Die amerikanische Verfassungskrise III

I
Wir gehen vom Gedanken aus, dass die moderne parlamentarische Verfassung den sog. friedlichen Machtwechsel nicht so sehr garantiert, als ihn voraussetzt. Die jetzigen Schwierigkeiten haben ihren Grund also nicht in einem rein staatsrechtlichen Problem. Alle Elemente der jetzigen politischen Atmosphäre in den USA waren vorhanden, schon bevor Trump kam; spätestens seit 2010 und der sogenannten Tea Party-Bewegung waren alle Zutaten vorhanden, und beiden grossen Parteien bedienten sich ihrer.

Das Verfassungsleben der USA ist seitdem öfter fast zum Stillstand gekommen; jede Seite ist in der Lage, gegen die andere einen zeitweiligen Wahlsieg zu erringen, wenn ihre Wählerschaft genügend erzürnt ist. Aber sobald der Enthusiasmus nachlässt, gerät sie wieder in Nachteil.

Die beiden grossen Parteien versuchen, sogenannte coalitions, wie es im Demoskopen- und Strategenenglisch heisst, zu bilden; gezielt bestimmte gesellschaftliche Gruppen anzusprechen, und das heisst: deren Interessen so viel wie nötig mit einzubinden, ohne dabei andere strategisch wichtige Wählergruppen zu verlieren. Das ist soweit banal. Aber das geht, und das ist der Punkt, nicht ohne Verluste; denn man verliert dann, weil die Gesellschaft so ist, wie sie ist, andere Wählergruppen.

Jede der beiden grossen Parteien strebt also danach, eine coalition aufzubauen, die zu einer Mehrheit gerade ausreicht, aber nicht viel darüber hinaus. Das ist der schwerer zu begreifende Punkt. Die in den einzelnen Parteien vertretenen Einzelinteressen arrangieren sich miteinander nur notgedrungen, und sie geben einander nur mit Mühe gerade so viel nach, als sie für eine gemeinsame Mehrheit unbedingt müssen. Jede zusätzlich aufgenommene Interessengruppe würde den Ertrag verringern.

II
Was also als abnormale Situation erscheint, und was in den USA neuerdings fast regelmässig zum Stillstand des politischen Systems führt, geht von ganz alleine aus der bisherigen Art hervor, wie bürgerliche Politik getrieben wird. Aus der politischen Geschichte der Vereinigten Staaten zeigt sich, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den grossen und grundlegenden Krisen der kapitalistischen Wirtschaft einerseits, und dem Wechsel des sogenannten Parteiensystems andererseits; und zwar in der Weise, dass eine Überwindung der kapitalistischen Krisen nie anders geschehen ist als durch eine grundlegende Veränderung des Parteiensystems. Die lange Depression der 1890er hat z.B. das sogenannte Vierte Parteiensystem hervorgebracht; die sogenannte grosse Depression der 1930er das sogenannte Fünfte,

Das geschieht keineswegs automatisch und direkt. Franklin Delano Roosevelt hielt die coalition, die ihn gewählt hat, durch ein kühnes und populistisches Programm zusammen, und war bereit, dafür seinerseits eine Verfassungskrise zu riskieren. Da Ergebnis seiner vier Amtszeiten war ein weitreichender Umbau des amerikanischen Systems; und die Grundlage des sprichwörtlichen massenhaften Wohlstands der Nachkriegszeit.

Seit der Krise von 2008 steht die Präsidentschaft Roosevelt beiden Parteien vor Augen; die Politik der Republikaner unter Obama lief, und sie sprachen das offen aus, direkt darauf hinaus, Obama jeden solchen Erfolg, auf den er eine überragende Zustimmung hätte aufbauen können, zu verweigern. Und Trump, der sich gerne mit Roosevelt verglich, war nicht in der Lage dazu; er hat die Chance, das politische System nachhaltig zu verändern und seiner Partei auf Jahrzehnte hinaus die Überlegenheit zu sichern, mit dem Abbruch der Gespräche über die Einwanderungsreform 2018 verspielt.

Seine eigene Partei war, als sie die Mehrheit in beiden Kammen hatte, zwei Jahre lang nicht in der Lage, Obamas Gesundheitsreform wie angekündigt rückgängig zu machen; weil sie sich nicht auf einen Ersatz einigen konnte. Er hätte, etwas Ehrgeiz vorausgesetzt, seiner Partei einen Kurs aufzwingen können; wenn er sich auf einen Teil der Demokraten hätte stützen wollen, wie es z.B. auch Reagan geschafft hatte.

Wie wirds mit der nächsten Regierung aussehen? Die Wahl ist, jetzt wo das meiste gezählt ist, nicht ganz so knapp ausgegangen, wie man am Anfang dachte; und die Mehrheit im Senat entscheidet sich erst im Januar in den Stichwahlen in Georgia. Aber auch Obama hatte die ersten zwei Jahre eine Mehrheit im Senat, und seine Partei war nicht in der Lage, sie zu benutzen.

