Etwas zur Organisationsfrage

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Unsere Kritik des linken Sektenwesens hat ja eine sehr günstige Aufnahme in der linken Szene erfahren, sie traf wohl auf ein verbreitetes Unbehagen, und das ist uns natürlich recht; aber wie geht es von hier aus weiter? Es wäre natürlich bestimmt keine gute Idee, alle einfach einzusammeln, die uns zustimmen, und unter diesen einen neuen Zusammenschluss zu organisieren. Dann hätten wir alles unsrige getan, damit die Kritik des linken Sektenwesens die Gestalt einer weiteren linken Sekte annimmt und ad absurdum geführt wäre.

Das werden wir nicht tun. Aber das selbe Schicksal ereilt, behaupte ich, unweigerliche jeden Versuch, der aus dem Ekel heraus, den man vor dem jetzigen Zustand haben muss, beginnt, das Ganze einfach von vorne anzufangen. Aber was soll man dann sonst machen? Denn diese Situation ist gar nicht neu und aussergewöhnlich, sondern sie ist historisch der Regelfall. Der gesellschaftliche Prozess tritt dem betrachtenden Verstand, d.h. etwa dem theoretisierenden Linken als ein geschlossener Kreislauf entgegen, und dem Verstand bieten sich mehrere theoretische Möglichkeiten des Handelns an. Welche „die richtige“ ist, ist nicht theoretisch entscheidbar. Sondern es gibt mehrere plausible, aber einander ausschliessende Ideen; und es ist im Grunde eine Frage der Wahrscheinlichkeit, welcher man zuletzt anhängt.

Es ist einmal gesagt worden: ob etwas richtig ist, das „hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln,“ und das ist natürlich an sich auch richtiger als die Idee, man müsse erst einmal den richtigen Weg theoretisch sich ausdenken. Aber es ist kurios, wie selbstverständlich die Autorin dieses Satzes davon ausgeht, dass alle Linken natürlich überhaupt ein gemeinsames Ziel haben, und nur über die Mittel im Streit liegen. Und anscheinend alle seither genauso.

Aber es ist ja rein oberflächlich schon schwer zu begründen, dass z.B. Anarchisten und Leninisten verschiedene Ausprägungen ein und derselben Sache, eben der Linken, sein sollten. Auch wenn sie sich zuweilen im selben Milieu herumtreiben, dieselben Publikationen benutzen, bei einander um Bündnisse oder Unterstützung werben und an gemeinsame „Werte“ appellieren etc. Genausogut könnte man die Linke als denjenigen gemeinsamen Marktplatz verstehen, auf dem die verschiedensten Strömungen bestenfalls versuchen, einander zu benutzen; nicht viel anders, als das alle Glieder der Gesellschaft auch tun.

Wenn es aber die zu Grunde liegende Gemeinsamkeit nicht gäbe, worauf beruht dann dieser gemeinsame Marktplatz? Wer ist diese Linke denn dann, die so viel gemeinsam zu haben behauptet und trotzdem hauptsächlich gegeneinander arbeitet? Wie ist ihr zu helfen, was kann aus ihr gemacht werden; wir hatten ja behauptet: garnicht und garnichts, aber sogar dann stellt sich die Frage, wie von hier aus weiter?

2
Es ist uns, in einem etwas anderen Zusammenhang, folgender Einwand gemacht worden:

„Der Vorwurf, erhoben von einem Linken, dass ein anderer Linker sich durch Unterlassung wahrhaft revolutionärer Tätigkeit hervortue, kann niemals von jemanden erhoben werden, der revolutionär tätig ist. Wer das ist, hat diese Probleme nicht. Der Vorwurf wird also nur richtig, wenn er von allen Linken gegen alle Linken erhoben wird. Vielleicht begreifen sie dann, dass sie alle miteinander nicht revolutionär sind. Und vielleicht änderten sie es dann.“

Diese Logik ist uns wohlbekannt. Sie ist in wenigen Zeilen sehr präzise formuliert. In einer älteren unpräziseren Fassung war sie einmal fast richtig. Heute, behaupte ich, ist sie falsch. Wie kann das sein? In der älteren Fassung hiess es über die linken Strömungen, Sekten, Gruppen:

„Der vielleicht grundlegende Mangel der Gruppen besteht darin, dass sie sich in den meisten Fällen ihrer Partikulärität und Einseitigkeit nicht bewusst sind. In der Regel wird ein Teilbereich für das Wesen der Sache genommen; die Gruppen meinen, ihr jeweiliges Tun und Denken sei bereits die Totalität des revolutionären Projekts oder zumindest dessen allein Erfolg versprechende Vorbereitung.

Es ist offensichtlich, dass die Weigerung der Gruppen, sich als Scherbe unter anderen zu erkennen, es von vornherein unmöglich macht, die eigenen blinden Flecken wahrzunehmen und zu überwinden.

Das Zerfallen der Bewegung in Scherben muss kein Unglück sein, wenn die jeweiligen Scherben die abgespaltenen Anteile ihrer selbst erkennen und aufnehmen. Ziel müsste es sein, eine subversive Kraft zu schaffen, die die vorhandenen Splitter in sich aufhebt und dabei vollständig verwandelt. Dies ist das Gegenteil von allseitiger Akzeptanz und Toleranz, sondern bedeutet Streit. Also kein all-linker Pluralismus, dem es nur darum geht, dass alle etwas mehr miteinander reden, sondern im Gegenteil das Eingeständnis, dass alle Splitter gleich wenig taugen und dass, wenn sie sich nur gut verstehen würden, dies auch nichts an ihrer Unzulänglichkeit ändern würde.

