Man glaubt es nicht, aber auch das Rentnerparadies Fürth, das bereits zum unfassbaren 19. Mal die sicherste bayrische Großstadt geworden ist, hat seine unruhige Geschichte. Sie ist allerdings so, dass es klar wird, warum Fürth (und nicht nur) so ist wie es ist. Die unruhige Geschichte ist wiederum jener Irrsinn, den die Menschen miteinander treiben, wenn sie sonstwohin wollen, Hauptsache raus aus dem Zeug, in dem sie sich gerade vorfinden. Die Geschichte setzt sich, kurz gesagt, aus den Geschichten unruhiger Menschen zusammen, woraus den sonst?
Am 14. Juli 1789 geschah der Bastillesturm. Zur Hunderjahrfeier dieses Ereignisses veranstalteten die Franzosen 1889 eine großartige Weltausstellung. In der Erwägung, dass man stets das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden soll, verlegte auch die sozialistische Internationale ihren fälligen Kongress nach Paris. Ein großer Teil dieser Tagungen wurde damals mit den Streitigkeiten um die Zulassung der Anarchisten ausgefüllt. Die parlamentarischen Sozialisten wollten Abstand halten von den Anhängern der direkten Aktion und der Propaganda der Tat. Man schloss diese aus, aber die Anarchisten ließen sich das nicht gefallen, fielen über die sozialdemokratischen Kongressteilnehmer her und verprügelten sie so, dass sie die Flucht ergriffen. Auch er, erzählte mir Martin Segitz, der Delegierte von Fürth, habe einige Hiebe abbekommen. Grillenberger von Nürnberg sei einer der wenigen gewesen, die sich zur Wehr gesetzt hatten. Aus diesem Kongress wurde der Beschluss gefasst, den 1. Mai als den Tag des internationalen Proletariats zu feiern. (…)
Während der Frühlingszeit 1890 fand eine neue Reichstagswahl statt. Wir beteiligten uns stark an den Vorarbeiten, fuhren auf die Dörfer hinaus mit Flugblättern und Stimmzetteln. Die Partei nahm bei dieser Wahl wieder einen größeren Aufschwung. Bei dieser Gelegenheit hörte ich August Bebel reden und staunte über die Redegewandtheit dieses Mannes. Er sprach ungemein schneidend und scharf. Ich hing mit großer Begeisterung an seinem Munde. Wenige Wochen darauf aber zürnte ich ihm schon. Trotzdem es die überwachende Polizei nicht leiden wollte, wurde in jeder Versammlung für den 1. Mai als ganzen Feiertag Propaganda gemacht. Die revolutionäre Arbeiterschaft erwartete von dieser Feier, die 1890 zum ersten Mal stattfinden sollte, unendlich viel. In diesem Gefühl, dass etwas Außerordentliches sich ereignen würde, waren die Arbeiter in vielen Städten unruhig geworden und hatten die Arbeit niedergelegt. Der günstige Wahlausfall trug noch wesentlich dazu bei, die Aktivität der Arbeiter zu steigern. Da fürchteten die Obersten der Partei, die Bewegung könnte ihnen über den Kopf wachsen und fühlten sich verpflichtet, den Bremshebel zu ziehen. Und Bebel wars, derselbe Bebel, der so zündend und feurig reden konnte, der damals in einer Berliner Versammlung ausrief: Den Arbeitern sei der Erfolg der Februarwahl in den Kopf gestiegen, es sei ihnen der Kamm geschwollen usw. Daraufhin wurde gehorsam in allen Versammlungen der Beschluss, den 1. Mai als ganzen Feiertag zu gebehen, umgestoßen und dafür beschlossen, nur dort die Arbeit ruhen zu lassen, wo es ohne schlimme Folgen fürchten zu müssen möglich sei. Dieses klägliche Verhalten der Parteimitglieder machte auf uns beide den denkbar schlechtesten Eindruck. Als dieser Beschluss auch in einer Fürther Versammlung gefasst wurde, waren Sepp und ich die einzigen, die dagegen stimmten. (…)
Inzwischen kam die erste Maifeier heran. Sepp, Anton und ich waren fest entschlossen, den ganzen Tag zu feiern. Ich arbeitete damals in der Anstalt des Demokraten Mirsberger in Nürnberg, Sepp in einer Fürther Kunstanstalt als Buchbinder und Anton war in einem Bankgeschäft. Schon am frühen Morgen des ersten Mai liefen wir demonstrativ geschmückt mit roten Abzeichen in Fürth herum, aber Nachahmer fanden wir keine. Die offizielle Feier sollte erst um vier Uhr nachmittags auf dem Bergbräukeller beginnen. Natürlich waren wir pünktlich zur Stelle und siehe: Wen trafen wir als die ersten Teilnehmer der Feier: die Dämchen vom Bordell Fränkel, der trotz seines zweifelhaftes Gewebes ein von vielen nicht ungern gesehenes Mitglied der sozialdemokratischen Partei war. Wir hatten sittliche Ideale und uns empörte, dass ein solch schäbiger Ausbeuter Mitglied war. Wir mochten ihn nicht als Genossen anerkennen und weigerten uns, auf Sammellisten zu unterschreiben, bei denen sein Name obenan stand. So wurde aus der ersten Maifeier nichts als eine Sauferei. Irgendeiner hielt zwar eine tönende Rede, irgendwelche produzierten sich als Deklamatoren, eine rauschende Musik spielte, hin und wieder sang eine Gruppe von Arbeitern, aber keineswegs konnte die Feier als eine revolutionäre Demonstration aufgefasst werden, was sie doch von Haus aus hätte sein sollen.
Aus: Fritz Oerter, „Lebenslinien“, Hrg. Von Leonhard F. Seidl, Berlin 2022
Fritz Oerter hat in Fürth seit ein paar Jahren eine schicke Gedenktafel.
-spf