Zur Kritik des europäischen Migrationsregimes
von Danyal
Blog Cosmoproletarian Solidarity
Folgender Text aus dem gerade erschienenen Heft 3 ist auch auf dem Blog des Autors erschienen.
Zwar fungiert heute die Peripherie Europas als Rammbock gegen die Migrationsströme des überflüssigen Lebens, aber nicht nur in der Anonymität der Kommentarfunktion im World Wide Web wird kein Zweifel daran gelassen, dass in Kerneuropa und im Staat der Deutschen sowieso der Mensch Material ist, dem, wenn es funktionslosigkeit und zudem un-autochthon ist, die Halde droht. Im Schatten der europäischen Zivilisation der Produktion vegetieren im französischen Calais hunderte von Menschen im „Dschungel“, einer im Gestrüpp aus Plastikmüll improvisierten Behausung – bis diese mit Planierraupen überrollt wird und die Geflüchteten gezwungen sind, noch tiefer in den Wald zu drängen. Im griechischen Pagani werden junge Flüchtlinge über Monate inhaftiert – bis das Gefängnis entleert wird und die Menschen in die Illegalität abgeschoben werden. Im italienischen Roma harren Geflüchtete in der Kanalisation aus – aus Furcht vor dem rassistischen Mob, Inhaftierung und Abschiebung in die libysche Wüste. Und von den Deutschen werden jene Menschen, die das Ressentiment als kollektiv unproduktiv, das heißt als schnorrend und streunend identifiziert, in die Pogromhölle Kosovo abgeschoben.
Nicht nur, dass an den Geflüchteten demonstriert wird, dass der Unterschied zwischen kapitalproduktiver Funktionalisierung und Müllwerdung der Menschen darin liegt, mit einem politischen Souverän identifiziert zu sein, der für die Menschen noch anderswo Gebrauch findet als in Kaserne und Moschee. Die selektive Asylpraxis verplombt die Todesstille in den Despotien, in denen die europäischen Apparate abzuschieben drohen. Gewährt man zwar den Gehetztesten unter den Dissidenten Asyl, diktiert man doch allen anderen zu schweigen: Wer vor der Flucht nicht gefoltert wurde, sei auch nach der Abschiebung hiervon nicht bedroht – solange man nur schweige. Wenn an dem deutschen Apparat die Asylgesuche von geflüchteten Homosexuellen aus dem Iran abprallen, da es ihnen doch aufzubürden wäre, ihre sexuelle Lust von der islamistischen Sitte unterdrücken zu lassen, macht er nach und nach die Lüge eines Mahmud Ahmadinejad wahr: Homosexualität existiere nicht in der Islamischen Republik Iran. Da erscheint es fast human, wenn der tschechische Apparat noch bis vor kurzem Homosexuellen mit heterosexueller Pornografie konfrontiert und dabei den Blutfluss zum Penis gemessen hat, um zu garantieren, dass die Geflüchteten nicht über ihre Sexualität täuschen.
Im Namen des Volkes – die deutsche Asylpraxis
Das OVG Bremen bekräftigt am 8. Oktober 2010, dass nur jene Oppositionellen von „asyl- oder abschiebungsschutzrelevanten Repressionen“ bedroht seien, die „aus der Masse oppositioneller Iraner herausgetreten sind“. Es hebt zudem hervor, dass auch die jüngsten Unruhen daran nichts geändert hätten. Das OVG sieht keine Bedrohung von Geflüchteten, die mit der Worker-communist Party of Iran assoziiert sind, so weit sie „sich nicht exponiert haben“. Das VG Hamburg bezieht sich am 26. Mai 2010 auf den BfV, um zu konkretisieren, womit man sich denn angemessen exponiert habe: eine Bedrohung sei nur dann anzunehmen, wenn man sich in der Führung einer Oppositionspartei befände oder man eine wesentliche Funktion in der Opposition einnähme. Das VG sah im konkreten Fall keine Bedrohung eines Oppositionellen, da er „erst seit zwei Jahren“ mit der Constitutionalist Party of Iran assoziiert und die lokale Sektion der Partei viel zu klein sei, als dass seinem Parteiamt eine Asylrelevanz zukäme.
