhaltung … Lohnzurückhaltung ist nicht nur makroökonomisch falsch, sondern sie lohnt auch mikroökonomisch nicht…“ Über den vom DGB-Bundesvorstand mitgetragenen, von verdi abgelehnten Gesetzesentwurf zu Tarifeinheit, der meiner Ansicht nach einfach gewerkschaftsfeindlich ist, meint er lobenswert: „Und ver.di hat ebenso Recht mit der Feststellung, dass die Frage der Tarifeinheit gewerkschaftspolitisch und nicht durch Beschränkung des Streikrechts gelöst werden muss. Aber sie sollte damit auch endlich anfangen.“
Aber seltsamerweise schließt er mit den Worten: „Deshalb kann eine linke Argumentation nur darauf zielen, dass die GDL unter Druck gesetzt wird, ihre Tarifpolitik gemeinsam mit der EVB abzustimmen und dann auch gemeinsam zu verhandeln.“ Dieser Schluß ist für mich unverständlich, und er wird auch durch Wendls einleitende Reflexionen nicht verständlicher: „»Sozialismus in einer Klasse« hatte der sozialdemokratische Politologe Fritz Scharpf der SPD nach der »irreversiblen Niederlage im Verteilungskampf« empfohlen und hatte als Alternative zu diesem »Sozialismus« den »Kampf aller gegen alle im eigenen Lager« prognostiziert. Das war bereits 1987.“
Wendl stellt in der Folge nämlich ziemlich deutlich heraus, wie diese Orientierung an Scharpf (und Streeck) mit gerade derjenigen Lohnpolitik zusammenhängt, deren Krise er feststellt: Die DGB-Gewerkschaften „hatten, als sie tarifpolitisch mit einer fortschreitenden Erosion der Bindung der Flächentarifverträge konfrontiert wurden, exakt so gehandelt, wie es ihnen die sozialdemokratischen Vordenker Scharpf und Wolfgang Streeck nahe gelegt hatten. Einmal mit einer insgesamt für alle Beschäftigten zurückhaltenden Lohnpolitik, von der nur 1999 kurz abgewichen wurden, und zum zweiten mit der Hinnahme einer stärkeren Lohnspreizung nach unten, zu Lasten der niedrig qualifizierten Arbeitskräfte.“
Warum will ihm dann am Ende seines Artikels partout nichts anderes einfallen, als die Auseinandersetzung zwischen EVG und GDL wiederum als ein Nullsummenspiel zu betrachten, als einen Verteilungskampf im Arbeitnehmerlager und sonst nichts? Mir leuchtet nicht ein, wie das plausibel sein kann, außer man lässt einige wesentliche Dinge außer Betracht.
2. Die DGB-Gewerkschaften haben nicht etwa nur eine sog. Lohnspreizung nach unten hingenommen, sondern auch eine nach oben. Es ist allgemein bekannt, dass es in industriellen Schwerpunktbetrieben vielfältig gestaffelte und unterschiedene übertarifliche Zulagen gibt, meistens aufgrund von Betriebsvereinbarungen, sehr selten ganz ohne Beteiligung der Industriegewerkschaften. Auch dies ist Lohnspreizung. Das betrifft meistens hoch profitable und weltmarktfähige Betriebe mit gut organisierten und, jedenfalls theoretisch, streikfähigen Belegschaften, und es führt, ob diese es wollen mögen oder nicht, zu einer gewissen Abkoppelung der tariflichen Lohnentwicklung von der übertariflichen; das objektive Interesse dieser Belegschaften hängt nicht mehr an der gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung, wenn auch interessanterweise oft das subjektive.1
Natürlich hat dies zur Ursache, daß damit gefährlichere Belegschaften ruhig gestellt werden können;2 auf einen ebenso natürlichen ökonomischen Grund, nämlich die Profitabilität der entsprechenden Betriebe, komme ich später noch zu sprechen. Es handelt sich hier vor allem um die Bereiche Automobil, Maschinenbau und Chemie, und zwar der gesamten Wertschöpfungskette entlang, deren Verlauf man eigentlich an dem sinkenden Niveau der anfangs noch übertariflichen Löhne nachzeichnen können müßte. Es ergibt sich das Bild einiger für den Export arbeitenden industriellen Hochburgen, unter denen sich die Ebene aufspannt, für die die Flächentarifverträge wirklich gelten, und hier wieder die zahlreichen Niederungen, in denen sie kaum merklich über oder sogar unter den hypothetischen Marktlöhnen, d.h. dem Existenzminimum liegen. Diese Landschaft aus Lohnhöhen folgt in der Struktur genau dem Aufbau der deutschen Ökonomie und ihrer Stellung in der internationalen Arbeitsteilung.
