Von der Transnationalisierung des Staatsvorfelds

(aus dem Heft #20, das man nun online einsehen kann)

Um an die Kritik des «Anarcho-Liberalismus» (1) anzuschließen, aus der leider nichts geworden ist: solche Leute sind mir früh genug, noch vor fünfzehn oder zwölf Jahren begegnet. Bekanntlich ist die «radikale» Linke überdurchschnittlich anfällig für Freaks, Junkies und Devianten aller Art, aber diesmal waren es meist studierte Leute, die zwar oberflächlich den ganzen linksradikalen Jargon beherrschten, aber nicht wussten, wofür all die mittlerweile auch toten Formeln vom Klassenkampf, Gleichheit und Emanzipation standen; dafür kannten sie sich ganz gut mit dem «Tod des Subjekts», «Performativität» und allerlei «Identitäten» aus. Es wurde z.B. Verneigung vor allen denkbaren, obwohl nicht anwesenden Minoritäten verlangt, umso rücksichts- und respektloser wurde in den eigenen Kreisen herumgetrampelt. Und das Phänomen war nicht nur im ost/westdeutschen Kontext zu beobachten – auch im osteuropäischen. Auch dort gab es früh genug Manipulationen durch Schuldzuweisungen und Verleumdungen, damals noch vage Einübungen in virtue signalling und cancel culture, den Kampf um alle Sorten von Ressourcen bzw. soziales Kapital und Deutungshoheit. Das alles angesichts der gemeinsamen Gegner, die damals schon stark und gefährlich waren: 2012/13 waren die Auseinandersetzungen mit den Nazis oder mit der Behörde zur Extremismusbekämpfung in Russland nicht besonders spaßig. Kurzum, man hat sich früh genug in all den Szene-Spielchen eingeübt, die Jahre später die US-amerikanische BLM-Bewegung zugrunde gerichtet haben. (Mich verblüfft es noch immer, wie bei den «trained marxists» von ihrem «Marxismus» nur der bloße Machtkampf zwischen den ethnischen Gruppen übrigbleibt). Bloß in Osteuropa gab es weder nennenswerte Infrastruktur, um die man hätte kämpfen können, noch irgendeine dauerhafte soziale Bewegung von gesellschaftlicher Relevanz. 2000/2010er waren die Jahre der jugendlichen Subkulturen. Besonders machtgeile oder übergriffige Personen wurden größtenteils rechtzeitig in die Schranken gewiesen, schlimmstenfalls ins Gesicht gefistet und aus allen Zusammenhängen entfernt. Wer sich in anderen Subkulturen herumgetrieben hatte, weiß, dass es allgemein bei Jugendlichen der Brauch ist, subcultural businnes as usual. Klar, hier und da sind Punkclubs, Distros, Squats, freie Räume und Gemeinschaftskassen für z.B. Gefangene entstanden und genauso schnell wieder verschwunden, doch besonders förderlich für die Karrieren angehender BewegungsmanagerInnen waren sie nicht, weil sie nicht einmal in der Nähe zur Staatsideologie stehen (ganz im Gegenteil), weder in Bulgarien, noch in Belarus oder sonst wo. Wozu also der Aufwand und woher kommt das?

Zum Teil ist es ein Kargokult. Ein Wissens- und Kulturtransfer aus dem «Westen», wenn man will. Eine postmarxistische und/oder -anarchistische und post/decoloniale Diskursaufblähung, die zunehmende Verakademisierung der Linken (vor allem nach der Niederlage der Moskauer Proteste 2011/12), schleichende Moralisierung und Verpsychologisierung der Politik. Das, was sich für psychologische Selbstvorsoge für AktivistInnen ausgibt, dient öfters dazu, pseudofachmännisch dem Gegner und sich selbst eine Diagnose zu verpassen, zur Solidarität mit sich und zur Entsolidarisierung mit dem Gegner aufzufordern. Was will man tun? Auch das ist mittlerweile eine Zwischenstufe, die bereits passiert ist. Die Jugendlichen, die von und für TikTok und OnlyFans leben, verhalten sich und sehen gleich aus in Madrid, London, Kyjiv und Astana; andere Subkulturen globalisieren genauso. Die ukrainische Linke ist letztens aus allseitsbekannten Gründen Anfang 2022 aus allen Wolken gefallen, die russische ist z.T. immer noch so, obwohl irgendwo im Exil sitzend…

Der mir bekannte früheste Sündenfall war vermutlich die Spaltung der Autonomen Aktion Moskau 2012. Eine Gruppe von «Feministinnen» spaltete das Plenum und bestand darauf, die 1. Mai-Demo sollte LGBT+ freundlich sein und unter Regenbogenfahnen stattfinden. Nach einiger Zeit, wurden alle «gewaltbereiten Macker» rausgeekelt, die AA behielt ihre Webseite, die Diskurshoheit und – nicht unwichtig – die Kontakte in die Welt. Deswegen weiß man hier kaum, dass die «Macker» sich damals reorganisiert und sich für MieterInnen-, LeiharbeiterInnen und MigrantInnenrechte, gegen Polizeiwillkür und Baumafia mit direkten Aktionen stark gemacht hatten (man könnte meinen, mit genau den Dingen, die man von einem kämpferisch und sozial ausgerichteten Anarchismus erwarten sollte) bis sie etwa 2018/19 unter die Räder der Repressionsmaschine geraten sind. (2) (An dieser Stelle sollte man allerdings nicht vergessen, dass in Russland alles, was als LGBT+ subsumiert wird, eh einen schweren Stand hat: war die Thematik noch während der 2000/2010er halbwegs in der Popkultur präsent, gilt die «LGBT-Bewegung» seit Dezember 2023 gleich als extremistisch).