Das VG Darmstadt befindet am 19. März 2010, dass die Tätowierung eines christlichen Kreuzes den Abzuschiebenden im Iran nicht bedrohe. Dieses werde zwar den Verdacht der Apostasie beim khomeinistischen Apparat wecken und de Betroffenen mindestens einem Verhör aussetzen, doch allein darin liege „noch keine unmittelbare und erhebliche Gefahr“ für das Leben des Abzuschiebenden. Das VG bezieht sich des Weiteren auf eine Expertise des Deutschen Orient-Instituts vom 26. Februar 1999, demnach die Konversion eines geborenen Muslimen ein „absoluter Tabubruch“ sei, an den auch nicht gedacht werden könne. Der khomeinistische Apparat gestehe den Verdächtigen eine Frist ein, in der nachgespürt werde, ob die Konversion nicht allein des Erschleichens des Asyls bezwecken sollte. Wenn dies so sein sollte, drohe ihm keine weitere Repression. Dem VG zufolge ist anzunehmen, dass der Betroffene – auch „mit Blick auf die zu erwartenden lebensbedrohenden Konsequenzen“ – im Iran nicht nach außen für die christliche Religion werbe und somit auch nicht von Repression bedroht werde.
Das VG Saarland sieht am 30. Oktober 2009 keine Bedrohung, dass im Iran die „innerliche Distanzierung“ vom Islam und das Bekenntnis zum Atheismus als Apostasie geahndet werden. Das VG spricht zwar offen davon, dass im Iran zurzeit lanciert wird, die Todesstrafe als angemessene Ahndung der Apostasie auch im kodifizierten Strafrecht aufzunehmen, schließ sich aber dem BAMF an, demnach auch ein Atheist ohne gröbere Bedrohung im Iran leben könne, so weit er nicht nach außen hin provoziere. Das VG Düsseldorf bekräftigt am 11. März 2009, dass Homosexuelle im Iran nur dann gefährdet seien, wenn sie ihre Sexualität nicht „im Verborgenen ausleben“. Es zitiert zwar aus dem iranischen StGB, wonach ausgelebte Homosexualität mit dem Tod (bei Eindringen des Penis) und Peitschenhieben (dem Beischlaf ähnelnder Intimität) geahndet wird, bezieht sich aber zugleich auf die Expertise des Deutschen Orient-Instituts, wonach der khomeinistische Apparat nicht aggressiv gegen Homosexuelle vorgehe. Es „sei eine Frage des Zufalls“, so das Institut, als Homosexueller Objekt von Drangsalierung zu werden. Zuvor hatte bereits das VG Berlin (03.12.2008) befunden, „irreversiblen“ Homosexuellen drohe keine „asylrelevante Repression“. Es sei anzunehmen, dass die „drakonischen Strafandrohungen“ vielmehr theoretisch seien.
Das ist der innerste Denkmechanismus des deutschen Abschiebeapparates: wer schweigt und sich selbst unterdrückt, indem die Rache der khomeinistischen Despotie rational einkalkuliert wird, werde auch nicht „mit asyl- oder abschiebungsschutzrelevanten Repressionen“ bedroht. Jede Abschiebung reproduziert somit die repressiv erpresste Todesstille in einer Despotie wie dem Iran. Das kühle Kalkül des deutschen Apparats: nur dem, der provoziere, drohe Repression, ist eingebettet in die Kumpanei mit der khomeinistischen Despotie: die Kälte gegenüber dem säkularen Aufbegehren, die konkrete Solidarität bei der Unterdrückung den jüngsten Revolten, das penetrante Kleinreden des despotischen Charakters der Islamischen Republik und die kulturalistische Einfühlung in deren Sitte (der eliminatorische Antisemitismus, die Todesdrohungen gegen Schwule … nichts als Theorie). Doch die Geflüchteten sind nicht bloß Objekte von Rechtsbeugung, gegenüber denen der politische Souverän seine eigenen sakrosankten Prinzipen verrät. Laut Pro Asyl erhielten aus griechischer Inhaftierung entlassene Migranten nur zu oft vordatierte Ausreiseanordnungen. Die fünftägige Frist, um auf dem Rechtsweg das erzwungene Ende der Flucht hinauszuzögern, war bei Aushändigung der Anordnung um Tage überschritten. Noch daran verrät sich, dass der Geflüchtete kein Subjekt ist, das das Recht hat, Rechte zu haben, sondern Objekt souveräner Intrige.