Der erste Schritt zum Besseren bestünde schlicht und einfach darin, zu erkennen bzw. sich einzugestehen, dass man selbst nicht mehr als eine Scherbe ist. Der Hochmut gegenüber anderen könnte dann ebenso abgelegt werden wie die Abwehr von Selbstkritik.

ein Zusammentreffen negativer Geister unterschiedlicher Art“

Diese Lehre hatte damals, als sie zuerst erschien, den Vorzug und das Verdienst, auf das völlige Ungenügen des linken Sektenwesens hinzuweisen und als erste eine Veränderung der völlig verfahrenen Standpunkte nicht als Bedrohung, sondern als erwünschtes Ergebnis dargestellt zu haben; und zwar eine Veränderung, die sich gerade aus einem Durchgang durch Praxis ergeben sollte. Das alles ist fast richtig; es bleibt unzureichend, weil es den einmal gegebenen Horizont genau betrachtet auf gaqr keine Weise überschreitet.

Es gibt nämlich eine Reihe Voraussetzungen bei dieser Logik, die nur zum Teil wieder eingeholt werden können. Und zwar erstens: woher denn bezieht man die olympische Einsicht, die den anderen verschlossen bleibt, die in die Partikularität des eigenen Treibens etc.? Man bezieht sie aus dem realen Ekel, dem auf die Sprünge geholfen wird durch eine grundsätzliche Reflexion.

Jochen Bruhn hat diese Reflexion in seinen Thesen zur Staatskritik formuliert:

„Die Linke denkt klassisch die Gesellschaft in der Perspektive von ökonomischer Krise und Zusammenbruch. Sie denkt die Ökonomie als das zentrale Verhältnis der Ausbeutung, das den Staat strukturiert und aus dem er sich “ableitet” … Ebenso klassisch betrachtet die Rechte die Gesellschaft in der Perspektive von politischer Krise und Staatsstreich. Sie denkt die Ökonomie als das an sich selbst neutrale Mittel der “Bedarfsdeckung”…. Die historischen Gestalten anarchistischer und marxistischer Staatstheorie haben das bürgerliche Spiegelspiel der Politik in den Reihen der Opposition nur wiederholt und damit die Hegemonie der objektiven bürgerlichen Denkformen noch über ihre entschiedene Opposition bewiesen.“

Formulieren wirs etwas um. Die Gesellschaft ist, wie sie besteht, eine derart widersprüchliche Angelegenheit, dass sie selbst sich nur wieder in Form von Widersprüchen begreifen kann; das gesellschaftliche Bewusstsein zerfällt in Ideen, historisch (wir sind grad mitten im 19. Jhd.) in die („klassische“) Linke und die Rechte von 1848. Aber damit ist es nicht getan, sondern das ganze setzt sich in der Linken fort, in der äussersten Linken etwa in denjenigen Konflikten, die zum Zerfall der ersten Internationalen führten.

Das ist nicht nur (im grossen und ganzen) richtig, sondern kann leicht in die Wirklichkeit verlängert werden: an jeder historischen Biegung, Revolution wie Konterrevolution, tritt eine weitere Verdopplung ein, so im Marxismus 1914-1920, in seiner revolutionären Richtung die zwischen Räte- und Parteikommunisten, dann die der Linksopposition, Trotzkisten etc, später Maoisten.

(Noch mehr, es kann auch leicht nach hinten ins theoretische verlängert werden: wie in allen grossen Parteikämpfen, schon in der Religionsgeschichte, trifft man an jeder Stelle auf das für den menschlichen Verstand unentscheidbare, aber immer sich aufdrängende Problem der Universalien: was ist real, das empirische Einzelding oder das gedachte Ganze? Dazu haben wir an anderen Stellen geschrieben.)

Es ist aus der Betrachtung der Geschichte fast unwiderleglich, das müssen wir dem Autor der Scherbentheorie zugestehen, dass in der Tat jeder Standpunkt innerhalb der Linken partikular, einseitig etc. ist und keineswegs ausreicht, eine revolutionäre Totalität darauf zu gründen. Aber, und das ist das zweite Problem, damit ist noch lange nicht der Weg gezeigt, wie diese Partikularität, Einseitigkeit etc. behoben werden könnte.

Denn das ist ein ganz anderes Ding. Welche unter den politischen Ideen, die in der Gesellschaft in Umlauf sind, müssten wir denn dann als uns entfremdete Teile unserer Wahrheit akzeptieren? Welche Ideen gehören denn „der Linken“ an und welche nicht? Und das ist nicht so leicht zu beantworten wie das erste Problem, sondern das könnte nur eine Art Laplace’scher Dämon; eine Person, die personenidentisch mit dem Weltgeist wäre.

