Erkenntis und Theorie

Teil III der Artikelreihe Freiburger Materialismus: Materialien I. Die ersten beiden Teile finden sich hier: I II

Die nachfolgenden Punkte sind ein Versuch, einige Grundgedanken der genannten Autoren herauszuholen. Sie sind diejenigen, die mir höchtselbst als die zentralen Punkte erscheinen. Sie umfassen von den Ansätzen des ISF wahrscheinlich vor allem die von Bruhn und die aus den 1990ern. Die Sache ist lediglich eine Vorlage, weder nach Autoren noch nach Thesen hin abschliessend oder vollständig.
jf

Sohn-Rethel

1. Kritik des Intellekts. Die geistigen Formen sind nicht primär, sondern entsprechen den jeweiligen gesellschaftlichen Formen, Erkenntnistheorie ist Gesellschaftstheorie. Er entwickelt das anhand im Grunde einer einzigen dieser Formen, derjenigen des Gelds als Münze und ihrer logischen Entsprechungen. Er schert sich dabei überhaupt nicht um andere Existenzweisen von Geld, die nicht minder logische Entsprechungen haben, und um die Gesetze dieser Formen. Insoweit ist er selbst Gefangener seines relativen Erfolgs, und hier wäre noch Arbeit zu tun. S.R. hängt einer bestimmten Idee der Geschichte an. Was wir Geschichte nennen, ist die materielle Seite des Begriffs, den wir von Gesellschaft haben. Es muss also zwangsläufig auch eine Kritik dieses Bilds von der Geschichte stattfinden.

2. Die Philosophie ist systematisch falschherum, s. Kant. Sie hat in ihrem Kern eine leere Stelle, wo die Gesellschaft ist. Der sog. Idealismus ist in der Philosophie allgemein, die materialistische Opposition steht vor der Schwierigkeit, ihrerseits zu erklären, wie das zugeht. Wenn ihr das nicht gelingt, ist sie verloren. Die Arbeit ist von Marx angefangen, aber keineswegs fertiggebracht. Der Materialismus hat nicht einfach von einer Materie auszugehen, sondern von der Gesellschaft. Von dieser hat S.R. selbst keinen vollständigen Begriff. Die Frage ist vielleicht, ob man einen haben kann. Aber man kann auch nicht keinen haben, denn man hat notwendig einen, wenn auch ohne es zu wissen. Die materialistische Kritik kann keinen Schritt tun, ohne das zu begreifen und eine sinnvolle Folge zu ziehen.

3. Kritik der Intellektuellen. Die Trennung von Hand- und Kopfarbeit ist es, die diesen Irrtum immer neu hervorbringt. Diese Trennung ist einer der Namen der gesellschaftlichen Herrschaft. Das heisst Erkenntniskritik ist Kritik dieser. Der Zugang, den die Intellektuellen zu den Dingen haben, ist ein theoretischer, und ihnen gerinnt alles zu Theorie. Die Theorie wiederum gerinnt in der Praxis zu Herrschaft. Das hat Folgen für die materialistische Kritik. Sie wird ebenso als Theorie enden, es sei denn, sie bewegt sich ausserhalb dieser Konstellation.

4. Die Gesellschaft bedarf einer Synthesis. Ohne diese ist sie keine Gesellschaft, d.h. man kann ohne einen Begriff von Synthesis Gesellschaft nur denken, wenn man gleich von Anfang von den Einzelwesen abstrahiert. S.R. gründet seinen Begriff von Synthesis dabei nicht auf die sogenannte Produktionsweise, sondern auf die Aneignungsweise. Was eine Aneignungsweise ist, ist natürlich bei den vergangenen Gesellschaftsordnungen abhängig davon, was man über diese weiss oder wissen will. Hier ist noch Arbeit zu tun. Für die kapitalistische Produktionsweise ergibt sich, dass sie als erste gleichzeitig ihre eigne Aneignungsweise ist. Die Intransparenz der Aneignungsweise ist es, die der Intransparenz der Gesellschaft für sich selbst zu Grunde liegt.

5. Die Kritik der Trennung von Hand- und Kopfarbeit hat als notwendiges Gegenstück die Idee eines Sozialismus assoziierter Produzenten. Sie verträgt sich nicht gut mit dem Staat, und auch nicht mit der Herrschaft einer sozialistischen Partei. S.R. hatte seine Hoffnung bekanntlich auf den Maoismus und die Kulturrevolution gelegt. Wie aus diesen eine Lösung der Probleme betrieblicher Leitung, über die er viel arbeitet, kommen soll, ist vielleicht wirklich eine Frage der Hoffnung. Eigentlich unterliegt er hier der Art zu denken, die er kritisiert. Eine Lösung auf das betriebliche Problem und das gesellschaftliche Problem muss man hier nicht suchen, aber das Problem ist jedenfalls gestellt.

