Der Geist von Stonewall

„Eine junge Frau kletterte auf die Bühne. „Das waren so Typen in meinem Viertel in Queens.“ Ihre Stimme war selbst mit dem Mikrofon kaum zu vernehmen. „Sie haben mich und meine Freundin immer angepöbelt. Eines Abends kamen sie hinter mir her. Ich war alleine. Sie haben mich auf den Parkplatz hinter der Eisenwarenhandlung gezerrt und vergewaltigt…“

Die Tränen liefen mir übers Gesicht. Der Mann neben mit legte mit die Hand über die Schulter. Auch seine Augen waren voller Tränen. …Als sie von der Bühne stieg, dachte ich: Das ist wirklicher Mut. Den Alptraum nicht nur überleben, sondern anschliessend etwas damit anzufangen. Es geht darum, den Mut zu haben, mit anderen darüber zu reden. Es geht darum, sich zu organisieren, um die Verhältnisse zu ändern.

Und plötzlich war ich meines eigenen Schweigens so überdrüssig, dass auch ich reden musste. Es war nicht so, dass es etwas Bestimmtes gab, was ich unbedingt sagen wollte. … ich hatte Angst, dass ich, wenn ich diesen Moment verstreichen liess, vielleicht nie wieder mutig genug sein würde, es zu versuchen.

Ich ging näher an die Bühne heran, war kurz davor, meine Stimme zu finden. Die Frau, die die Versammlung leitete, sah mich an. „Willst du etwas sagen?“ Ich nickte; ich war ganz benommen vor Angst. „Komm hoch, Bruder“, ermutigte sie mich.

Meine Beine schafften es kaum, mich auf die Bühne zu tragen. Ich blickte in die Hunderte von Gesichtern, die mich anstarrten. „Ich bin kein schwuler Mann.“ Meine Stimme in den Verstärkern erschreckte mich. „Ich bin eine Butch, eine KV. Ein Mannweib. Ich weiss nicht, ob die Leute, die uns so hassen, uns immer noch so nennen. Aber diese Bezeichnung hat meine Jugend bestimmt.“ Alle wurden sehr still, während ich sprach, und ich wusste, dass sie mir zuhörten. Ich sah eine Femme, ungefähr in meinem Alter, die am Rand der Menge stand. Sie nickte, als würde sie mich kennen. Ihre Augen waren voller Erinnerungen.
„Ich weiss, was es heisst, verletzt zu werden“, sagte ich. „Aber ich habe nicht viel Erfahrung darin, darüber zu reden. Und ich weiss, was es heisst, sich zu wehren, aber ich weiss es hauptsächlich für mich allein. Es ist hart, so zu kämpfen, weil ich meistens in der Minderheit bin und meistens verliere.“ Eine ältere Tunte am Rand der Menge schwenkte in schweigendem Zeugnis langsam die Hand über dem Kopf.

„Kundgebungen wie diese hier sehe ich mir meistens von der anderen Strassenseite aus an. Ein Teil von mir fühlt sich euch zwar verbunden, aber ich weiss nicht, ob ich mich euch anschliessen darf. Es gibt so viele von uns, und wir wollen nicht ausgeschlossen sein. Wer werden verhaftet und verprügelt. Wir sterben auf den Strassen. Wir brauchen euch – aber ihr braucht uns auch.

Ich weiss nicht, was wir tun müssen, um die Welt wirklich zu ändern. Aber können wir uns nicht zusammenschliessen und versuchen, es rauszukriegen? Könnte das Wir nicht grösser sein? Gibt es nicht einen Weg, wie wir einander bei unseren Kämpfen unterstützen können, damit wir nicht immer alleine sind?…“… Als ich der Frau das Mikrofon zurückgab, legte sie den Arm um mich. „Gut gemacht, Schwester“, flüsterte sie mir ins Ohr. So hatte mich noch nie jemand genannt.“
(Leslie Feinberg, Stone Butch Blues, Träume in den erwachenden Morgen. Krug & Schadenberg, Berlin 1996)

1
Diese Dinge klingen heute wie eine Legende aus einem vergangenen Jahrhundert. Es handelt sich um eine Szene aus dem Buch „Stone Butch Blues“, die beschriebenen Ereignisse sind um den Stonewall-Aufstand herum geschehen. In der heute sogenannten „queeren“ Szene wäre so etwas nicht mehr möglich. Wer heute so redete, über andere oder über sich selbst, müsste die Beine in die Hand nehmen. Aber genau diese freie, fliessende Rede über sich hat die freie, ungezwungene Solidarität möglich gemacht.