Was im 19. Jahrhundert die („klassische“) Linke und Rechte war, hat sich auf hunderterlei Weisen neu kombiniert. Ab wann z.B. gehörte die Sozialdemokratie nicht mehr zu den Stationen auf diesem Weg? Ab wann der Nationalstaat? Die Frage stellen, heisst sie beantworten. Aber man kann ja trotzdem nicht sauber aus dem, woraus die heutige Linke hervorging, alles wegschneiden, was heute zu der heutigen Linken nicht mehr passen will; sondern es sind ja aus denselben Wurzeln die gegensätzlichsten Bewegungen hervorgegangen. Die Faschisten und Nationalsozialisten haben sich mit demselben Recht auf das Erbe des Blanqui berufen können, wie die entschiedne Linke es getan hat. Es sind eigentlich alle politischen Ideen des 20. Jahrhunderts aus der Linken des 19. Jahrhunderts hervorgegangen.

Was jeweils in einer Epoche als die Linke gilt, ist eine Funktion, ein Produkt der Geschichte, und sie nimmt keinen privilegierten Ort ein. Ihre Sortierung ist historisch zufällig. Sie setzt sich in jeder Epoche neu zusammen, soweit man ihr überhaupt eine innere Einheit zusprechen will; was sie in jeder Epoche zusammenhält, ist an diese Epoche gebunden und ansonsten rein zufällig. Am Ende jeder Epoche kombiniert sich alles neu; daher die für viele so verstörenden Fälle der sogenannten Renegaten.

Ihr einzelnen Strömungen haben miteinander nicht viel mehr gemeinsam, als sie andererseits mit anderen Strömungen ausserhalb der Linken gemein haben; daher das ebenso merkwürdige Phänomen, das man Querfronten nennt. Sie hat überhaupt kein gemeinsames Zentrum und kein Prinzip ihrer Einheit, sowenig die Gesellschaft insgesamt ein Zentrum und Prinzip ihrer Einheit hat.

Und sogar angenommen, wir hätten in unseren Reihen einen Genossen von derart olympischer oder zen-hafter Einsicht, dass er uns klar sagen könnte, welche politischen Ideen richtigerweise zu der Linken gehören und welche nicht, welche wir also als verdrängte Momente unserer selbst akzeptieren hätten: was hätten wir dann für einen Schatz von Ideen in den Händen? Einen Haufen miteinander nicht verträglicher, einander widerstreitender Ideen: tatsächlich wie ein Haufen Scherben, aber so, dass sie nicht, wenn man sie zusammensetzt, einen ganzen Krug ergeben; auch nicht weniger als einen Krug, etwa einen Krug mit Löchern; sondern sozusagen mehr als einen Krug, indem die einzelnen Scherben nämlich grösser sind als sie sollten, damit man sie zusammensetzen könnte. Sie können nicht einfach addiert werden. Alle für sich sind zu wenig, alle zusammen sind zuviel.

Was wollen wir also mit den Scherben ausser das, dass sie uns präzise sagen, dass ein Krug nicht besteht? Aus dem Bild zurück: was sich hier zusammenfügen soll, sind sämtlich die falschen Ideen der Gesellschaft selbst. Sie sind nur insoweit überhaupt interessant, dass sie anzeigen, dass diese Gesellschaft selbst falsch zusammengesetzt ist. Im Übrigen sind sie nutzlos. Anders ausgedrückt: es folgt aus der Einseitigkeit der Ideen vielleicht, dass sie einzeln falsch sind. Es folgt aber nicht draus, dass sie zusammen richtig sind. Und das lässt sich ganz einfach aussprechen und hat an sich noch gar nichts mit der Frage zu tun, ob man selbst „revolutionär tätig ist“. Was immer das heisst.

Die Linke ist kein besonderer Ort, bloss weil in irgendeiner Form jeder Unsinn, der irgendwo in der Gesellschaft gedacht ist, auch vorkommt. Noch weniger ist sie ein Ort, der irgendeine Macht über diesen Unsinn hat. Er liegt in ihr vor, so wie er an anderen Stellen auch vorliegt, sie ist nicht besser als irgendeine andere beliebig zusammengelaufene Menge Menschen, sie ist im besten Fall nicht schlechter.

3

Die Scherbentheorie hilft uns also in der Tat nicht einen Schritt weiter. Sie dient dagegen gut dazu, uns allerhand Kram unterzujubeln, den wir nicht brauchen können. Deswegen legt man sie uns ja auch gerade dann nahe, wenn wir uns dagegen wehren, den plumpesten Leninismus wieder zu Ehren zu bringen.

Aber ist denn unser Anti-Leninismus einseitig? Oh, ganz ohne Frage ist er das! Aber das ist nicht ein Mangel, der dazu drängt, uns den Leninismus auf andere, höhere Weise wieder anzueignen. Sondern das ist ein Mangel, der dazu drängt, die Gründe zu beseitigen, die eine Wiederkehr des Leninismus möglich machen.

Beginnen wir nocheinmal mit der Organisationsform! Und sprechen wir nochmal von der Partei. Die Idee der Partei steckt noch in allen Köpfen, und da muss sie heraus. Die Partei hat natürlich den unbestreitbaren Vorzug, dass sie gleich zwei Probleme mit einmal löst: nämlich das Organisationsproblem der Linken selbst, und hernach das Organisationsproblem der ganzen Gesellschaft, und zwar beides gleich famos.

