Dieser Text war ursprünglich zur Einleitung einer Broschürenfassung gedacht; wir dokumentieren hier der Vollständigkeit halber.
Freiburger Materialismus, manchmal aus Marxismus-Mystizismus, ist unter linken Intellektuellen die akzeptierte Spottbezeichnung für die im Umkreis des ISF vertretene Sorte der kritischen Theorie. Niemand weiss aber, was das ist, vielleicht noch nicht einmal die ISF so ganz genau. Trotzdem fällt es einem dann üblicherweise ganz genau wieder ein: eine Sorte anti-philosophischer Philosophie, auf der einen Seite wie bessessen von den abstraktesten Fragen der Logik, die sie auf der anderen Seite in die unmöglichsten Paradoxien zu steigern liebt; und die dann ernsthaft behauptet, aus diesen Paradoxien bestehe die historische Realität.
Unter wohlmeinenden Leuten werden solche Dinge natürlich nicht vertreten. Der Materialismus der wohlmeinenden Leute ist da besonnener. Kopfschüttelnd bemerken sie, dass die Freiburger anzunehmen scheinen, die Wirklichkeit gehe gar nicht glatt auf in den theoretischen Begriffen, die man sich von der Wirklichkeit macht. Die Altvorderen des Freiburger Materialismus scheinen sich dafür nicht einmal zu geschämt zu haben, sondern sie haben zum Überfluss noch allerhand Invektiven gegen sogenannte Theorie, Theoretiker und die linken Intellektuellen insgesamt dazugetan.
Alle linken Theoretiker konkurrieren fleissig darum, mit welcher ihrer Theorien, mit welcher neuen Marx-Lektüre oder welchem Seminar-Marxismus man die kapitalistische Gesellschaft am besten verstehen liesse; da kann man doch unmöglich so überspannt sein, zu behaupten, dass man die kapitalistische Gesellschaft überhaupt nicht verstehen könne, und dass auch der Versuch strafbar sei dadurch, dass man dann unweigerlich nichts als Theorie produziere.
So etwas nennt man in gebildeter Gesellschaft „Materialismus“ höchstens mit Anführungszeichen. Unter Materialismus können sie sich eigentlich nur denken den von ihnen allen gemeinsam verachteten platten Ökonomismus, den sie alle gemeinsam wochentags dennoch betreiben; der ihnen aber auseinanderfallen würde ohne den ideologischem Kram, den sie sich sonntags je nach Konfession dazu denken, wahlweise Lukacsianismus, Marcusianismus, oder irgendein anderer Hegel-Marxismus, alles miteinander schlimmer philosophischer, d.h. anti-materialistischer Unsinn. Der aber hat einen unbestreitbaren volkspädagogischen Nutzen: das ganze Theoretisieren hält die jungen Leute frühzeitig dazu an, erst einmal gründlich die miteinander nicht zusammenpassenden Ideen in ihren Köpfen zu sortieren. Statt dem könnten sie sonst etwa loszulaufen und schauen, warum sie denn solche Ideen haben, und ob die entsprechenden gesellschaftlichen Einrichtungen vielleicht am Ende genausowenig zusammenpassen. Sie könnten die falschen Ideen als objektiv, die objektiven Ideen als falsch begreifen, anstatt allen Leuten ihre patentiert richtigen Ideen aufschwätzen zu wollen; kurz, praktische Kritik treiben statt Sektierertum.
Nun könnte einem das fürchterlich egal sein, was die linken Theoretiker denken, es ist auch zu ihrem Leidwesen den meisten völlig egal. Aber zu unserem Leidwesen sind gerade diese linken Theoretiker so erstaunliche Abziehbilder des philosophischen Idealismus, so täuschend ähnliche Hegel-Karikaturen; und sie würden das, wenn man es ihnen sagte, als Kompliment empfinden, ausser dass sie nach aussen natürlich entrüstet tun müssen. Aber auf sie trifft immer noch alles zu, was Walter Benjamin in den „Thesen über die Geschichte“ geschrieben hat; das ist der Jammer an der Sache. Sie taugen eigentlich nur als Gegenstände der materialistischen Kritik. Und so, auch wenn man sie ignorieren möchte, drängen sie sich eigentlich geradezu auf, als beinah notwendiger Gegenstand der Kritik.
Das Geschäft des Materialismus ist im letzten halben Jahrhundert unter diesen Leuten jedenfalls nirgendwo getrieben worden. Sehen wir uns also einmal nach den Grundlagen des so genannten Freiburger Materialismus um, einfach auf den Verdacht hin, dass man dort vielleicht dazumal Recht gehabt haben könnte. Vielleicht finden wir auch eine Antwort auf die Frage, die in linken Kreisen sich alle stellen und die niemand ernsthaft auszusprechen wagt: Was ist eigentlich Materialismus?