Frei und ungewzungen, diese Wörter wären das letzte, was einem über die heutige Szene einfällt. Eine solche Szene wird im entscheidenden Moment die Solidarität nicht aufbringen, sich wieder zusammenzufinden. Die wenigen Errungenschaften von 50 Jahren werden im Ernstfall nahezu widerstandslos abgeräumt werden.

Was die Bewegung einmal stark gemacht hat, ist ihr ausgetrieben. Sie hat einmal von Dingen gesprochen, die überall verstanden worden sind. Von eigenen Erfahrungen, die in der Machtlosigkeit der Vereinzelung gemacht worden sind; aber so, dass jeder sich darin wiedererkennen konnte. Das war die geheime Quelle ihrer Macht: ihre subversive Kraft.

Was ist geschehen, dass die Dinge so versteinert sind?

Wer dort redete, war eine Frau, und lebte als Mann. Und sie sprach ausdrücklich als Frau und Transmann, würden wir heute sagen, zu Frauen und zu Männern. Es gibt eine Gemeinschaft im Unterschied, die ist die Grundlage der Solidarität. Und heute gibt es solche, die es als einen Fortschritt feiern, dass diese Gemeinschaft nicht mehr ohne weiteres ausgesprochen werden kann.

Nun, diesen „Fortschritt“ und seine Grundlagen werden wir uns wohl genauer anschauen.

2
Generationen wachsen heran, denen man einredet, sie seien freier, klüger, fortschrittlicher als die vorherigen; während jede Evidenz nahelegt, dass das Leben heute schlechter ist als vor zwanzig Jahren; die Gesellschaft als ganzes dümmer und verhetzter; und die Nischen, in denen sich freies Denken entfalten konnte, immer mehr ausgelöscht werden.

Unsere Gesellschaft, like the monster that it is, weiss nichts besseres, als diese Entwicklung zu feiern. Generationen sind herangewachsen, die namentlich in sexuellen Dingen sprachloser sind als die vor ihnen; weil sie für sich selbst, ihre Bedürfnisse und Wünsche nur in einer völlig verdinglichten, ja lasst es uns sagen: entfremdeten Sprache reden können, einfach weil eine andere Sprache ihnen nicht zur Verfügung steht – und die einzige Alternative und gleichzeitig Matrize ist die Sprache der Pornographie, die brutale Sprache einer Gesellschaft, vor der man flüchtet, oder von der man verschlungen wird.

Es ist unmöglich, hier nicht das Zeichen der historischen Lage zu sehen: das Feststecken in einem immer enger zugezogenen Schraubstock. In welche Richtung also der „Fortschritt“ geht, ist schnell ermittelt. Als wir aufgewachsen sind, war es auch nicht gut. Auch damals standen Mädchen unter dem Druck, Dinge als normal zu akzeptieren, die auf ihre Ausbeutung und Erniedrigung hinausliefen.

Damals ging es um Dinge wie, ob man Analsex mitmachen muss. Heute geht es um Würgen beim Sex, das heute anscheinend Mainstream geworden ist. Was für ein schöner Fortschritt! Ein Zeitalter, das so etwas normalisiert, soll seine Klappe halten.

3
Das Leiden ist echt. Aber das Leiden weist nicht von alleine den Weg zur Veränderung. Wie soll es begriffen werden? Die Leidenden können es nur selbst. Aber alle Begriffe sind den Leidenden schon vorab aus der Hand gerissen, mit denen sie ihr Leiden deuten könnten; und jemand anderes kann es nicht für sie tun.

Die Sprache der Geschlechtsidentät ist diejenige, die die Gesellschaft ihnen zur Verfügung stellt; und sie wird so bereitwillig angenommen wird, weil sie der Erfahrung entspricht, dass man von jeher zum Objekt gemacht ist, dass man nur als Resultat und nie als Urheber von Handlungen in Betracht gekommen ist.

Respekt hat diese Gesellschaft nicht für den wirklichen lebendigen Menschen. Caritas haben wir nur für die, die bereit sind, von sich wie von einem Ding zu reden; einem Bündel fester Eigenschaften, und nicht unter dem Aspekt von Selbsttätigkeit oder gar Veränderung.