Bei Infotours, anderen Zusammenkünften und Kooperationen staunte nicht selten ich über die moralisierende, unsolidarische Umgangsweise der Aktiven aus dem «Osten» miteinander. Die Anekdoten möchte ich uns allen ersparen – bis auf die eine, die vielleicht die Sache etwas klarer macht. Im Sommer 2017 wurde eine ukrainische queer-anarchistische Gruppe eingeladen und sollte womöglich das damalige Leipziger CSD-Programm «bereichern». Ich hatte damals viel mit Ukrainern zu tun, die Gruppe war mir allerdings nicht bekannt. Kurzum, die Veranstaltung war schrecklich. Powerpoint gerade eben zusammengebastelt, kein Redebeitrag, kaum Diskussion (ich habe auch Infotours mit dem belarusischen ABC mitgemacht und weiß, dass man auf Reisen Leute schickt, die fließend Englisch können, und drüben, vor allem in den Großstädten, gibt‘s reichlich schlaue Leute), kaum eine Erklärung, worin die Arbeit einer queer-anarchistischen Gruppe in der Ukraine besteht, dafür hoher Besuch von irgendwelchen wichtigen Linksparteitanten entweder aus dem Landtag oder sogar aus dem Europäischen Parlament, ich weiß es nicht mehr. Die Vortragenden wurden nur bei einer Frage lebhaft: sie zählten die Gruppen mit ähnlicher Ausrichtung auf und wussten gleich, mit welchen Stiftungen und Parteien im «Westen» sie zusammenarbeiten. Sonst schienen sie, wie gesagt, nichts zu wissen. Den Rest kann man sich denken, auf welcher materieller Basis der Transfer von «Skills und Wissen» passiert. Wenn nicht der eigene Staat durch seine Vorfeldorganisationen bereitstellt – in Osteuropa z.Z. insgesamt eh schwer vorstellbar, dass der Staatsapparat sich der Genderthematik aus Legitimationsgründen annimmt, – dann macht‘s der andere, der etwas «zivilisierter» ist, vielleicht aus tendenziell vernünftigen Beweggründen.

Das Moskauer RLS-Büro musste im April 2022 schließen. Ich bin mir dessen bewusst, dass dabei auch ein paar vernünftige Menschen drüben ihr halbwegs sicheres Einkommen verloren haben und nun sogar ziemlich sicher als «ausländische Agenten» eingestuft wurden. Denen blüht natürlich nichts gutes, aber von einer «autonomen Politik» braucht man mir auch nichts zu erzählen. Ähnliches erfuhr ich aus den Gesprächen in Sofia vom Umfeld der Zeitschrift «dVersia», die aussieht und mit Inhalten gefüllt ist, wie alle demokratieduseligen RLS-gesponorte Postillien hierzulande. Da sind auch Leute froh, in einer feindlichen Umgebung ihre sozialdemokratischen Inhalte verbreiten zu können und dabei ein bisschen finanzielle Sicherheit zu haben. Klar, kann ich das nachvollziehen, und wie! Bloß ich sah schon angehende Bewegungsmanager vor meinem geistigen Auge, die in einem AZ den anderen Linken Sprach- und Hausverbote erteilten, die Leute vor Ort – noch nicht. Das waren ja «first world problems» für sie. Genau das ist allerdings den autonomen Linken im Social Center «Adelante» in Sofia widerfahren – von einem Michael-Heinrich-Lesekreis übrigens.

Man sollte aber nicht glauben, dass die Gönner nicht mehr oder weniger offen verachtet werden. Jedes Mal, wenn ich von einem Boomer drüben höre, der sich in verschiedenen Städten Familien mit Kindern zugelegt hatte, denke ich: der war bestimmt in den 90er Jahren Trotzkist. Die nötigen «Skills und Wissen» hätte er nur bei zwei oder drei verschiedenen Internationalen gleichzeitig sammeln können, wie es damals der Brauch war. Die FAU hat auch in den 90ern Gelder im Osten an angebliche Gewerkschaftsinitiativen oder Ähnliches versenkt, die dann plötzlich keine wurden, vielleicht erinnert sich noch jemand daran. Die Transnationalisierung, heiß es in der Politikwissenschaft, ist ein Spiel, das man (mindestens) zu zweit spielt.

von Cedrik Mohutnyi

1) https://wokeanarchists.wordpress.com/2018/11/25/against-anarcho-liberalism-and-the-curse-of-identity-politics/

2) https://rb.gy/jx17sg

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