Man muss sich gar nicht lang damit aufhalten, was für eine mangelhafte Lösung das in beiderlei Hinsicht immer gewesen ist. Es bringt auch gar nichts, weil die Verteidiger der Partei leicht mit allerhand Gegengründen um die Ecke kommen werden, von denen mein liebster immer noch der vom Chruschtschow-Revisionismus ist: die Sowjetunion war seit 1956 eigentlich schon kapitalistisch, und nur deswegen hat alles so schlecht funktioniert. Zwischen der Wahrheit und dem Argument ist viel Platz; und zwar viel Platz für allerhand anderer fadenscheiniger Argumente.

Betrachten wir stattdessen die Grundlagen. Die Partei, und zwar gleich welche es ist, d.h. gleich welche Clique und welche Spezialdoktrin sich unter den rivalisierenden Gruppen durchsetzt, soll natürlich nicht eine beliebige Räuberbande sein, die sich die Macht unter den Nagel reisst; sondern sie soll ein Mittel grundsätzlicher gesellschaftlicher Veränderung sein. Wessen Mittel? Das Mittel derjenigen, die an dieser Veränderung interessiert sind, der unterdrückten Klassen.

Aber wie kommt dieses Mittel zustande? Die Leninisten sind, wo sie ihre Lehre ehrlich vertreten und nicht so verlogen und verdruckst wie der uns neulich untergeschobene Gastautor, sehr klar über diesen Punkt: es kommt zu ihnen von den privilegierten Klassen, weil die arbeitenden Klassen nicht die Mittel, also weder die Musse noch die Bildung besitzen, sich die Einsicht und die Organisation selbst zu verschaffen.

Diejenigen Linken, die die Partei gründen, sind also, sagen die Leninisten und sagt auch die Erfahrung, meistens Intellektuelle aus den mittleren Schichten. Diese Partei arbeitet die Lehre und die Strategie für den Befreiungskampf der unteren Klassen aus, und leitet diesen an. What could possibly go wrong?

Das Problem dabei fällt natürlich den Leninisten auch auf, und sie denken viel darüber nach, wodurch denn garantiert werde, dass die aus den Mittelschichten gegründete und bemannte Organisation denn nun das echte und authentische Organ der unteren Klassen werde. Lukacs, der organische Philosoph des Leninismus, und ein hemmungslos anti-materialistischer Hegelianer obendrauf, will das Problem gelöst sehen durch

„die lebendige Wechselwirkung zwischen Parteiorganisation und unorganisierter Masse… Denn der Maßstab und der Wegweiser für die richtige Beziehung von Partei und Klasse kann nur im Klassenbewußtsein des Proletariats aufgefunden werden. Einerseits bildet die reale, objektive Einheit des Klassenbewußtseins die Grundlage der dialektischen Verbundenheit in der organisatorischen Trennung von Klasse und Partei. Andererseits bedingt das nichteinheitliche Vorhandensein, die verschiedenen Grade der Klarheit und Tiefe dieses Klassenbewußtseins in den verschiedenen Individuen, Gruppen und Schichten des Proletariats die Notwendigkeit der organisatorischen Abtrennung der Partei von der Klasse…

Der Kampf der kommunistischen Partei geht um das Klassenbewußtsein des Proletariats. Ihre organisatorische Trennung von der Klasse bedeutet in diesem Falle nicht soviel, als ob sie statt der Klasse selbst für die Interessen der Klasse kämpfen wollte. (Wie dies etwa die Blanquisten getan haben.) Tut sie auch dies, was im Laufe der Revolution zuweilen vorkommen kann, so geschieht es nicht in erster Reihe um der objektiven Ziele des betreffenden Kampfes willen (die auf die Dauer sowieso nur durch die Klasse selbst erkämpft oder bewahrt werden können), sondern um den Entwicklungsprozeß des Klassenbewußtseins zu befördern und zu beschleunigen.“

Dass also die Partei echtes Organ der Klasse ist, der sie gar nicht angehört, ist garantiert dadurch, dass sie auf der Einheit des Bewusstseins dieser Klasse aufruht, welche Einheit nicht besteht. Deswegen ist natürlich die Partei ermächtigt, diese Einheit des Klassenbewusstseins selbst herzustellen, indem sie sie simuliert; oder aber indem sie die Entwicklung dieses Klassenbewusstseins „beschleunigt“, und zwar natürlich in die Richtung, die sie für die richtige erkennt, d.h. indem sie es manipuliert. Man kann in der Tat Lukacs viele Dinge vorwerfen, aber nicht Mangel an Ehrlichkeit!

Moufawad-Paul, der sich neuerdings einen Namen als der neue organische Philosoph des Leninismus macht, unterscheidet sich von Lukacs vor allem durch den Misserfolg von 100 Jahren dieser Arbeit; aber immerhin hat die von ihm bevorzugte Richtung ein ganz anderes Mittel der „Wechselwirkung zwischen Parteiorganisation und unorganisierter Masse“ gefunden, nämlich die Massenlinie und die Kulturrevolution. Die Partei ist von der Klasse immer noch organisatorisch getrennt, aber sie ist der Kritik der Massen unterworfen; sie ist nicht ursprünglich Organ der Massen, aber sie ermöglicht ihnen, sie zu ihrem Organ zu machen. War diese Idee Realität? Löste sich also die Absonderung der Partei in die Gesellschaft hinein auf?