III
Eine der merkwürdigsten Erscheinungen der amerikanischen Wahlzyklen seit 2010 ist die fanatische Parteilichkeit unter der Wählerschaft. Sie geht weit über die sogenannte traditionelle Parteibindung hinaus, und sie greift von Partei und Kandidat weit in jeden anderen gesellschaftlichen Lebensbereich. Man glaubt begierig jeden nur möglichen Unsinn, wenn er als Begründung für die eigene Entscheidung herhalten kann. Propaganda und Desinformation schaffen diesen Zustand nicht; sie liefern nur das Material. Je weniger objektiv begründet die Parteinahme, desto verrückter und abgelegener die Glaubenswelt, die dazu nötig ist; bis dahin, dass die Gesellschaft anscheinend in gegnerische Lager zerfällt, zwischen denen Kommunikation nicht möglich ist.

Keiner der vertretenen Parteistandpunkte hat mit der Realität ihrer Anhänger wirklich etwas nachvollziehbares zu tun. Um so erbitterter werden sie verteidigt, bis zur Selbstverleugnung. Sie sind längst nicht mehr verständlich, also können sie genausogut völlig irrwitzig sein. Die Bereitschaft, das absurdeste Zeug zu glauben, noch ehe es verlangt wird, ist im Grunde nichts anderes als die Bereitschaft, die Entscheidungen über die wichtigsten Dinge an eine politische Klasse abzutreten, die so offensichtlich ungeeignet dafür ist.

Die Parteistandpunkte graben sich in genau dem Masse unversöhnlich ein, in welchem sie hohl werden. In der durchgedrehten Hysterie steckt gut verborgen auch eine ganz andere Möglichkeit. Eine gesellschaftliche Bewegung, die sich um keine der Parteien scherte, müsste im Stande sein, ihre Logik zu unterlaufen.

IV
Die Unzufriedenheit mit den Folgen der Krise ist anscheinend unentschieden auf die Wählerschaft beider Parteien verteilt. 2016 gewann Trump in den spätindutriellen Staaten an den Grossen Seen; dieses Mal gewannen die Demokraten. Sehen wir uns kurz an, wer alles Biden gewählt hat.

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Das hier nur statt aller Analysen seit 2018; die Stimmen von eher konservativen, eher gutausgebildeten Wählern haben Pennsylvanien und Georgia entschieden, und das unterstelle ich einfach einmal als zutreffend. Aber es ist nicht das ganze Bild. Ich halte für genauso zutreffend, was hier über Minnesota gesagt wird:

This is a blatant attempt to rewrite history. As Alexandria Ocasio-Cortez pointed out recently in a scathing interview, progressives were central to Biden’s victory. Their grassroots organizing efforts helped to produce record turnouts across the country. This was particularly the case in swing states like Minnesota — where the Washington Post covered Rep. Ilhan Omar’s efforts in the weeks leading up to election day. According to Ken Martin, the chairman of Minnesota’s Democratic Farmer-Labor Party,

She doesn’t need to increase turnout here to win her race. She could take a vacation and she’d get reelected, easy. But she recognizes that she has a responsibility to drive up turnout; it’s really important for all of our statewide races, especially the presidential race. She does really intensive, face-to-face contacts, with a lot of personal relationship-building, and building long-term power with communities of color. And, look, a lot of politicians don’t do that.

Fast ebenso über Michigan:

This result wasn’t a surprise to Tlaib, who was quoted in a pre-election piece describing Dudenhoefer’s fundraising haul as “racist money burning.” (In a typically Tlaib-ish flourish, she followed this up with, “Keep spending it, baby!”) She knew that she didn’t have to campaign at all to keep her seat, but she did it anyway, spending hours on miserably cold late-fall days knocking on doors.

To put this in perspective, as late as mid-September, Time magazine was calling Biden’s operation in Michigan “invisible” and reporting that the campaign was refusing to tell reporters where any physical field offices in the state were located. When Time reporter Charlotte Alter asked Biden staffers what kind of effort they had on the ground, one responded, “What do you mean by ‘on the ground’?”

Es wird noch vertrackter. Biden hätte die Wahl ohne Pennsylvanien und Georgie gewinnen können; er hätte die Wahl auch ohne Michigan und Wisconsin gewinnen können. Beides wären sehr knappe Siege knapp über oder genau bei 270 Elektoren geworden; und beide dieser Varianten wären für das Staatskrisenszenario, von dem die Rede ist, sehr anfällig gewesen.