3. Es wäre lohnend, einmal einen Ländervergleich anzustellen nicht über die einzelnen Streiktage pro Arbeiter, sondern über die Stellung dieser Lohnkämpfe innerhalb der nationalen Wertschöpfungsketten. Vielleicht ließe sich Aufschluß finden über die keineswegs triviale Frage, warum in Deutschland insgesamt so wenig gestreikt wird. LeserInnen des „Sozialismus“ wissen besser als andere, daß die Löhne in Deutschland nicht erst seit heute hinter der gesamtwirtschaftlichen Produktivität zurückbleiben; aber nicht einmal seine Herausgeber können, fürchte ich, die Gründe nennen, warum der gesellschaftliche Deal in die Welt kam, der in Deutschland wahrscheinlich bis heute gilt: die Lohnzurückhaltung scheint sich nämlich für die Arbeitnehmer zu lohnen.
Der Lohnanteil am Sozialprodukt sinkt, und sogar das Sozialprodukt selbst steigt nicht besonders deutlich; aber offenbar noch genug, um das Versprechen von Wohlstand jedenfalls in Kurs zu halten. Ob diese Rechnung jemals aufgehen kann oder ob man hier eine aus der deutschen Geschichte sedimentierte Ideologie annehmen muß, ist hier gar nicht der Punkt. Jedenfalls scheint in Deutschland, es ist jetzt gleichgültig wann, ein Modell zur Vorherrschaft gekommen zu sein, das nahezu perfekt die streikfähigen Belegschaften und die Gründe für Lohnstreiks voneinander trennt.
Ökonomisch funktioniert das nur, indem man Krisenfolgen exportiert, wie man seit 2008 sehen kann, und politisch nur, indem man hässlichen ideologischen Nebenprodukte neutralisiert, etwa den giftigen Haß aufs Ausland, den jahrelange Hetze etwa gegen „die Griechen“ hat hochkommen lassen. Fällt eins von beiden aus, sagen wir mit der Hereinnahme der Syriza in die griechische oder aber, ganz anders, der AfD in die deutsche Regierung, dann ändert sich das vielleicht. Aber, und darauf kommen wir noch, vielleicht gibt es noch andere Tendenzen einer sehr tiefliegenden Veränderung.
4. Das Zurückbleiben der deutschen Lohnentwicklung hinter der der Produktivität, das ist wohl mehr oder weniger, was eingangs als „irreversible Niederlage im Verteilungskampf“ bestimmt war. Anscheinend wird diese Niederlage in Teilen der Klasse nicht als Niederlage begriffen, sondern als Transformation des Verteilungskampfes in einen der Nationalökonomien gegeneinander. Die Ungleichgewichte auf den Weltmärkten, die politischen Konflikte der großen Mächte untereinander haben auf einmal sehr viel mit diesem Verteilungskampf, wenn er einmal so verstanden wird, zu tun; durch die Krise seit 2008 hindurch transformiert er sich ins außenpolitische. Der „Kampf aller gegen alle im eigenen Lager“ ist auf internationaler Ebene unter den Lohnabhängigen damit Realität.