„Mit Diskriminierung macht man keinen Staat“, so Pro Asyl, ohne Zweifel eine der honorabelsten Assoziationen in Solidarität mit dem flüchtigen Leben, die dann doch nur dem politischen Souverän verdächtigt, er suspendiere seinen eigenen innersten Kern: die abstrakte Gleichheit der Menschen. Und so reproduziert sich noch in den seltenen Momenten von Zärtlichkeit die Ideologie des Kapitalverhältnisses. Zwar ist es unter dem Diktat des Kapitals nur fair, der zähsten Flucht illegaler Migranten aus der Grauzone des Rechts in die Subjektform zu sekundieren, indem man sie als Konkurrenten annimmt, doch reproduziert sich im Appell an den politischen Souverän unweigerlich der täuschende Schein jenes totalitären Verhältnisses, das das flüchtige Leben als überflüssiges produziert.
Mit allen anderen – als Rechtssubjekte – gleich, also lebende Äquivalente zu den Nächsten zu sein, aber zugleich durch alle anderen – als Marktsubjekte – verüberflüssigt zu werden, ist das Verhängnis der Individuen als kapitalkonstituierte Subjekte. Das subjektivierte Individuum ist in der Konkurrenz null und nichtig, absolut fungibel, das heißt: nicht individuell, sondern nur der Gattung nach bestimmt; es kann also durch andere Exemplare gleicher Gattung und derselben Menge zu jedem Moment ersetzt werden. Die konstitutive Fungibilität der Subjekte bricht sich rasend Bahn, wo die kapitalisierte Sozietät die Produktivkräfte zwar unentwegt, durch Krise und Krieg hindurch, revolutioniert und so die menschliche Arbeitskraft mehr und mehr verüberflüssigt, aber eben jene Subjekte nicht einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden wagen, die Arbeit als unser Elend für alle Menschen kraft der technischen Revolution auf ein Minimum zu drücken, viel mehr ihnen der stumme Zwang als herrischer Vater eines jeden Gedankens eingehämmert ist: Arbeit ist nicht nur das Medium ihrer sozialen Qualität, sie ist Selbstzweck, ein Wert an sich. Dass himmelschreiend Irrationale an dem Kapitalverhältnis verrät sich daran, dass noch jene den revolutionären Gedanken, den Hunger, also die Bedürfnisse der Menschen zum einzigen Movens von Produktion zu machen, als teuflisch austreiben, die ihr Leben dem Benefiz gewidmet haben.
Umso mehr die subjektivierten Individuen in der Vergleichung mit ihrer konstitutiven Fungibilität konfrontiert werden, desto mehr dürsten sie nach dem politischen Souverän, der sie von den einen Konkurrenten trennt und mit den anderen zu einer Nation einstampft. Der Staat soll es sein, der ihre Austauschbarkeit, die ihnen wie ein Stigma eingebrannt ist, zu stunden hat, der ihren kapitalen Wert vortäuscht. Dass der Staat die Arbeitskraft nationalisiert und alsdann protegiert und die Arbeitskraftvehikel auf sich selbst als einzige Appellationsinstanz einschwört, ist somit die stille Prämisse sozialen Friedens. Zwar kann der zwangsdemokratisierte Staat der Deutschen die Arbeitskraftvehikel nicht von der Panik kurieren, fungibel, also an und für sich überflüssig zu sein, doch zumindest versiegelt er ihr Privileg als Deutsche, kapitalproduktiv sich zuerst betätigen zu dürfen. Noch im AsylbLG verrät sich dieser Artenschutz nationaler Arbeitskraft. Es erhält das flüchtige Leben nur soweit, dass es nicht vor unseren Augen dahinsiecht. Die Wartung des Körpers unterliegt allein der Administration: so muss der Geflüchtete zunächst einen konkreten Wartungsbedarf geltend machen, bevor er einen Arzt aufsuchen darf. Die Hoffnung auf ein Ende des konkreten Leidens ist der Gnädigkeit des Sachbearbeiters unterworfen, aber was anderes ist sein Körper als eine Sache, ohne dass von ihr Gebrauch gemacht wird. Nicht selten, dass die rigide Beschränkung des Wartungsbedarfs in letzter Konsequenz tötet: so starb Mohammad S., ein Geflüchteter aus Guinea, am 14. Januar 2004. Der Sachbearbeiter sah zuvor nicht ein, dass er einen Arzt aufsuche, da er doch so oder so abgeschoben werde.