„Und in der sogenannten Kulturrevolution, so erfahren wir bei M., wandte die chinesische Partei diese Kritik auf sich selbst an: die Roten Garden, die Mao gegen den Parteiapparat mobilisierte, sollen, so hören wir, eine praktische Kritik der Begrenzungen des reinen Leninismus gewesen sein. Weiran Lin, der als Schüler dabei war und es später historisch untersucht hat (The Cultural Revolution and Class History, Madison 1996), weiss es anders: die Roten Garden waren ürsprünglich die Jüngelchen der privilegierten Parteikader, die vom Führer ermächtigt wurden, ihre nichtprivilegierten Kommilitonen, Lehrer usw. in Unterwerfung zu terrorisieren oder umzubringen. Die Funktionärsjugend des Staatskapitalismus ersäufte ihre Lehrer, weil deren Eltern Bauern, oder die es die goldne Jugend nannte: Kapitalisten waren. Als sich dagegen in der zweiten Phase die Bauernjugend begann, ebenfalls zu organisieren, und Kinder der herrschenden Schicht als das anzugreifen, was sie waren: als die Leute der neuen herrschenden Schicht, da fand der Führer das selbstverständlich übertrieben. Als die Partei, die neue herrschende Klasse, in das Fadenkreuz neuer Arbeiter- und Studentenverbände geriet, wurde das Militär mobilisiert und die Kulturrevolution abgebrochen.“

Das Kunststück, die Partei zu einem Organ der „unorganisierten Massen“ werden zu lassen, ohne dass sie sich in der Gesellschaft auflöst, gelingt natürlich nicht. Und auflösen, so hören wir, darf sie sich natürlich nicht; denn sie ist Trägerin des politischen, d.h. des revolutionären Willens. Sie, und nicht etwa die Gesellschaft oder die Klasse; sondern, machen wir uns die logische Sackgasse nur recht klar, die Gesellschaft bzw. Klasse benötigt sie als Organ, vermittelst dessen sie die Macht im Staat haben kann.

Genausowenig wie die arbeitenden Klassen, solange sie arbeitende Klassen bleiben, selbst eigene Organisationen bilden und eigene Doktrinen ausdenken können, genausowenig können sie die Macht im Staate innehaben. Nur wenn sie aber die Macht im Staate innhaben, können sie sowohl aufhören, arbeitende Klasse zu sein, als auch den Staat in die Gesellschaft aufzulösen. Also beides nur vermittelst der Partei! Die sich aber, um dieses Ziel zu erreichen, wiederum zusammen mit dem Staat auflösen müsste, und das wird einer Organisation, die Panzer in Bewegung zu setzen vermag, eher nicht tun.

Die Art und Weise, wie die Partei in Wirklichkeit statt in der Theorie des leninistischen Idealismus zu so etwas wie einem Organ der Massen, der Klasse, der Gesellschaft etc. wird, ist dagegen eine ganz andere.

“ Was an illegalen Organisationen die Verfolgung durch den Staat überlebte, war der Verfolgung durch die PKK ausgesetzt. Zuletzt stand die PKK als völlige Herrin über den einzigen vorhandenen Weg politischer Veränderung da. Was die PKK mit den konkurrierenden Organisationen ausser ihr, machte ihr aufstrebender Anführer mit seinen Konkurrenten innerhalb. Für ihn war die Partei identisch mit ihm selbst, und er arbeitete rastlos, dass sie es wurde. Er wurde ein Meister darin, Funktionäre, vor deren Fähigkeiten er sich fürchtete, in Schwierigkeiten zu bringen, sie zu Schritten zu zwingen, die ihnen als Verrat ausgelegt werden konnten. Wer nicht erschossen wurde, den bekam er so in die Hand. Es wagte bald niemand, seinen zunehmend realitätsfernen Befehlen zu widersprechen.

Anfang der 1990er begann im Südosten und überall in den Städten eine grosse Welle von Protesten, massiven Demonstrationen und beinah Aufständen; und es ist merkwürdig und sehr instruktiv, wie und warum die revoltierende Jugend jetzt beginnt, ihre Loyalität auf die PKK zu richten; und zwar auf der einen Seite sehr hingebungsvoll, auf der anderen Seite aber keineswegs bedingungslos. Auf die vergleichweise kleine Organisation übt der riesige Zustrom von Anhängern durchaus einen gewissen Druck aus. Ab einem bestimmten Punkt der Popularität ist eine Organisation paradoxerweise auf einmal gezwungen, auf die öffentliche Meinung unter ihren Anhängern Rücksicht zu nehmen. Umgekehrt aber steigert sich der Machtkampf in genau dieser Phase, ebenso paradox, bis zum Fiederwahn. Denn der Massenanhang reisst an der Einheit der Partei, er setzt die vorhandenen Fliehkräfte frei. Die Organisation wird also keineswegs offener, sie wird nur immer straffer…