Alfred Sohn Rethel:
Technische Intelligenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, aus Geistige und körperliche Arbeit Bd. I, S. 469 ff
Science as Anlienated Consciousness, aus Geistige und körperliche Arbeit Bd. II, S. 681 ff.
Das Geld, die bare Münze des Apriori, ebd. 721 ff.
Produktionslogik gegen Aneignungslogik, ebd. S. 833 ff.

Gruppe Internationaler Kommunisten

6. Kritik der Partei und des Staats. Die Parteien des Proletariats haben Anfang des 20. Jahrhunderts allesamt unselbständige Ideen über den Sozialismus, d.h. entweder solche aus vorindustriellen Zeiten, oder direkt kapitalistische Ideen. Zur ersten Sorte gehört der Gildensozialismus, der Proudhonianismus, der Syndikalismus; zur zweiten die sozialdemokratischen und bolschewistischen Ideen darüber, die Wirtschaft von Staats wegen wie einen grossen Konzern zu führen. Sie geraten daher notwendig in einen Gegensatz zur Klasse, sobald diese wirklich in Bewegung gerät. Die Räteform, die in den Revolutionen seit 1905 auftaucht, ist die wirklich der grossen Industrie angemessene Form des Sozialismus. Soweit ein Bedürfnis besteht, die neue Gesellschaft theoretisch vorwegzunehmen, kann das nur auf dieser Grundlage geschehen.

7. Die sogenannte sozialistische Kalkulationsdebatte zeigt die Unmöglichkeit einer rationalen zentralen Planung der Wirtschaft. Die Staatssozialisten wehren sich gegen diese Einsicht; aber sie ist eigentlich eine unausweichliche Folge aus der Kritik der kapitalistischen Ökonomie. So ist von den Staatssozialisten eigentlich nur die kapitalistische Wirtschaft in Russland erst wirklich aufgerichtet worden. Sie haben die Revolution liquidiert, um die Probleme des Kapitalismus zu erben; anstatt dass der Sozialismus auch als deren Lösung aufträte.

8. Transparente Gesellschaftlichkeit, durchsichtig vernünftiges Verhältnis. Der Ursprung dieser Schwierigkeiten liegt gerade darin, dass die Produktions- und Aneignungsweise intransparent ist, d.h. dass die Gesellschaft kein durchsichtig vernünftiges Verhältnis hat. Die gesellschaftlichen Einrichtungen stehen in Unterschied zu der wirklich stattfindenden Gesellschaft, keiner wirtschaftlichen Grösse sieht man ihre gesellschaftliche Herkunft an. Die GIK entwerfen einen groben Gesellschaftsplan, in dem ein solches durchsichtig vernünftiges Verhältnis möglich ist, auf der Grundlage der Leitung der Arbeitenden in allen einzelnen Betrieben.

9. Die bordigistische Kritik dieser Ideen hält das für einen Irrweg. Sowohl die Vermittlung des gesellschaftlichen Prozesses durch Arbeitszeitmengen, als auch die Selbständigkeit der Betriebe gegenüber einander und der Gesellschaft gelten ihr als bürgerliche Formen. Stattdessen verstehen sie unter Kommunismus ein unmittelbares Verhältnis zur Gesellschaft. In literarisch-linken Kreisen ist diese Kritik seit 1969 vorherrschend. Sie beruht eigentlich auf einer Wahnidee, nämlich als gäbe es so etwas wie die Gesellschaft als eine irgendwie verfasste Grösse schon, mit der irgendetwas unmittelbar in Beziehung gesetzt werden könnte. Gesellschaft ist Vermittlung. Gerade das, was diese abstrakten Kommunisten an der GIK schmähen, bietet die einzige denkbare Möglichkeit einer transparenten Vermittlung.

GIK, Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, 1. A., darin:
Vom Staatskommunismus zurück zur Assoziation von freien und gleichen Produzenten, S. 11 ff.
Der Fortschritt im Stellen der Probleme, S. 26 ff.
Die gesellschaftliche durchschnittliche Produktionszeit als Grundlage der Produktion, S. 44 ff.