Diskriminierung ist eben kein schleichender Suizid des politischen Souveräns, viel mehr ruht die Spaltung der Gattung in der kapitalisierten Sozietät selbst und ist als chronische Pathologie, so will man ein Ende der Flucht durch eine freie Assoziation solidarischer Menschen, zu kritisieren. Da dies ausbleibt, sind noch die Freunde des Asylrechts gezwungen, die Geflüchteten auf den Movens der Flucht hin zu beäugen und eine akkurate Trennung von Asylsuchenden vorzunehmen, die durch einen tyrannischen Souverän in die Flucht gezwungen werden, und allen anderen, die aus den Ruinen des Weltmarkts vor nichts als Hunger fliehen um anderswo eine kapitalproduktive Funktion einzunehmen. In dieser akkuraten Trennung von Asylberechtigten und fliehenden Arbeitskraftvehikeln (letztere allein durch Definition der UN Refugee Agency keine Flüchtlinge) spiegelt sich die ideologische Zweiteilung des falschen Ganzen in Staat und Kapital, in Politik und Ökonomie.
Dass die konkret so verschiedenen und unvergleichlichen Dinge des Lebens einen Wert haben, ist den Menschen ein Naturgesetz geworden, gegen das aufzubegehren, eine Sünde an der göttlichen Schöpfung der kapitalisierten Gattung wäre. Unter der Form des Subjekts können sich die Individuen nur so weit – das heißt ohne Mentaltraining und anderer Esoterik – als souveräne und authentische Autoren ihres Lebens denken, wie sie sich in den Staat hineinfühlen. Die ökonomischen Zwänge sind den Menschen zur zweiten Natur geworden, Hunger ist ihnen nur etwas Ähnliches wie eine Wetteranomalie. Politik ist ihnen dagegen das (wenn auch zunächst von Intransparenz und ähnlichem zu reinigende) Terrain des Streitens und Werbens für das ideale Katastrophenmanagement. Die Flucht in die Politik ist somit nur die andere Seite des Desinteresses an den Katastrophen der zweiten Natur, die andere Seite der pathologischen Indolenz gegenüber dem täglichen Tod durch nichts als Hunger.
Die Suspendierung der Gattung Mensch und der Ausschluss der Verüberflüssigten ist die brutale Konsequenz jener Abstraktion, in der die Subjekte als Funktionäre kapitalistischer Verwertung sich von den konkreten, empirischen Menschen trennen – und wie diese Brutalität der Verüberflüssigung sich an dem flüchtigen Leben geltend macht, ist von Pro Asyl und anderen detailliert dokumentiert. Doch der Ausschluss folgt nicht allein einem blinden Mechanismus, es ist der politische Souverän, der eine von allen „geteilte Lüge … für den Zutritt zur nationalen Arbeitskraft“ (Bruhn: Vom Mensch zum Ding, in: Flugschriften, ça ira Verlag 2001, S. 104) ausbrütet. Als die Deutschen noch gezwungen waren, die Asylantenflut noch eigenhändig einzudämmen und das überflüssige und national nicht-identische Leben auszuschwemmen, griffen Apparat und Volk wie Rädchen ineinander. Während am 21. September 1991 mit der Abschiebung der letzten Provokateure der nationalen Arbeitskraft (zuerst vietnamesische und mosambikanische, nun mehr überflüssig gewordene Arbeitskraftimporte, dann nicht mehr als 250 Asylsuchende aus dem Iran und anderswo) aus der Lausitzschen Provinz die Gewalt des pogromistisch sich ausagierenden Mob honoriert worden ist, hausierte eines der Organe der Deutschen mit einem Volksbegehren, demnach 98 Prozent ihrer Leser für die Amputierung des Asylrechts votierten.
Es ist nicht das Andersartige, das den Hass der zu Deutschen konvertierten Arbeitskraftvehikel an den Immigrierenden provoziert, es ist viel mehr die ihnen von den ökonomischen Naturgesetzen eingebrannte Affinität zu diesem als unwert denunzierten Leben: die Geflüchteten sind ihnen die bösen Propheten der eigenen Fungibilität vor dem Kapital. Und so eskaliert im Hass auf das flüchtige Leben die nicht zu kurierende Panik vor der drohenden Verwilderung des Arbeitskraftbehälters. Es blieb nur eine Notiz des Septemberpogroms im Lausitzschen Hoyerswerda, dass bei der Menschenjagd auf die als fremdartig stigmatisierten Arbeitskräfte viele ihrer deutschen Kumpels aus den Braunkohlegruben sich resolut ihrer Konkurrenz entledigt haben. Auch dieser äußerste Wille zur Kapitalproduktivität und Staatsloyalität wurde vom politischen Souverän quittiert: die zunächst Evakurierten, die unter den Pogromisten nicht wenige ihrer früheren Kumpels identifizieren konnten, wurden alsdann abgeschoben; ihre Arbeitsverträge wurden ohne Entschädigung beendet.