Aber sowohl die Interessen der Wählerschaft, als auch die Interessen derjenigen Parteiflügel, die sie zu vertreten beanspruchen, sind unterschiedlich und nicht ohne weiteres zu integrieren. Eine von beiden wird man in vier Jahren, oder bei den Zwischenwahlen in zwei Jahren wieder verlieren; es sei denn, es findet sich ein anderer Weg.

V
Solche grundlegenden Neuordnungen einer kapitalistischen Gesellschaft, wie der New Deal es gewesen ist, setzen nicht nur eine politische Kraft voraus, sondern auch eine Veränderung innerhalb der kapitalistischen Ökonomie, die die krisenhafte Konstellation für das Inland auflöst. So verschiedene gesellschaftliche Interessen wie die, die Biden ins Amt verhelfen können, lassen sich nur dann bedienen, wenn ein neuer Zyklus von kapitalistischer Akkumulation angeschoben werden kann.

Dazu reicht es nicht, umfassend in Infrastruktur und Ausbildung zu investieren; es muss auch etwas bereitstehen, was die Ökonomen gerne Basisinnovationen nennen. Man übersieht dabei vielleicht, dass Roosevelts Politik an sich nicht ausreichte, um aus dem Krisenhorizont von 1929 herauszukommen; erst die Mobilmachung und die Kriegswirtschaft hat das geschafft. Und auch die sogenannten Basisinnovationen, von denen die kapitalistische Konjunktur bis heute lebt, sind auf ihre Art Ergebnisse der kriegswirtschaftlichen Grundlagenforschung.

Besonderen Optimismus, dass das heute anders sein wird, werden wir nicht aufbringen. Der sogenannte Tech-Sektor, wenn man darunter Konzerne wie Google versteht, erzeugt Gewinne als eine ins Gigantische aufgeblasene Werbeagentur; Amazon ist eine Art Quelle übers Internet; diese Art Konjunktur lebt eigentlich von einer Substanz, die sie nicht selbt reproduzieren. Und weder Elektromobilität noch autonome Fahrzeuge gehen über die Dimension des Automobilzeitalters hinaus; ich weiss nicht, warum man von allen diesen Dingen eine grundlegend neue Dynamik erwartet, statt nur eine weitere Freisetzung von Arbeitskraft.

Dass es also für die alten Industrieländer möglich sein wird, den Niedergang ihrer Weltmarktstellung auf friedliche Weise aufzuhalten, wüsste ich nicht. Auf die Krise von 2008 ist ihnen eingefallen Zentralbankgeld, Abwertung, und Handelskrieg.

VI
Eine bürgerliche Verfassung ist unter solchen Bedingungen nicht aufrechtzuerhalten. Die bürgerliche Demokratie hat überhaupt zur Voraussetzungen eine bestimmte Form der Gleichheit unter dem bürgerlichen Eigentum. Jedes Eigentum hat einen gleichen Anspruch darauf, aus der gesellschaftlichen Arbeit einen Profit zu erzielen. Die allgemeine Profitrate, die die ökonomische Grundlage dieser Gesellschaft ist, stellt sich aber nicht von alleine her. Sie besteht immer nur in denjenigen Gesellschaften, deren Industrie in das Lage ist, aus der Ausbeutung anderer Gesellschaften eine genügende Profitmasse überhaupt zu realisieren; das heisst, in den kapitalistisch exportierenden Gesellschaften.

Sobald die beherrschende Stellung auf dem Weltmarkt verschwindet, zerfällt tendenziell die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft; die in ihr konkurrierenden Interessen lassen sich tendenziell nicht mehr zu einem Gesamtinteresse kombinieren, sondern wenden sich direkt gegeneinander. Der Staat, und der Besitz der politischen Macht, entscheiden unmittelbar ab diesem Moment darüber, welche Interessen bedient werden und welche nicht. Der Interessenausgleich unter den bürgerlichen Klassen verengt sich zu Willkür. Sie entspricht der Unberechnenbarkeit, die aus den immer neuen Lügen der Führer spricht.

Einiges an den Zügen des momentanen amerikanischen Verfassungskonflikts macht es fast glaubhaft, dass die Vereinigten Staaten einen solchen Zustand erreicht haben könnten. Es ist immer noch ein anderer Weg möglich. Insbesondere kann einer Biden-Regierung ein entschiedenener Kurs aufgezwungen werden durch massive soziale Bewegung.

Die Wahl von 2020 hat noch keinen Aufschluss darüber gegeben, ob im Liberalismus noch Leben ist. Er hat ein paar Jahre Frist gekauft, aber sein Schicksal ist gebunden an ein neues kapitalistisches Zeitalter. Es ist gut möglich, dass sich seine Frist als Scheinblüte herausstellt; dann werden die vier Jahre unter Trump nur ein grobes Vorzeichen gewesen sein dafür, was alles noch möglich ist.

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