Die fugenlose Loyalität ist das einzige Mittel der Gesellschaft, auf die PKK Druck auszuüben; die PKK als ihr Werkzeug betrachten zu können, statt andersherum. Es ist aufschlussreich, weil es so gut dokumentiert ist. Und es ist wahrscheinlich nicht nur hier so, sondern erklärt vielleicht allerhand Dinge, die man anderswo auch sieht. …
Es sind aber noch ganz andere Schlüsse zulässig. Die PKK hat unter dem Druck solcher Loyalität ihre Doktrin oft genug geändert…. Aber über diese Häutungen hinweg ist sie doch in einem Punkt die gleiche geblieben. Sie wechselt das, was man ihre politischen Ideen nennt, nach Belieben aus; sie greift übrigens auch gerne noch auf die alten zurück, wenn Bedarf ist. Aber was ist denn die Konstante, genau? Das Eigeninteresse der Organisation? Aber die Kader werden genauso plötzlich ausgetauscht wie die Ideen, entmachtet, Säuberungen unterworfen, hin und hergeschickt, selbst die oberste Führung steht auf schwankendem Boden und ständig an der Grenze zum Hochverrat. …
Vielleicht bietet die PKK einen einzigartigen Einblick in das Wesen der politischen Ideen überhaupt. Sie sind leer und abstrakt. Sie sind ihrem Inhalt gegenüber völlig gleichgültig. Man kann jeden konkreten politische Inhalt von einem Tag auf den anderen loswerden. Was man damit nicht loswird, ist die Form der politischen Idee selbst: die Idee des zentralen Subjekts, das für die Gesellschaft denken soll; und gerade das ist, was man dringend loswerden muss. Die politische Idee ist die Platzhalterin der Staatspartei im Denken.“

Die Lösung ist im Grunde die gleiche, wie die bürgerliche Gesellschaft den ihr äusserlich gegenüberstehenden Staat als einziges als ihr eigens Organ „erkennen“, d.h. akzeptieren kann. Es ist dies die Lösung, die Hegel, Schmitt und Heidegger vorgeschlagen haben. Die Partei steht überhaupt zu der Gesellschaft in genau dem Verhältnis, in dem der Staat selbst steht. Dazu kann man wenn man will mehr nachlesen (in „Staat oder Revolution“, Freiburg iBr 2015, Abschnitte 93 ff.; mehr dazu demnächst Bd. II, Abschnitte 183 ff.); hier langts, dass mans einmal erwähnt.

4

Das Problem mit der Partei ist also haargenau dasselbe wie das mit dem Staat. Die Gesellschaft braucht etwas, woran sie ihre Einheit hat; und sie hat dies nicht ohne weiteres. Weniges philosophisch: sie braucht z.B. Organe, um zu handeln, aber sie hat keine Organe, sie besteht nicht als handlungsfähige Person. Die Gesellschaft bringt also nicht den Staat aus sich hervor, sondern der Staat steht ihr eigentlich äusserlich gegenüber. Er handelt als ihr Organ, aber er ist nicht ihr Organ; der Zustand, dass sie handlungsunfähig ist, dauern fort und verewigt sich.

Es ist alles andere als trivial, wie die Gesellschaft zu den Organen, die sie in 5.000 Jahren nicht gehabt hat und nicht haben konnte, dann auf einmal kommen soll. Aber dieser Zustand ist ja nicht streng naturgegeben, sondern hängt an seiner Wurzel zusammen mit dem Eigentum an Produktionsmitteln und der patriarchalen Familie (dazu, wenn man will, demnächst in „Staat oder Revolution Bd. II“ auch noch ausführlicher.) Und es ist ja nun nicht so, dass alle diese Dinge um Prozess der Revolution nicht in Frage gestellt würden; es ist absolut nicht undenkbar, wenns auch hier nicht das Thema ist, dass Formen gefunden werden, wie die Gesellschaft zu Organen kommt, die sie als ihre eigene ansehen kann.

Es ist dagegen wirklich undenkbar, dass das durch Dazwischengreifen der Partei geschieht. Was hätte also eine revolutionäre Bewegung von dem Leninismus aufzunehmen? Nichts, ausser wie sie sich seiner erwehrt; sich dagegen versichert, von ihm übernommen und ausgebeutet zu werden. Sie steht zu ihm im Grundalso im selben Verhältnis wie zu jeder beliebigen konterrevolutionären Bewegung, zum Khomeinismus, Salafismus, Hitlerismus etc.

Folgendes lernt man also von dem Leninismus, dass man genötigt ist, eine Lösung für das Problem der gesellschaftlichen Organisation zu finden; und dass das nicht ohne weiteres, d.h. nicht ohne Veränderung der gesellschaftlichen Formen, zu finden ist, d.h. durch Veränderungen der Gemeindeorganisation, des Bodenrechts, des Eigentums an Produktionsmittel; und der Familienform und des Geschlechterverhältnisses. Wenn eine Lösung des Problems auch damit nicht zu finden ist, dann ist sie garnicht zu finden. Ob es so ist, ist mit den Mitteln der Theorie nicht beweisbar und nicht widerlegbar.

Wenn das aber so ist, was reitet dann die linken Intellektuellen, dass sie die Lösung hartnäckig auf einem Wege suchen, auf dem noch nicht einmal das Problem zu finden ist? Denn es ist doch auffällig, dass die sogenannte Organisationsfrage immer auf diese Weise diskutiert zu werden scheint, dass es die linken Intellektuellen sind, die zuallererst miteinander sich organisieren sollen. Wozu aber das denn? Damit man immer weiter gezwungen ist, gegeneinander absurde Fragmente von etwas zu vertreten, was auch zusammengesetzt keine Wahrheit wird?