Diese Gesellschaftsordnung strebt danach, die Menschen zu Dingen zu reduzieren und zu Anhängseln von Dingen; und diese vollziehen diesen Zwang an sich selbst; man hat es einmal gewusst und wieder vergessen, oder vielmehr man hat es nie so genau wissen wollen. (1)

Denn es ist ja wirklich wahr: die Selbstdeutung eines Menschen ist einerseits, das seine ganze Existenz durchdringt, jede Faser, und man kann nichts von einem Menschen ohne Bezug zu ihr verstehen, nichts hat ohne sie einen Sinn. Aber ebenso ist auch wahr, dass sie ein blosser privater Gedanke ist, sie ist damit auf eine bestimmte Weise nichtig, jedenfalls hat sie einen anderen nichts anzugehen und verplichtet einen anderen auch zu nichts.

Ein Mensch ist nicht ein Ding mit einem festen Bündel von Eigenschaften, als deren Summe er gedacht werden kann. Jeder Mensch „ist“ etwas anderes als das, was die Welt in ihm sieht. Und gleichzeitig und genausogut „ist“ er keineswegs das, was er seiner eignen Selbstdeutung gemäss wäre.

Das „wahre Ich“, das ist die betrügerische Ware, die die Psychosekten und die Esoteriker verkaufen. Die „Identität“, von der die Rede ist und die gelebt, affirmiert, und zuletzt ins Gesetz gegossen werden soll, das ist die Anpassung ans Versteinerte.

4
Allem Gerede zum Trotz hat das ganze heute überhaupt nichts mehr mit sogenannter „postmoderner Identitätspolitik“ zu tun. Dass man die Postmoderne einmal in Schutz nehmen würde! Aber über Verstorbne soll man nur das Gute sagen.

Und die Postmoderne ist in der Tat von uns gegangen, vor etwa zehn Jahren, und der beste Beweis dafür ist, dass niemand sie vermisst hat seitdem. Es hat nicht einmal jemand bemerkt. Vivek Chibber hat mehr Recht behalten, als er geahnt hat. Was danach gekommen ist, wird unverständlich bleiben, wenn man nicht als erstes begreift: es ist nicht mehr die Postmoderne, so sehr es sich in die Worte der Postmoderne verkleidet hat.

Denn niemand argumentiert heute mehr postmodern. Die Postmodernen haben, was immer man über sie denken denken mag, jedenfalls nie behauptet, Identität wäre etwas, dass ein Mensch irgendwann einmal einfach vorfindet, und woraus mechanisch alle die Dinge folgen, die er dann zu wollen und zu verlangen hat. Selbst die Postmodernen hätten sich eher die Zunge abgebissen, als so etwas zu sagen.

Nicht, dass wir die Postmoderne jetzt übertrieben zu rühmen haben: sie hat entscheindend mitgeholfen, alle diese Fragen in einen undurchdringlichen Nebel zu hüllen. Die Postmoderne war seinerzeit die bevorzugte Form, die der anti-materialistische Affekt in der Philosophie angenommen hat. Als ihre Ideen gescheitert waren, irgendwann um 2011, musste eine neue Form her; und sie fand sich, wie man sieht, in dem stumpfesten und aggressivsten Positivismus. Die Postmoderne sieht nur im Vergleich gut aus, weil sie immerhin die Erfahrung der Neuen Sozialen Bewegungen nicht ganz verraten hatte.

Denn wer man ist, und was man ist, das ist immer eine politische Frage gewesen; eine Setzung, sozusagen; etwas, wodurch man seinen Bezug zur Gesellschaft sich selbst und anderen klar zu machen versucht. Nichts anderes heisst Identitätspolitk. Man versteht das Wort nur heute nicht mehr.

Identität ist eine politische und keine schlicht faktische Sache, sie ist Ergebnis einer Selbstdeutung, einer Position gegenüber der Gesellschaft, und sie ist ebensosehr Ergebnis der Perspektiven, die die Gesellschaft einem bietet, wie derer, die sie einem verweigert.

Je weniger diese Gesellschaft begriffen wird als etwas, das grundsätzlich verändert werden kann, desto verhärteter wird um die Perspektiven gestritten; und desto versteinerter erscheint das, was als Identität errichtet werden muss. Uns geht es aber darum, dass andere Perspektiven geschaffen werden.