Dass im AsylbLG die Kosten der physischen Reproduktion eines Geflüchteten noch 39,85 % unter dem Niveau eines auf ALG II dauergeparkten Arbeitskraftvehikels gedrückt werden, fungiert nicht mehr, wie es doch nahe liegt, als Schleichwerbung zwischen Paragrafen: das flüchtige Leben als grob auszuschlachtende Arbeitskraft. Nein – noch diese Qualität ist ihnen so weit genommen, wie sie noch von einer ökonomischen Schattenexistenz ausgegrenzt sind. Wurden seit den 1950er nicht-deutsche Arbeitskräfte mit der exklusiven Charakteristik minderer Reproduktionskosten beworben – mit italienischen Arbeitskraftimporte, so etwa der Industriekurier (04.10.1955), bliebe eine kostspielige Ballung an Menschenmaterial aus, da dieses nicht mehr bräuchte als „die Gestellung von Baracken“ -, ist der Geflüchtete im AsylbLG zwar nur noch unwertes, aber widerspenstiges, weil auf ein besseres Leben stur beharrendes Material auf Halde. Anders als die angeworbenen Arbeitskraftbehälter haben die Geflüchteten im Moment der wilden Migration an der Gewalt des Souveräns sich versündigt, sie fallen in Ungnade eines ungnädigen Kollektivs, weil sie nicht allein seinem Kalkül sich unterworfen haben. Dass sie den zu Deutschen konvertierten Menschen an die Idee der solidarischen Gattung zu erinnern wagen, ist die größte Provokation, die von ihnen ausgeht. Sie brüskieren die Subjekte, die selbst nur ihr Existenzrecht beziehen, indem sie dem Kapitalzweck in Gänze unterworfen und dem Staat bis in den Tod ergeben sind. Der Geflüchtete ist allein dadurch anrüchig, weil er sich der Prozedur aus Reglementierung, Kalkulation und Selektion durch die Apparate zu entziehen wagt; er ist allein durch seine Flucht verdächtigt, seinem eigenen Zwangskollektiv abtrünnig zu sein, um das fremde zu schröpfen. Die Deutschen wollen das Asylrecht nicht liquidieren, auch wenn es nur ein Fetzen des moralischen Antlitzes ihrer Zivilisation ist, sie wollen nur den betrügerischen Gebrauch liquidieren, unter dem potenziell jeder Gebrauch fällt, der sich nicht allein dem Ermessen des Souveräns ausliefert. Und so wird das Desinteresse an der militanten Protestation von Geflüchteten aus dem Iran gegen den stillen Tod in einem Leben aus Kaserne und Kälte, wie nun im fränkischen Würzburg, des Öfteren von einem rülpsartig ausgestoßenen „Verschwindet, ihr Erpresser“ durchbrochen.
Der Krieg an der Migrationsfront
Jüngst beschloss der konzentrierte Apparat der EU zur Austreibung des überflüssigen Lebens, Frontex, mit der Türkei eine Intensivierung der Kooperation. Die Türkei wird nun, nachdem ihr ein Ende der „unwürdigen Visabeschränkungen“ (Ahmet Davutoğlu) für die Ihrigen versprochen wurde, Menschen, die über türkisches Territorium in die EU flüchteten, aufnehmen und bis zur weiteren Abschiebung zwischenlagern. Kerneuropa verplombt nun mit der direkten Funktionalisierung der Türkei als vorgelagertes Sieb des überflüssigen Lebens ihre Grenzen noch weiter. Die EU finanziert in Ankara und Erzurum zwei Inhaftierungszentren mit einem Beitrag von 15 Millionen Euro. In Van, nahe der türkisch-iranischen Grenze, überbringen Europäer der Türkei Kontrolltechnologien, ein Teilprogramm von Twinning, in dem die EU die Rationalisierung der Apparate in Staaten finanziert, um die sie sich zu erweitern denkt. Parallel werden zwei Migrationszentren in Van, dem Nadelöhr von Fluchtbewegungen aus dem Iran, installiert: in dem einen sollen Asylsuchende aufgenommen, also zwischengelagert und auf die Asylrelevanz ihrer Flucht gescannt werden, in dem anderen sollen die Ausgesiebten inhaftiert und zur Abschiebung vor allem in den Iran konzentriert werden.