Der schwierigere Weg wäre natürlich, sich mit ganz anderen Leuten zu organisieren, Kollegen, oder Nachbarn, die selber nicht zu der eigenen Szene gehören; und zwar nicht auf der Grundlage gemeinsamer Ideen, mit denen es auch gar nicht so weit her ist, sondern gemeinsamer Vorhaben.

5

Betrachten wir doch einmal das Verhältnis der Partei zu der gesellschaftlichen Bewegung noch einmal anders. Es ist jedem radikalen Sektierer bekannt, was es damit auf sich hat; denn jede Sekte rechnet jeder anderen Sekte mit Genuss vor, dass diese oder jene Bewegung, grössere oder kleiner, an ihr vorbeigegangen sei, von ihr nicht vorhergesehen worden war, sie überrascht hätte usw. Gemeint ist natürlich: wenn diese oder jene Sekte nicht ganz so nutzlos wäre, wäre das nicht gewesen.

Sondern was dann? Wäre sie, die hypothetische Sekte, dann im Zentrum der Ereignisse gestanden, hätte ihre Vorzeichen lange vorher erkannt, das Heranreifen der Bedingungen, und hätte die richtigen Vorkehrungen getroffen? Ist wohl jemals eine gesellschaftliche Bewegung so verlaufen?

Man muss einmal genau drüber nachdenken: wenn es so wäre, wie es offenbar das Sektenideal wäre, dann wäre die Sekte keine Sekte, sondern fugenlos identisch mit der gesellschaftlichen Bewegung. Wenn das auch nur möglich wäre, dann bestünde das Problem der gesellschaftlichen Organisation nicht so, wie es besteht.

Die gesellschaftlichen Bewegungen werden nicht von Organisationen gemacht, sondern von der, wie Lukacs es nennt, „unorganisierten Masse“. Die Organisationen rekrutieren vielleicht nachher kräftig Mitglieder aus dieser „unorganisierten Masse“. Aber sie werden nie gross und umfassend genug, um ihr die Arbeit der gesellschaftlichen Bewegung abzunehmen.

Paradoxerweise werden die Bewegungen also sozusagen von den unpolitischen Leuten gemacht, d.h. von denen, die man bisher nicht in einem der Sektenkonventikel gesehen hat. Von den Leuten, die nicht Marxismus-Leninismus, Kritische Theorie oder Queerfeminismus treiben. Und zwar gilt das nicht nur für die Revolutionen, die in den Geschichtsbüchern als welthistorische Ereignisse stehen, wie 1905, sondern für die kleineren, fast unsichtbaren; so wie die neueren Versuche von Arbeitern, sich in gewerkschaftsfernen Branchen zu organisieren, auch natürlich nicht von den Gewerkschaftsorganisationen ausgeht, sondern von informellen kleinen Kreisen. Wie sollte es denn auch anders sein?

„Spontaneismus“, nennen die Leninisten so etwas verächtlich, aber was heisst „spontan“? Spontan nennt man die Dinge, die ohne Zutun irgendeiner bereits bestehenden Organisation getan werden; oder alles, was jemand anderes als der Staat tut oder eine der Organisationen, die Schatten des Staats sind. Spontan in diesem Sinne ist also gar keine Eigenschaft einer Handlung, sondern eine Zurechnung. Spontane Handlungen dieser Art finden jede Sekunde milliardenfach statt.

Und umgekehrt, eine gesellschaftliche Bewegung, grösser oder kleiner, die nicht in diesem Sinne spontan ist, nennt niemand, der bei Trost ist, eine gesellschaftliche Bewegung. Der Militärputsch in Syrien 1967 nannte sich eine Revolution, aber wer sonst nennt ihn so? Die „Sozialistische Erziehungsbewegung“ mit ihren „Vier Aufräumarbeiten“ in China 1963 war eine administrativ gesteuerte Kampagne. Was ist der Unterschied zu einer Bewegung, die man wirklich eine Bewegung nennen würde?

Aber wie hecken denn die Leute solche gesellschaftlichen Bewegungen aus? Emanuel Sieyes und George Lukacs geben sich gleichermassen überzeugt, dass das gar nicht möglich ist. Aber umgekehrt ist es ja auch nicht so, dass eine Massenbewegung plötzlich, aus dem Nichts und ohne Vorbereitung entsteht. Betrachten wir die gewaltigen Streikbewegungen in Frankreich 1968, in Italien die ganzen 1970er, oder auch warum nicht in Deutschland 1918. Es zeigt sich, dass alle diese Bewegungen auf einer Art Organisierung aufruhen, und zwar gerade nicht Organisierung in einer klar verfassten und gegliederten Partei, Gewerkschaft oder Organisation, sondern wenn, dann an derem Rand; eher orientiert an dem Betrieb, der Abteilung, der Arbeitsgruppe; angetrieben nicht von einer fernen Parteidoktrin, sondern von dem betrieblichen Konflikt.