Castoriadis
C. gehört nicht in eigner Person zu den Quellen, auf die die ISF sich gewöhnlich bezogen hat. Aber C. steht historisch am Anfang der Linien, die zu den Operaisten und den Situationisten geführt hat, und ich finde bei C. die Gedanken, die die ISF von diesen aufgenommen hat, viel übersichlicher und treffender dargestellt als bei diesen selbst, und um einiges früher, da sie beide ihn geplündert haben. jf

10. C. hat, über die GIK hinausgehend, einen Begriff von Selbsttätigkeit gefasst, der nicht erst in einer utopischen Zukunftsgesellschaft statthat, sondern eine vorfindliche Tatsache ist. Die Selbstbewegung der Gesellschaft ist unzureichend beschrieben, wenn sie einfach als Bewegung des Kapitalis beschrieben ist. Und die Kämpfe der Klassen sind auch nicht glatt ökonomische oder politische Kämpfe, schon gar nicht solche zwischen fest umschriebenen, konstituierten Akteuren. C. zeigt das für die Dynamik der betrieblichen Organisation. Es findet innerhalb der Arbeiterklasse eine informelle Kooperation bereits statt, von der die Betriebswissenschaften und die politische Strategie beide nichts wissen und nichts wissen können. Sie ist die Grundlage sowohl des Funktionierens als auch der Krise der betrieblichen Herrschaft.

11. Die Linien der formellen Organisation des Betriebs, wie das Management sie entwirft, entsprechen den Begriffen der formellen Ökonomie. Sie sind aber notwendig unvollständige Abbilder der wirklichen Organisation des Betriebs. Die informellen Strukturen dagegen sind zwar an der Basis umfassender ausgebildet und bilden den wirklichen Arbeitsprozess ab, aber ihnen fehlt das Moment der Einheit und der Leitung. Der Betrieb ist also durchzogen von zweierlei diskontinuierlichen Logiken, die an und für sich nicht gleichzeitig bestehen können. Alle theoretischen Begriffe von dem ökonomischen Prozess sind von den Prinzipien der formellen Organisation abgeleitet, sie sind also von Grund auf Ideologie.

12. C. sieht um 1958 die kapitalistische Welt eine Form annehmen, die mit den Ideen des älteren Marxismus wenig gemeinsam hat. Die Arbeiterklasse als politische Grösse scheint zu verschwinden, ihre Hereinnahme in die Gesellschaft schein vollendet, eine Klassengesellschaft ohne Klassen scheint zu bestehen. Die Organisationen, die den Klassengegensatz verwaltet haben, scheinen ihres Inhalts entleert, entpolitisiert; eine öffentliche programmatische Alternative zum Kapitalismus besteht nicht mehr; aber die Arbeiterkämpfe seitdem scheinen, wo sie stattfinden, dennoch um so militanter zu werden, je weniger sie ein realistisches Ziel zu haben scheinen. Die Realität der Klassen verschwindet aus der Öffentlichkeit, wird abgedrängt in einen Teilbereich des Privaten, zu den Dingen, die nicht wichtig sind und über die man es nicht der Mühe wert hält zu reden. Bewusstseinsspaltung tritt ein in Bürger einerseits, Arbeitstier andererseits; Teil des Staatssubjekts, und Anhängsel der Maschine.

13. Gesellschaft ist für C., der einen präzisen Begriff von ihr nicht unternimmt zu umreissen, nicht unterscheidbar von Geschichte. Gesellschaft ist ein formeller Begriff, ihre wirkliche Bewegung und Veränderung ist ihre materielle Seite. Was wir über die Gesellschaft wissen, wissen wir aus der vergangnen Gesellschaft; es ist ohne dieses nicht einmal zu sagen, was eine Gesellschaft ist; es ist nichts kontinuierliches an ihr, ausser man betrachtet sie als Geschichte, das heisst als Selbstveränderung. Aber diese Selbstveränderung, identisch mit ihrer Realität, ist doch eine unter einem geheimnisvollen und irrationalen Gesetz. Und selbst dass dies so ist, kann nur erkannt werden, wenn man ihre Geschichte als etwas begreift, was die Gesellschaft dennoch selbst tut, wenn auch in der Weise, dass sie es selbst nicht von sich weiss. Der Begriff einer Gesellschaft, die ihre Geschichte als ihre eigene Tat wüsste, ist eine methodische Voraussetzung jeder Gesellschaftserkenntnis.

Cornelius Castoriadis:
Der Inhalt des Sozialismus, Teil III
The Imaginary Institution of Society, Polity Press 2005, darin 2 iii: Autonomy and Alienation, S. 101 ff.

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