Spätestens hier rächt sich die anfangs bemerkte Unklarheit: ist das Rezept der Streeck und Scharpf nicht ein konstituierender Teil des benannten Problems statt der Lösung? Aber geht, was Wendl empfiehlt, darüberirgendwie hinaus? Es ist übrigens vielleicht gar nicht so sinnvoll, das alles unter dem Begriff des Flächentarifvertrags und seiner Krise zu verhandeln. Die „Flexibilität“ dieser Vertragswerke ist bekannt. Irreversibel ist die Niederlage, weil und soweit die Abkoppelung der Lohnentwicklung von der Produktivität für das heutige deutsche Wirtschaftsmodell selbst konstitutiv ist. Wenn die Gewerkschaften nicht lediglich noch ihren eigenen Rückzug decken wollen, müssten sie den Faden hier wiederaufnehmen.
Produktivität darf, das weiss Michael Wendl wahrscheinlich besser als ich, nicht einfach mit dem Betriebsergebnis verwechselt werden. Einzelbetrieblich ist eine solche Größe überhaupt nicht zu ermitteln, sondern sie ergibt sich lediglich als gesamtwirtschaftliche Größe, letzlich aus dem Außenhandel. Und hier ist unter Außenhandel auch der innerhalb des EU-Raumes zu verstehen. Erst auf dem Weltmarkt wird überhaupt letztlich Mehrwert realisiert, und erst von hier aus bestimmt sich, und zwar nach aggreggierten Größen, welche Entwicklung die Produktivität gegenüber den eingesetzten Arbeitsstunden nimmt. Und zwar hat sich, da sich ein „natürlicher“ Lohn schlechterdings nicht bestimmen lässt (es gibt bekanntlich keine ökonomischen Gleichgewichte), Lohnentwicklung aus den Überschüssen der Außenwirtschaftsbilanz zu bestimmen: solange es solche gibt, sind die Löhne zu niedrig, und zwar, wie sich zeigt, auf gefährliche Weise zu niedrig.
5. Solche Überlegungen zumindest könnte eine gewerkschaftliche Linke anstellen. Es gibt aber bei der Deutschen Bahn und ihren Gewerkschaften noch eine Reihe spezifischer Entwicklungen, die mit dem Charakter der Bahn als formell privatisiertem Staatsbetrieb zu tun haben. Unstreitig gibt es dort einen Flächentarifvertrag und eine Branchengewerkschaft, die EVG. Läßt sich der dortige Konflikt jetzt als Modell für die „Krise des Flächentarifvertrags“ hernehmen?
Wie man es nimmt. Ich will erst einmal eine Hypothese aufstellen. Nehmen wir an, einer Gewerkschaft ist der größte Teil ihrer Mitgliedschaftsbasis durch Stellenabbau weggebrochen. Ihre Mitgliedschaft besteht zum großen Teil aus Pensionären. Ihre Finanzen sind, vorsichtig ausgedrückt, in Unordnung. Ohne die direkte, materielle Hilfe des größten und beinahe einzigen Arbeitgebers wäre sie zahlungsunfähig. Nehmen wir weiter an, das Tarifeinheitsgesetz wäre bereits in Kraft, und eine konkurrierende Gewerkschaft möchte dennoch einen ebenfalls konkurrierenden Tarifvertrag abschliessen. Wie würde etwa selbst das Bundesarbeitsgericht, bekanntlich nicht gerade eine Hochburg von Arbeitermilitanz, den Fall beurteilen? Wäre die erste Gewerkschaft denn nicht etwa, weil sie gegnerfinanziert ist, automatisch tarifunfähig?
Ich will es den LeserInnen überlassen, diese Hypothese auszumalen. Aber vor dem Hintergrund eines solchen, zunächst rein hypothetischen Szenarios müßten doch sicher Wendls Vorschläge am Schluß seines Artikels außerordentlich unpassend erscheinen.