5
Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, wenn auch nicht aus freien Stücken; sehen wir uns also ein paar politische und sexualpolitische Kräfte an, unter deren Auspizien sie diese machen.

Jeder kennt heute diese Sorte von „queerem“ Aktivismus, der gleichzeitig begriffsstutzig und aggressiv auftritt. Es war beim genauen Hinschauen immer sichtbar, dass diese Aktivistenschicht weder repräsentativ für die LGBT-Bewegung ist, noch untereinander homogen. Es sind Leute, die aus sehr verschiedenen Gründen handeln.

Auf der einen Seite haben wir ganz gewöhnliche Pseudolinke. Unter diesem Wort verstehen wir diejenigen, die sich angewöhnt haben, anderen Leuten den Mund zu verbieten im Namen der Banchteiligten und Unterdrückten; wobei die Pointe natürlich die ist, dass immer sie selbst entscheiden, wer die Benachteiligten und Unterdrückten sind. Es handelt sich hier um Leute, die beschlossen haben, ihren eigenen gesellschaftlichen Status zu verteidigen; auch wenn es ihnen selbst nicht klar ist. Sie selbst sehen sich einfach als gute Menschen; in Wirklichkeit sind sie bezahlte Kräfte der Menschenverwaltung, oder wollen es werden, und ihre Moral ist in der Tat Klassenbewusstsein. Nur eben das der Staatsklasse.

Dazu gehören solche, die mit einer gefälschten Moral hantieren, die anderen Leuten den Mund verbieten, sogenannte „Offene Briefe“ schreiben usw. Hierhin gehört insbesondere die Partei der „Grünen“ und das, was aus der SPD nach Schröder geworden ist. Diese Leute haben keine anderen sexualpolitischen Ideen als die, die ihnen vorgeschrieben werden. Ihr geistiger Referenzrahmen ist eng begrenzt aus das, was die bürgerliche Gesellschaft über sich selbst wissen kann.

Als nächstes haben wir Leute, deren Ideen früher einmal Esoterik genannt worden wären. Seit Esoterik und Pseudowissenschaft allgemein in Verruf geraten sind, wollen sie natürlich nichts mehr damit zu tun haben; aber das heisst nicht, dass sie ihre Ideen geändert hätten. Traditionell findet man solche Leute überall, aber vor allem im grünen Milieu. Hierhin gehören die, die von angebornen Geschlechterseelen reden, von männlichen und weiblichen Gehirnen usw. Früher hätten diese Leute Tarotkarten gelegt oder auf dem Einhorn-Sommercamp über ihr früheres Leben als Einhorn oder Meerjungfrau berichtet (Pro-Tip: Delphin TV auf Youtube). Die Autoren unserer grossartigen linken Enthüllungsliteratur haben natürlich viel über diese Szene herausbekommen, aber erstaunlicherweise fehlen ihnen die Worte immer dann, wenn solche verrückten Ideen im Gewand des Fortschritts und der Inklusion daherkommen.

Drittens aber haben wir eine bestimmte Sorte von gerissenen und skrupellosen Privilegierten, die herausgefunden haben, dass sie sich unter dem Namen der „Queerness“ und der „Transgression“ vor gesellschaftlicher Missbilligung schützen können, indem sie sich hinter anderer Leute Leiden verstecken.

Hierzu gehören die Sexwörk-is-Wörk-Fraktion und der Rest der Prostitutionslobby. Hierzu gehören ganz sicher auch die, die der Meinung sind, ihren von Meth und Chemsex beherrschten Lebensstil als „schwule Kultur“ verkaufen zu müssen. Dazu gehören ausserdem die, die finden, dass ihre „kinks“, das heisst ihre Erotisierung von Gewalt, sie zu einer benachteiligten Gruppe machen und dass sie sie deswegen öffentlich zelebrieren sollen. Sie tragen alle nicht weniger als Pornhub zur Brutalisierung der öffentlichen Bilds von der Sexualität bei. Das ist das finstere Erbe einer „sexuellen Revolution“, die ausser Enthemmung (repressive Entsublimierung nannte es Marcuse) nichts hervorgebracht hat, und die vor allem den Männern zugute gekommen ist.

