Die Wahl der Qual und der pädagogische Auftrag des Schauspiel Leipzig

von Seepferd

 

Am Abend vor der Bundestagswahl lud das Leipziger Schauspiel zur Lesung des Grundgesetzes ein, natürlich nicht um das angeblich wichtigste juristische Dokument der Bundesrepublik in voller Länge vorzutragen, sondern um einige „Highlights“ ins Gedächtnis zu rufen. Es stimmt wohl, das GG ist nicht unbedingt etwas, was mündige BürgerInnen jeden Abend vor dem Einschlafen lesen, um die Sorgen des täglichen Konkurrenzkampfes abzuschütteln. Dafür könnten sie es ja sich am Samstagabend von zwei Schauspielern vorlesen lassen, was nicht unlogischer ist, als manche andere Freizeitbeschäftigung der Leute.

Die zwei Herren Schauspieler gehen voller Ernst und Stolz dem politisch-pädagogischen Auftrag des Theater nach. Die etwa 15 oder 16 mündige BürgerInnen (mich inklusive), die am Samstagabend dermaßen nichts Besseres zu tun haben, als sich die „Highlights“ des GG zwei Stunden lang vorlesen zu lassen, ertragen die Veranstaltung ziemlich brav und husten selten. Durch Wolken von Zyklon B und Betonstaub zerbombter Städte scheint die List der demokratischen Vernunft zum Deutschen Volke seit 1949 ununterbrochen. Der leidvolle Weg durch die Geschichte war nicht umsonst, dafür wird man sogar belohnt, denn im Flur werden Exemplare des Grundgesetzes verschenkt. Das Ganze ähnelt immer mehr einer Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung.

Nach der Pause schrumpft das Publikum fast um die Hälfte. Das bedeutungsschwer, aber kommentarlos rezitierte GG verliert seinen Reiz. Die schwere Luft im Raum, macht es auch den Vorlesern nicht leicht. Auch meine Konzentration schwindet, dumme Gedanken ersetzen allmählich die Sorge um das allgemeine Wohl. Säße ich hier, hätte ich FreundInnen, statt MitbürgerInnen? Wäre der Abend besser geworden, hätte ich mich z.B. bei Tinder registriert? Wäre die Begegnung mit warenförmigen, aber empirischen Fickpartnern wenigstens unterhaltsamer als diese Begegnung mit dem hobbsschen Allgemeinmenschen deutscher Prägung, dessen Würde zu schützen die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist? Gibt es nicht mehrere Wege, der mit konkreten Waffen ausgestatteten Abstraktion des Staates zu frönen und so die Volksgemeinschaft herauf zu beschwören, die sich nicht im Geringsten widersprechen? Beruft sich LEGIDA auch nicht unter Umständen auf das Widerstandsrecht (Art. 20)? Was nützt mir eigentlich Tinder, denn ich bin anscheinend zu alt, um solche Fürze in mein Gesicht wie „dass der solcherart halbierte Adorno mittlerweile zum Sinnstifter der staatsoffiziösen antifaschistischen Ideologie geworden ist“, witzig zu finden? Woran denke ich bloß? Was mache ich hier überhaupt?

Indes endet aber die Lesung, das Finanzwesen wird „ersparrt“. Leider auch das Deutschland nicht gesungen. Die Sprechpuppen der Staatlichkeit und das Publikum schauen sich kurz fragen an. Aber nein, die Sachen werden gepackt, die Jacken angezogen, kein Diskussionsbedarf, kein Dialog, nothing personal. Diskussion scheint auch nicht vorgesehen worden zu sein, was soll man am GG diskutieren, wenn man keinE ExtremistIn ist? Pflicht erfüllt, ab nach hause. Denn am Sonntag gilt es das Schlimmste zu verhindern. Nein, nicht der Erbärmlichkeit des eigenen Lebens ein Ende zu setzen, sondern sich nicht vorwerfen zu lassen, die AfD säße im Bundestag, weil man nicht wusste, was man denn sonst wählen sollte.

Gern würde ich heute Nacht jemandem aus Erich Mühsam vorlesen: Es ist ein Aberglaube, dass aus Links-Wählern ein Rechtsstaat werden könnte. Die Theorien der Konservativen und der Anarchisten berühren sich in einem wichtigen Punkt. Beide bestreiten, dass man im Staat ein notwendiges Übel zu erkennen habe“. Aber niemand ist da, der darüber lachen könnte.

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