6. Die Gewerkschaften des DGB pflegen dergleichen gewerkschaftspolitische Konstellationen durch Fusion zu lösen. Und in der Tat wäre in einem solchen hypothetischen Fall die angeschlagene Einzelgewerkschaft vor dem sicheren Untergang nur durch einen schnellen Zusammenschluss mit einer anderen, großen und branchenfremden zu retten gewesen; denn es scheint, dass ihre Krise die einer ganzen Branche ist. Auch die empirisch existierende EVG ist bekanntlich dringend ein Übernahmekandidat. Genau das versucht die Deutsche Bahn übrigens zu verhindern. Wie soll man solche Zustände eigentlich nennen?
Fusionen lösen das Problem aber insgesamt nicht wirklich.3 Die Lohnstaffelung je nach, wie wir es jetzt nennen können, Weltmarktnähe widerspricht direkt jedem Anspruch auf eine an der Produktivität orientierten Lohnfindung. Ob diese eklatanten Lohndifferenzen in ein und demselben Vertragswerk geregelt und von einer Branchengewerkschaft moderiert werden, macht zuletzt auch keinen größeren Unterschied. Das Problem besteht darin, wie die Lohnverluste in der Ebene umgekehrt werden könnten. Und hier liegt, fürchte ich, der Grund, warum ich Wendls Bewertung des GDL-Streiks im Ergebnis für falsch halte.
7. Das gesellschaftliche Klima der Lohnsenkung und des Verzichts ist seit Jahrzehnten auch eines des permanenten Appells an den Gemeinsinn, eines nationalen Altruismus, einer Standortsolidarität. Aber es handelt sich hier nicht um bloße Propaganda, denn es kommen ihr zwei Dinge entgegen: erstens der ökonomische Erfolg dieses Standorts, der jedenfalls den Arbeitenden eine gewisse Sicherheit des Einkommens zu garantieren scheint; und zweitens verschiedene Versatzstücke von Arbeitnehmersolidarität selbst, die unter dieser Ummünzung allerdings giftigen Charakter annehmen.
Man hat in der Agitation gegen „die Griechen“ nach 2008, wenn man nur wollte, genug Gelegenheit gehabt, zu sehen, wie sich diese Elemente zu überlagern im Stande sind zu einem funktionierenden Haß auf die, denen man nachsagt, daß sie diesen Verzicht gerade nicht oder nicht ausreichend geleistet haben. Die AfD rekrutiert ihre Wählerschaft aus diesem Spektrum, und es war immer eine Illusion, daß solche Parteien hauptsächlich für die CDU eine Konkurrenz sind. Die Linke selbst hat sich in der Agitation gegen den „Egoismus“ der Banker oder Manager derselben Denkstruktur bedient. Während des GDL-Streiks hat die gesamte Medienmaschine dieses Ticket genutzt, um den Streik zu delegitimieren und die GDL-Führung physisch einzuschüchtern; anders kann man die Veröffentlichung der Privatwohnung des GDL-Vorsitzenden durch das Blatt „Focus“ kaum empfinden.
Diese Kampagne hat indessen keine Früchte getragen. Weselskys Wohnung ist ja nicht etwa von einem wütenden Mob heimgesucht worden. Es wäre lohnend, einmal der Frage nachzugehen, ob der „Egoismus“ der streikenden Lokomotivführer nicht ganz die gegenteilige Wirkung haben könnte, als Wendl anzunehmen scheint: als ein Signal gegen den Standortfrieden, durchaus auch in den Schichten verstanden, die als nicht genügend streikfähig gelten. Etwas mehr soziale Unruhe täte der Lohnfindung sicher ganz gut, ehe noch der Eindruck entsteht, als ob lediglich die Mahnung der Bundesbank die Tarifparteien zu einer wenn auch unerheblichen Lohnerhöhung bewegen könnte.