Das sind drei sehr verschiedene Tendenzen. Sie sind aufs Geratewohl herausgegriffen. Man könnte genausogut andere auswählen; aber weniger erstaunlich wird es dadurch nicht: wie zum Teufel vertragen die sich, wie kann es sein, dass sie eine gesellschaftliche Koalition bilden, was hält eine so abstruse Allianz zusammen?

6
Schauen wir zurück in die 2010er, aus der diese Auseinandersetzungen stammen. Die Lage war damals schon nicht besonders gut, aber es gab noch die Aussicht, eine ernsthafte Debatte zu führen. Dass damals ein Band wie „Beissreflexe“ schon nötig, aber noch möglich war, legt von beidem Zeugnis ab. Wie dieser Band aufgenommen worden ist, sagt auch einiges: sowohl was die Szenen betrifft, die man um die öffentlichen Vorstellungen des Buchs erleben konnte, als auch die Reaktion des grössten Teils des Publikums.

Der Streit schien ja immerhin auf eine recht überschaubare Szene beschränkt zu bleiben, und wer konnte, hielt sich von ihm fern. Immerhin schien eine Debatte in Gang gekommen zu sein, und man konnte einigermassen beruhigt sein, es hatten sich ja die erprobten Fachleute schon an die Sache gemacht. Und fünf Jahre später war alles völlig aus der Hand geraten.

Was war geschehen? Bis dahin waren an der Debatte von den drei oben genannten Tendenzen zwei noch gar nicht beteiligt. Ende des Jahrzehnts änderte sich das. In anderen Ländern der westlichen Welt war das zum Teil früher geschehen. In Deutschland übernahme Grüne und SPD gegen Ende des Jahrzehnts erst die Ideen, die heute zusammengefasst unter dem Namen „Selbstbestimmungsgesetz“ diskutiert werden.

Diese Übernahme geschah nach innen ohne grosse Diskussion, und wäre in den Zeiten vor Schröder so nicht möglich gewesen. Die innere Leere dieser politischen Organisationen ist noch nie eindrucksvoller gezeigt worden. Diese Parteien haben in Wirklichkeit keine Ahnung, was sie da vertreten, und auch kein Bedürfnis danach, eine zu bekommen; sie wollen einen billiges Merkzeichen, mit dem sie sich gegen die Konservativen abgrenzen können, von denen sie sich ansonsten kaum noch unterscheiden.

Aber eine Partei wie die Grünen ist nicht einfach ein Teil der öffentlichen Debatte wie jede andere Gruppe auch, die Partei der Grünen vertritt auch nicht die gesellschaftliche Bewegung gegen den Staat, sondern sie vertritt umgekehrt die Staatsmacht gegen die gesellschaftliche Bewegung. Die Aufnahme des „Selbstbestimmungsgesetzes“ ins Programm der Grünen war eine massive Intervention, und sie brachte die Debatte vollends zum Kentern: indem sie eine einfache Scheinlösung versprachen, schneiden sie die notwendige, aber schwierige Auseinandersetzung ab.

Das Gesetz soll es Leuten erlauben, ihren Personenstand und Geschlechtseintrag zu ändern. Auf diese Reform werden natürlich ungeheure Hoffnungen projiziert, und es wird natürlich für den Fall, dass es nicht so wie gedacht funktioniert, ein ungeheures Kofliktpotential angelegt.

Es sieht den Grünen ähnlich, dass es nicht sie sind, die die Versprechungen erfüllen sollen, die sie machen. Erfüllen soll diese Versprechungen die Gesellschaft. Und wenn die Gesellschaft dazu nicht bereit ist? Dann muss sie dazu gebracht werden.

Unsere „gebildeten“ Kreise sind offenbar zu allerhand Dingen bereit, wenn es darum geht, der Bevölkerung beizubringen, was sie richtigerweise zu denken hat. Sie sind aber offenbar nicht imstande, zu verstehen, wann es genug ist. Die öffentliche Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz hat gespenstische Züge angenommen. Und sie hat die hat die letzten Reste der notwendigen Debatte in der LGBT-Bewegung zerstört und unmöglich gemacht.

Man hat sich daran gewöhnt, abweichende Stimmen als Feinde zu identifizieren; die Bewegung gerät deswegen in die Gewalt derjenigen, die dieses Spiel am besten und skrupellostesten zu spielen verstehen. Wo vor 5 Jahren noch immerhin eine szene-interne Debatte möglich war, gibt heute eine Koalition aus den aggressivsten, den gleichgültigsten und den dümmsten den Ton an. Die politischen Optionen der Bewegung verengen sich dadurch. Sie gerät immer mehr in die Abhängigkeit von genau diesen Leuten, die ihre schlimmsten Feinde sein müssten: Leute, die sie belügen, manipulieren und als politische Schwungmasse für ihre eignen Zwecke betrachten, und als sonst nichts.