Die Türkei wird somit zu einem Laboratorium modernster Selektion des überflüssigen Lebens. Da die Türkei nach wie vor den Art. 1 B. 1. der Genfer Flüchtlingskonvention geltend macht (also das juristische Schlupfloch, den Movens legitimer Flucht geografisch einzugrenzen), gewährt sie nur jenen Menschen Flüchtlingsrechte, die aus Europa kommen. Auf Asyl ist nur durch den Maklerdienst der UN Refugee Agency (UNHCR) zu hoffen. Asylsuchende duldet die Türkei, so weit diese von dem türkischen Ministry of Interior einen „temporären Asylstatus“ zugesprochen bekommen – und zwar nur so lange wie ihr Ersuch von dem UNHCR auf Asylrelevanz abgeklopft wird. Soweit ein Geflüchteter von dem UNHCR als Asylsuchender registriert und die Asylrelevanz der Flucht gescannt worden ist, kategorisiert dieser sie nach der Aktualität eines Resettlement-Bedarfs. Es liegt nun an der Gnade der Staaten und an ihren Kriterien, wer das türkische Transit verlassen darf. Im Jahr 2010 erhielten 5.335 Flüchtlinge in der Türkei das Privileg eines Resettlement, davon allein 3.200 in den USA. In den 27 Staaten der EU wurden nur 121 Flüchtlinge aufgenommen. Im Jahr 2011 fanden nur noch 4.155 Flüchtlinge aus der Türkei die Aufnahme in einem Drittstaat, wovon 2.230 von ihnen der irakischen Hölle entflohen sind. Während die USA 1.523, Australien 494 und Kanada 211 irakische Flüchtlinge aufnahmen, war die Generosität der europäischen Staaten mit zwei Flüchtlingen ausgereizt.
Wer kaum auf ein solches Resettlement zu hoffen hat, wagt die weitere Flucht über die türkisch-griechische oder türkisch-bulgarische Grenze. Fungiert die Türkei als vorgelagertes Sieb, wird im griechischen Schatten Kerneuropas das flüchtige Leben aufgestaut – mit dem kühlen Kalkül, dass die Geflüchteten vor dem Hass, der dort auf sie trifft, kapitulieren. Wer nicht von der Strömung des 206 Kilometer langen Grenzflusses Meriç in den Tod gerissen oder von der Ägäis geschluckt wird, wer nicht von knochenzerschmetternden Felsen begrüßt oder an Unterkühlung stirbt, wird vom griechischen Apparat aufgerieben und – entkommen tut kaum einer – obligatorisch bis zu einer Dauer von sechs Monaten inhaftiert. Ohne dass es zu einem individuellen Screening der Asylrelevanz durch den griechischen Apparat kommt, denn der Geflüchtete ist hier kein Individuum mehr, sondern nur noch identisches Exemplar des lebenden Überschusses, wird den Aufgeriebenen administriert, sich wieder zu verflüchtigen – sobald sie aus der Haft entlassen werden. Die Zeit (04.02.2010) schrieb in einem seltenen Moment von Scham über die Flucht junger Geflüchteter: Über die Nussschalen, die an den kantigen Felsen zerschlagen und mit ihnen die Körper der jungen Geflüchteten. Über die Gräber von 40 bis 60 tödlich Aufgeriebenen, die neben den Gartenabfällen eines griechischen Friedhofes ausgehoben werden und nach drei Jahren wieder geebnet werden, um weitere tote Körper zu verscharren. Über den sechzehnjährigen Milad, der aussagt, dass die Griechen ihn und andere Flüchtlinge noch auf dem Meer aufgegriffen und in türkisches Gewässer bugsiert hätten – gefühlte zwei Kilometer vor der türkischen Grenze alleingelassen auf einem von den Griechen zerstochenem Schlauch. Über die auf unbevölkerte dry islands gebrachten Kinder. Und über Pagani auf Lesbos, einem der berüchtigtsten griechischen Inhaftierungszentren, in dem bis Ende Oktober 2009 vor allem auch junge Geflüchtete konzentriert wurden. Über die dortigen Matratzen, die mit Kloake aus den ständig verstopften Klosetten sich vollsaugen. Über die täglichen Kämpfe, wer im Kot schlafen muss und wer nicht. Über