Solche Art von Organisierung ist gar nicht auf einen bestimmten Verlauf angelegt, und schon gar nicht auf Tag und Stunde. Sie hat nicht Programm und Organe, die von den an ihr Teilnehmenden getrennt wären. Sie ist Organisierung von ganz anderer Art als die Partei es ist. Sie ist unvermeidbar, unverbietbar, unaufhaltsam, denn sie ist identisch mit derjenigen Art der Koordinierung, die der Arbeitsprozess erfordert. Nur als ein Beispiel: das ist, wo die Leute alle diesen Sachen aushecken: in ihrem alltäglichen Leben.

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Das ist, wie gesagt, ein Beispiel. Es lassen sich noch mehr finden. Und das alles ist überhaupt keine neue Idee. Es wird von jeher praktiziert, aber vielleicht von einer anderen Sorte Menschen. Es ist nämlich eine ganz andere Nummer, es verlangt ganz andere Tugenden als die, mit denen man in irgendeiner linken Sekte weiterkommt. Es zeigt sich dann zum Beispiel, dass die anderen Leute dann lieber mit einem reden, wenn man sie nicht anlügt. Das wäre ein ungewöhnliches Verhalten für unsre Bolschewiken. Oder: es ist von Vorteil, wenn man sich selbst gar nicht erst für was besseres hält als andere Leute, aber nimmt einem das nicht eigentlich das weg, was der ganze Punkt dabei ist, ein Intellektueller zu sein?

Man wird feststellen, dass man es bei den Ideen der Leute mit etwas ganz anderem zu tun hat, als man glaubt. Sie sind weniger festgefügt; sie sind oft fast probehalber an der schwer bestimmbaren Realität entlang ausgeführt; aber es ist sehr viel mehr Kühnheit und Selbsttätigkeit in ihnen, als unsere Ideologiekritik es vermuten lassen würde. Und es fragt da draussen niemand nach eurem Parteistandpunkt, ausser ab und zu zum Amusement.

Auf die verschiedenen Parteistandpunkte scheisst nämlich der Hund drauf, und genauso auf die, die so tun, als wären sie nicht Parteistandpunkt, sondern sogenannte revolutionäre oder kommunistische Kritik. Was hat man denn irgendjemandem beizubringen? Es ist nicht so, dass nicht wichtige Einsichten aller Art in dieser ganzen Literatur auch enthalten wären. Aber das lustige ist: man würde nicht von alleine drauf kommen, welche das sind.

Das gilt insofern natürlich auch für Texte wie diesen. Die wirkliche Kritik des Sektenwesens ist nicht, das zu predigen, was hier gepredigt wird, sondern es zu tun. Die wirkliche Kritik des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist nicht, Ideen für arbeitergeführte Betriebe auszuspintisieren; die praktische Kritik des Privateigentums ist die wirkliche Arbeiterverschwörung. Man darf ruhig annehmen, dass es genug zu tun gibt; man wird sich auch ohne die Sitcom, zu der die Szeneangelegenheiten schon degradiert sind, keineswegs langweilen.

Man wird wahrscheinlich sich seine Attitude weniger bei Lukacs, sondern wenn es schon Theologie sein soll, dann bei Bonhoeffer abschauen müssen. Ich kenne niemanden, Einzelperson oder Organisation, der „der Klasse“ irgendetwas an „Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ hätte.

Denn wer sollte denn das sein? Unsere jungen Männer, die die Weisheit mit dem Löffel gefressen haben? Und woher sollte so eine Einsicht heute überhaupt kommen? Ich nehme an, man kann sie durchaus gewinnen, aber kaum aus unseren Büchern. Wo dann? Ausserhalb unserer Kreise. Dort werden Dinge getan und Erfahrungen gemacht, die die Rechenkapazität jeder Gruppe oder Sekte weit überschreiten. Die Fragen und Antworten in diesem Prozess sind, anders als die der Sekten, nicht prinzipiell begrenzt.

Ist das aber nicht ein Ratschlag, der so nützlich ist wie Steine statt Brot? Die Gesellschaft, damit hatten wir in unserer Kritik der Szene ja angefangen, produziert die linke Szene als eine abgeschlossene doch selbst. Die Erfahrung, von der Gesellschaft ausgespuckt worden zu sein, ist nichts, was man so leicht jemanden einfach ausgeredet bekommt. Und diese Erfahrung ist auch nichts, was man sich nur einbildet. Sie zwingt einen in der Tat mit anderen zusammen, die diese Erfahrung ebenfalls kennen.

Aber es ist längst nicht so, dass das nur uns so geht. Es ist die vielleicht folgenreichste Illusion; als ob man selbst von allen anderen isoliert wäre, aber diese untereinander aus irgendeinem Grunde nicht, sondern als ob sie alle hervorragend miteinander auskämen, sich nicht gegenseitig misstrauten, miteinander vollauf einverstanden wären; wo sie in Wirklichkeit allesamt nichts miteinander gemeinsam haben. Das ist eine Grundtatsache, davon kann man ausgehen; denn es ist nur eine andere Formulierung für das, was wir vorhin das Problem der gesellschaftlichen Organisation genannt haben. Wenn man das praktisch zu begreifen beginnt, dann wird der Stolz der Vereinzelung, der uns heute in Sekten treibt, urplötzlich auf ganz andere Art fruchtbar; denn er wird in der Lage sein, seinesgleichen zu erkennen und das undurchsichtige Gefüge der Gesellschaft auseinerzuschieben, wie der Wind die Wolken vor der Sonne auseinanderschiebt.

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