7
Selbstverständlich sehen die jüngeren in der LGBT-Szene die Falle nicht. Man sieht solche Fallen erst, wenn man in genug davon getappt ist. Niemand ist leichter zu manipulieren als verängstigte junge Menschen, die nicht wissen, ob sie einen Platz haben auf dieser Welt. Niemand ist leichter aufzuhetzen. Und genau das ist das, was geschieht.

Das Versprechen gesellschaftlicher Akzeptanz wird nicht gehalten werden. Es ist voraussehbar, es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Sie ist auf Lügen gebaut. Man wird dafür auf die Frauenbewegung als die Schuldige zeigen. Sie ist es nicht. Sie ist nur die Überbringerin der schlechten Nachricht; die einzigen, die den Mut dazu hatten.

Die Pseudolinke spielt ein gefährliches und durch und durch böses Spiel. Es ist um so gefährlicher, als sie im Besitz der Staatsmacht ist. Sie verspricht leidenden Menschen Dinge, die niemand halten kann. Sie betrügt sie um die Einsicht in ihre eigene Lage. Sie macht es ihnen unmöglich, ihren eigenen Weg zu finden, weil sie ihnen einen Weg vorspiegelt, den es nicht gibt.

Die Scheinheiligkeit dieser Gesellschaft hat Ausmasse erreicht, die bis vor kurzem undenkbar waren. Der vorläufige Gipfel der Heuchelei war im letzten Jahr erreicht: in „gebildeter“ Gesellschaft kann nicht mehr ausgesprochen werden, dass Geschlecht binär, universal und unveränderlich ist. Das alles, wie es sich für diese grundverlogene Bande gehört, im Namen derjenigen, die an ihrer Geschlechtlichkeit leiden!

Und denen man damit die einzigen rationalen Begriffe wegnimmt, die sie haben könnten, um trotzdem ihren Weg zu finden. Die man damit sehenden Auges in eine Wahnwelt stürzt. Diese Wahnwelt aber ist keine andere als die Wahnwelt der bürgerlichen Gesellschaft selbst, die sich einbildet, den Menschen als Naturwesen hinter sich gelassen zu haben.

Diese Gesellschaftsordnung ist reif zum Umsturz, der Umsturz kann gar nicht schnell genug kommen; denn wozu wird eine Gesellschaft, die zu so etwas fähig ist, nicht noch alles fähig sein?

8
Das enthebt uns nicht der Notwendigkeit, uns selbst einige schmerzhafte Fragen zu stellen. Unsere Bewegung ist hat zu oft den leichteren Weg genommen. Der Weg muss neu gefunden werden.

„To care for the people on the edge of the night“: lange ist das her. Aber es ist immer noch gültig, und nötiger als je. „Love dares you to change our way of caring about us“….

Heute gibt es solche, die „LGB ohne das T“ fordern. Auch diese gehen den einfacheren Weg. Es wäre ein gefährlicher Unsinn. Wir gehören zueinander, sind durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden. Aber wie sind wir dahin gekommen, wo wir heute sind?

An den Verwüstungen, die angerichtet sind, ist unsere Bewegung nicht unschuldig. Sie wird ihren Weg erst mühsam wieder finden müssen. Man hat sich, weil es einfacher war, in eine Gesellschaft eingereiht, die Sexualität nur nach der Weise des Privateigentums aufzufassen imstande ist; als Frage der individuellen Freiheit, und die nicht in der Lage ist, ihr gesellschaftliches Wesen zu begreifen. Als ob dieses gesellschaftliche Wesen damit gebannt wäre, anstatt sich auf andere Weise geltend zu machen.

Neulich konnte man Martin Dannecker im Gespräch mit Tessa Ganserer im Deutschlandfunk hören. Es war ernüchternd. Dannecker war früher einmal subversiv. Er schien mir immer einer von denen zu sein, die etwas von dem geheimen Wunsch wissen, der alle verbindet. Vielleicht habe ich mich getäuscht; oder vielleicht hat er irgendwann seinen Frieden gemacht. Der Dannecker, der hier zu hören war, wusste nur noch etwas von denjenigen Wünschen, die uns vereinzeln.