Ärzte, die nur mit Blickkontakt durch das Stahlgeflecht die Geflüchteten besehen dürfen. Über jugendliche Flüchtlinge, die sobald ihre Inhaftierung endet, gezwungen sind, in der Illegalität zu verharren und denen von Polizisten die Knie zertrümmert werden. Über provisorische Behausungen im Wald oder in ausrangierten Wagons. Und über rassistische Rackets, die das übrig tun, damit sich den Geflüchteten einhämmert, dass die Flucht nie enden wird. Doch auch in diesem seltenen Moment von publizistischer Scham über den Krieg gegen das flüchtige Leben erscheint dieser noch als Anthropologie. So liest man von neuen Völkerwanderungen, die Europa heimsuchen, nicht aber von den Revolten, die den griechischen Apparat zwangen, Pagani zu evakuieren, nachdem vor allem jugendliche Insassen ihre kloakenverseuchten Matratzen verbrannt und dabei immer wieder Parolen gerufen haben: „We want freedom, we don’t want food“.
In Patras, dem griechischen Brückenkopf nach Kerneuropa, konzentrieren sich jene, die es wagen, eingeklemmt unter einem Containerchassis oder anderweitig riskant davonzukommen. Auf eurotransport.de, die Domain eines Transportsfachverlages, echauffiert man sich inzwischen über die Repression gegen ihr Klientel, die in einen Konflikt hineingezogen werden, der nicht ihrer ist und der Schleusung verdächtigt werden, weil sie für einen flüchtigen Moment den Blick nach blinden Passagieren vergessen. Pro Asyl dokumentierte jüngst den „systematischen Charakter“ rohster Gewalt des griechischen Apparats gegen Flüchtlinge in Patras und doch ist er es im nächsten Moment, der einen neofaschistischen Pogrommob auf Distanz hält, der wie am 22. Mai 2012 eine Industrieruine, in der Flüchtlinge ausharren, zu überrollen droht. Und so macht sich der griechische Apparat auf, die noch eben aus der Inhaftierung in die Illegalität entlassenen Flüchtlinge wieder zu konzentrieren. Ende April wurde das erste von bis zu 50 Internierungszentren für illegale Migranten nordwestlich von Athen aufgemacht. In jedem dieser Zentren, bestehend aus mit Stahldraht eingezäunten Containern, sollen circa 1.000 Abzuschiebende arretiert werden. Der taz (30.04.2012) folgend würde die EU-Kommission allein im Jahr 2012 die Internierungszentren mit bis zu 30 Millionen Euro mitfinanzieren, für 2013 seien weitere 40 Millionen versprochen. Und so ist der Krieg gegen das flüchtige Leben nicht allein ein griechischer, viel mehr ein europäischer unter dem strategischen Kommando von Frontex.
Dem UNHCR folgend starben mehr als 1.500 flüchtige Menschen im Jahr 2011 in jenem Gewässer, dass die Spaltung der Gattung geografisch zumindest annähernd ausdrückt. Umso mehr die Kontrolle über die Migrationsrouten zunimmt, desto mehr Menschen sterben allein gelassen in gröbster Bedrängnis. Was wie ein Paradoxon erscheint, liegt doch in der Logik der Spaltung der kapitalisierten Gattung unter dem Verhängnis der absoluten Fungibilität ihrer Exemplare.
Unterstützung finden auch die Roma und Sinti in Deutschland, unter anderem aus Malaysia, Qatar und Kuba. Die Kubaner fordern zudem, „das Problem der Straßenkinder zu lösen und zu gewährleisten, dass ihre Grundbedürfnisse wie Erziehung, Gesundheit, Wohnung und Essen erfüllt werden, wie es sich in einer reichen und entwickelten Gesellschaft gehört“. Nach deutscher Darstellung leben in der Bundesrepublik „5000 bis 7000 Kinder auf der Straße“. Diese Zahl habe in den letzten Jahren nicht zugenommen. Die Bundesregierung wird vor der nächsten Tagung des Menschenrechtsrats im Juni auf die Forderungen antworten.
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