Den Schwulen und Lesben hat diese Gesellschaft vor Zeiten ein Angebot von der Sorte gemacht, das man nicht ablehnen kann: die Hereinnahme in die bürgerliche Gesellschaft, die volle rechtliche Gleichstellung mit dem hergebrachten Geschlechter-Elend, aber um den Preis, dass sie nicht mehr durch ihre blosse Existenz auf dessen Unwahrheit hinzuweisen. Damit ist der Präzedenzfall etabliert: die Gesellschaft, die gutherzige, weist allen einen Ort an; wenn sie bereit sind, den Preis dafür zu zahlen; nämlich das Zugeständnis, dass ihnen dieser Ort zukommt kraft einer versteinerten Identität, einer dinglichen Eigenschaft.

So wird denen, die sich schwertun, sich einzufügen, die Subversion ausgetrieben. Die Wurzel des Leiden an der Gesellschaft verschwindet unter ebenso platter wie aufdringlicher Propaganda. Die Grundlage der Solidarität, dass man sich nämlich im anderen wiedererkennt, wird zerstört. Aber wir können doch nicht anders: wenn wir euch sehen, erkennen wir uns selbst. Wir waren nicht viel anders.

Haben wir noch den Willen, dieser Gesellschaft die Wahrheit ins Gesicht zu schreien, dass sie eine wahnsinnige Bestie ist? Haben wir uns den reinen und strengen Geist des Negativen austreiben lassen, der als einziger nicht lügt und sich nicht belügen lässt? Wie sollen wir dann den Leidenden die Treue halten? Haben wir mit der Heuchelei unseren Frieden gemacht? Haben wir das heilige Wort „nein“ verlernt auszusprechen?

Ein 16jähriges Mädchen, das sich die Brüste abnehmen lassen will, weil es den Gedanken nicht erträgt, als Frau aufzuwachsen, ist ein 16jähriges Mädchen, das an dieser Gesellschaft scheitert. Und alles, was dieser Gesellschaft, diesem Monster, dazu einfällt, ist „Weltoffenheit“, „Buntheit“ und „Vielfalt“. (2)

Die einzigen, die alle diese Fragen stellen, sind heute gerade die überall verhassten neuen Feministinnen. Gerade weil sie sich mit aller Welt anzulegen hatten, gerade weil sie an keiner bestehenden Macht Rückhalt hatten, gerade weil sie sich selbst mit Mühe überzeugen mussten, ihren eignen Sinnen mehr zu trauen als einer irre gewordnen bürgerlichen Welt; gerade weil sie von ihrem eigenen Verstand einen nicht vorschriftsmässigen Gebrauch zu machen gezwungen waren, hat diese Bewegung für unser Zeitalter getan, was sie Studentenbewegung für 1968 getan hat, „sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen“ (Adorno an Marcuse 6.8.1969).

Das, meine Lieben, sind eure einzigen Freundinnen auf der Welt. Ihr mögt es glauben oder nicht. Ihr hasst sie heute, weil sie euch widersprechen. Sie tun recht daran. Wen man ernst nimmt, dem widerspricht man.

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1. Es gibt eine Sorte von Leuten, die gern mit kritischer Theorie hantieren oder besser sich schmückt, und die aber solche Dinge immer dann vergisst, wenn man sie braucht. Die Sorte von Linken ist wertlos.

2. Und selbst unter den Linken gibt es solche, die das alles für o.k. halten, weil das „die jungen Leute“ so wollen, die es halt auch nicht anders kennen. Das soll man aber beileibe nicht „Opportunismus“ nennen! Sondern wahrscheinlich „Verblendungszusammenhang“.

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Eine Antwort zu Der Geist von Stonewall

  1. Richard sagt:

    Hi, ich bin nicht sicher, wie weit man hier mit der Kommentarfunktion kommt, aber mich würden ein paar Ereignisse oder Marksteine interessieren, die mit dem Ende der Postmoderne zusammenhängen. Ich hab das jetzt schon dreimal gelesen und es gibt auch Distanzierungen von Vertretern selbst, noch früher. Trotzdem würde mich das interessieren, weil ich schon den Eindruck habe, dass sie als Haltung noch sehr prägend ist.

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